Herr Neitzel, Ihre Professur widmet sich nicht nur der Militärgeschichte, sondern auch der Kulturgeschichte der Gewalt. Was ist damit gemeint?
Neitzel: Die Erweiterung der Militärgeschichte an der Uni Potsdam um die Kulturgeschichte der Gewalt geht auf meinen Vorgänger Bernhard R. Kroener zurück. Er hatte die Denomination des Lehrstuhls geändert, und ich halte diese Ergänzung für sehr sinnvoll. Wenn wir fragen, was Kultur ist, könnten wir endlos darüber reden. Es geht nicht um Hochkultur, vielmehr begreifen wir Kultur als kollektive Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die eine Gesellschaft prägen, also auch die Gewaltanwendung. Gewalt passiert nicht einfach so. Sie wird bestimmt und eingerahmt von kollektiven Mustern. Uns interessieren genau diese Muster, die sowohl den Diskurs über Gewalt definieren, als auch das Handeln evozieren. Darum fragen wir, was hinter der Gewaltanwendung steht. Insofern bietet die Kulturgeschichte der Gewalt den idealen Rahmen für unser Forschungsprojekt.
Wenn Historiker über Gewalt, Genozid, Kriegsverbrechen und Massaker arbeiten, stehen einzelne Phänomene im Fokus, die extrem blutig waren und meist fernab der großen Reiche, zum Beispiel in den Kolonialkriegen, verübt wurden. Die regulären Militärs der europäischen Großmächte wurden unter dieser Frage bisher nicht betrachtet. So war die Gewaltanwendung im Siebenjährigen Krieg in Europa bislang kein Thema – etwa wie brutal die preußische und die russische Armee gegeneinander gekämpft haben sollen. Hier setzt das DFG-Projekt an. Aus der Propaganda wissen wir, dass es etwa in den sogenannten Türkenkriegen, als die Habsburger gegen das Osmanische Reich kämpften, brutaler zugegangen sein soll. Wir können die Diskurse rekonstruieren, aber war es tatsächlich so? Wir hoffen darauf, entsprechende Quellen zu finden und hinter die Kulisse des öffentlichen Diskurses zu schauen.
Wie gehen Sie vor?
Neitzel: Angesichts einer doch recht großen Zeitspanne von 1683 bis 1945 können wir nicht alles untersuchen. Deshalb mussten wir zunächst den Gewaltbegriff eingrenzen. Wir konzentrieren uns auf die physische Gewalt: Es geht vor allem um das Töten von Soldaten und Zivilisten, es geht um Vergewaltigungen. Dann konzentrieren wir uns auf drei Räume: direkte Kampfhandlungen an der Front, im Hinterland im Bereich der Besatzung und Gewalt gegen die eigenen Soldaten. Gerade in der Frühen Neuzeit gab es die Prügelstrafe, Deserteure wurden an die Wand gestellt. Auch das sind Formen der Gewalt, die untersucht werden sollen. Wir betrachten ausschließlich die regulären Streitkräfte. Andere Historikerinnen und Historiker haben irreguläre Armeen untersucht wie Hilfstruppen oder Milizen. Dazu liegen inzwischen einige Studien vor. Wir aber wollen die Lücke in der Forschung schließen und widmen uns den großen Armeen in Europa: Was haben die Militärs in den Kriegen getan und was nicht? Das ist erstaunlicherweise nicht erforscht. Es geht also nicht um den Burenkrieg oder den Herero-Aufstand – allenfalls, wie dadurch die Kriege in Europa beeinflusst wurden, aber nicht um die Kolonialkriege an sich.
Kay: Für meine Habilitation untersuche ich die Gewaltkultur in den britischen Streitkräften und vergleiche sie mit der kanadischen Armee, um herauszufinden, ob es eine Empire-weite, gemeinsame Gewaltkultur gegeben hat oder ob wir Unterschiede bei den Briten und den Kanadiern sehen.
Neitzel: Im Team haben wir auch eine Doktorandin aus Stellenbosch, die die Gewaltkultur unter südafrikanischen Soldaten im gleichen Zeitraum in den Blick nimmt.
Kay: Das bedeutet für mich, die beiden Weltkriege zu untersuchen und auch die Zeit dazwischen. Wichtig ist zu ergänzen, dass wir uns auf die Landstreitkräfte konzentrieren. Wir sehen uns keine Gräueltaten aus der Luft an. In der Frühen Neuzeit gab es keine Luftwaffe, so haben wir für alle Teilprojekte die gleichen Voraussetzungen. Ich bin erst kürzlich aus London zurückgekehrt, wo ich elf Wochen in Archiven war – hauptsächlich in den National Archives. Dort habe ich viele Kriegstagebücher angesehen, sowohl von einzelnen Soldaten und Offizieren als auch von Einheiten, Memoiren und Briefe von der Front an die Familie nach Hause. Und ich habe einige Quellen gefunden, mit denen ich arbeiten werde. Das ist immer ein Erfolgsmoment, wenn man etwas entdeckt, das man in der Literatur bisher nicht gesehen hat. Und solche Momente gab es in London …
Worum geht es in den Teilprojekten und wie wurden die Schwerpunkte ausgewählt?
Neitzel: Es ist komplex, so eine Forschergruppe mit acht Teilprojekten zu planen. Die Mitglieder müssen für das Thema eine Expertise haben, sie dürfen nicht auf zu viele Orte verteilt sein und sollten sich in den Untersuchungen aufeinander beziehen können. Wir kooperieren etwa mit dem Historiker Prof. Dr. Marian Füssel von der Universität Göttingen. Damit war der Siebenjährige Krieg gesetzt. Über die Deutschen im Ersten und Zweiten Weltkrieg haben Dr. Alex Kay und ich bereits viel gearbeitet und es liegen zahlreiche Studien vor. Daher wird das Thema in den Teilprojekten ausgeklammert, im Abschlussband aber wieder aufgegriffen. Über britische Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg gibt es noch gar keine Untersuchungen …
Kay: Was mich besonders überrascht hat, ist das Ausmaß der Gefangenenerschießungen seitens der Briten im Ersten Weltkrieg. Das war ein weit verbreitetes Phänomen, doch es kommt in der Literatur bisher kaum vor. Es gibt ein paar Aufsätze dazu, aber keine systematische Untersuchung. Viele Historiker sehen den Ersten Weltkrieg nach wie vor als „Gentleman’s“ Krieg, in dem es kaum Gräueltaten gab und so etwas wie Erschießungen von Gefangenen lediglich ab und an vorkam. Doch wie ich jetzt im Archiv feststellen konnte, war dem nicht so. Das wird in meiner Habilitation ein Schwerpunkt werden. Interessanterweise gab es bei den Briten im Zweiten Weltkrieg wiederum weit weniger Gräueltaten als bei den Kanadiern.
Neitzel: Das hat Herr Kay auch an anderer Stelle schon thematisiert, dass die Briten offenbar die einzigen waren, die sich im Zweiten Weltkrieg mäßigten und die Gewalt herunterschraubten, während sich alle anderen Militärs radikalisierten.
Kay: Bis auf den Krieg aus der Luft, da sah es anders aus. Aber auch am Boden habe ich Quellen entdeckt, die über das Vorgehen der Briten in Griechenland etwas aussagen. Ende des Zweiten Weltkrieges (1944/45) – nach dem Rückzug der Wehrmacht – waren die Briten Besatzungsmacht in Griechenland und deportierten griechische Jugendliche nach Ägypten. Das wusste ich bisher nicht. Die Briten errichteten in Ägypten ein Lager mit Kriegsgefangenen und verschleppten Tausende Griechen – darunter Hunderte von Kindern und Jugendlichen. Das habe ich jetzt in den Archiven entdeckt. Darunter waren vermeintliche Aufständische, Kommunisten. Insofern plane ich in meiner Studie auch dazu einen Teil. Der Burma-Feldzug im Zweiten Weltkrieg soll ebenfalls betrachtet werden. Hier kämpften die Briten im heutigen Myanmar gegen die Japaner. Es soll zu Erschießungen von Gefangenen gekommen sein. Doch es ist schwer, das zu verifizieren, da es nur wenige Gefangene gab. Die Japaner haben sich selten ergeben.
Warum kann das Forschungsprojekt eine Lücke schließen?
Neitzel: Bisher wurden einzelne Massaker in Kriegen untersucht. Doch was folgt daraus? Dass der Mensch zu schrecklichen Taten fähig ist? Das wissen wir. Oder gibt es situative Erklärungen, dass unter bestimmten Bedingungen Menschen in Kriegen Massaker verüben? Allgemeine Schlussfolgerungen waren bisher tabu, weil sich niemand dem Vorwurf eines existenzialistischen Verständnisses von Kultur aussetzen wollte – nach dem Motto: „Die Deutschen treten immer besonders barbarisch auf oder ‚der Russe‘ ist grausam.“ Wie aber stellen sich die sogenannten langen Linien dar? Gibt es spezifische nationale Diskurse, Handlungsmuster oder ein Rechtsverständnis, das es in anderen Ländern nicht gibt? Oder hängt alles von speziellen Umständen einer Zeit ab? Es geht darum, die Erkenntnisse über die militärische Gewalt vergleichend zusammenzuführen, um Antworten auf die offenen Fragen zu finden: Existieren bestimmte Gewaltkulturen in einer Nation oder einem Staat? Wie entwickeln sie sich? Sind sie in den unterschiedlichen Ländern ähnlich oder je nach Kultur verschieden und zu welchen Gewalthandlungen führt das? So etwas kann der einzelne Forscher nicht leisten. Niemand kann sechs Länder anhand dieser Fragestellungen wissenschaftlich fundiert bearbeiten. Hier ist das Format der Forschungsgruppe ein riesiger Vorteil. Historikerinnen und Historiker sind ansonsten ja eher Einzelgänger, die sich in ihr Büro und in Archive zurückziehen, drei Jahre nicht gesehen werden und dann ein Buch veröffentlichen. Doch so ein Projekt wäre ohne Verbundforschung gar nicht möglich.
Kay: Ich kam zu dem Projekt, als klar war, dass die Briten Teil der Forschung sein werden. Bisher habe ich vor allem zum Nationalsozialismus und der Weimarer Republik gearbeitet. Staatlich organisierte Gewalt ist mein Fokus: Welche Mechanismen stehen hinter ihr? Sind Befehle oder das Handeln vor Ort ausschlaggebend? Welche Formen der Interaktion gibt es? Ursprünglich sollte es bei meinem Teilprojekt um den Zweiten Weltkrieg und den Koreakrieg gehen. Doch der Zeitraum war mir zu kurz. Spannender ist doch, den Ersten Weltkrieg mit zu berücksichtigen und auch die Zeit dazwischen. Auf diese Weise können wichtige Diskurse mit einbezogen werden – über die Gewalt der Briten in Irland und Indien etwa. So gab es Debatten in der britischen Politik und Gesellschaft, die möglicherweise dazu beigetragen haben, dass die Anwendung von Gewalt im Zweiten Weltkrieg zurückgefahren wurde. Aber das muss ich noch genauer untersuchen.
Wie kann der aktuelle Krieg in der Ukraine in das Forschungsprojekt einbezogen werden?
Neitzel: Wir haben auch zwei Teilprojekte, die Russland behandeln, zum einen im Siebenjährigen Krieg und zum anderen über die Rolle der Kosaken in den regulären Streitkräften des Ersten und Zweiten Weltkriegs, das von Prof. Dr. Jan C. Behrends vom Potsdamer Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung und der Europa-Universität Viadrina geleitet wird. Als Russland-Experte verfolgt er das Gewalthandeln in der Ukraine genau. Davon wird bestimmt Vergleichendes einfließen. Etwa dazu, ob es Handlungsmuster oder Parallelen gibt, die damals in den Weltkriegen auftauchten und von der russischen Armee in der heutigen Zeit fortgeführt werden. Hier kommen wir wieder auf die grundsätzlichen zentralen Fragen nach den Kontinuitäten: Gibt es nationale Gewaltkulturen oder nicht? Sind es besondere Momente – Situationen – eines Krieges, die die Anwendung der Gewalt bestimmen? Solche Vergleiche, vor allem bezogen auf Osteuropa, liegen bisher in der Wissenschaft nicht vor. Auch können wir unser Analysegerüst zur Verfügung stellen und zeigen, wie wir Gewalt untersuchen. Wir wissen natürlich nicht genau, was in der ukrainischen Stadt Butscha passiert ist. Die Empirie müssen andere liefern – Geheimdienste, Völkerrechtler, die Vereinten Nationen. Aber wir können mit geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden unterstützen.
Was erhoffen Sie sich am Ende für die Geschichtswissenschaft?
Neitzel: Es soll mehr herauskommen als die Bündelung der Teilprojekte. Es geht schon um Antworten und vielleicht sogar eine Systematik der großen Fragen nach den Mustern hinter der Gewalt. Darum ist der Austausch in der Forschungsgruppe auch so wichtig. Wir hatten diverse Workshops, in denen die Teilprojekte vorgestellt und diskutiert wurden. Dazu gab es Impulse durch Vorträge von externen Historikerinnen und Historikern, die nichts mit dem Forschungsprojekt zu tun haben. Im Wintersemester 2022/23 stand die Arbeitsphase an, daher fanden Diskussionsrunden seltener statt. In den kommenden Monaten planen wir wieder einen intensiven Austausch.
Kay: Wichtig ist, dass wir alle gemeinsam als Gruppe über die verschiedenen Teilprojekte diskutieren. Das läuft sehr rege und bringt den Forschenden Anregungen und Feedback für die eigene Studie.
Neitzel: Wir werden sicher eine zweite Förderphase beantragen. Gerade für die beiden Postdoc-Projekte ist der Zeitplan äußerst sportlich. Doch ich bin optimistisch, dass Herr Kay den Zeitplan einhält. Er hat schon mehrere Bücher veröffentlicht und ist ein erfahrener Kollege. Für die Doktoranden hingegen geht es um das erste Buch, das ist immer eine große Herausforderung. Aber die Rahmenbedingungen könnten nicht besser sein.
Das Projekt
Das Projekt „Militärische Gewaltkulturen. Illegitime Militärische Gewalt von der Frühen Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und umfasst insgesamt acht Teilprojekte, von denen sechs zur Promotion vorgesehen sind. Beteiligt sind die Humboldt-Universität zu Berlin, die Freie Universität Berlin, das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) sowie die Universitäten Göttingen und Bochum. Zudem kooperiert die Forschungsgruppe mit dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam. Sprecher ist Prof. Sönke Neitzel.
www.uni-potsdam.de/en/military-cultures-of-violence
Die Forscher
Prof. Dr. Sönke Neitzel ist seit 2015 Professor für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Schwerpunkte seiner Forschung sind u. a. die Geschichte der Bundeswehr im internationalen Kontext.
E-Mail: soenke.neitzeluuni-potsdampde
Dr. Alex Kay studierte Geschichtswissenschaften in Huddersfield und Sheffield und ist seit 2022 Habilitationsstipendiat in der Forschungsgruppe „Militärische Gewaltkulturen“. Über die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten hat er mehrere Bücher geschrieben.
E-Mail: alexkayuuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2023 „Lernen“ (PDF).