Zum Hauptinhalt springen

Von Orpheus, KI und verzweifelter Kühnheit – Wie sich das Hören von Musik verändert und was vermutlich bleibt, wie es immer war

Frau sitzt in einem Stuhl und hört mit Kopfhörern Musik.
Foto : AdobeStock/DimaBerlin
„Längst gibt es eine Industrie, die für jede Stimmung die passenden Rhythmen und Sounds bereithält.“ – Wie sich das Hören von Musik verändert

Sein Gesang betörte die Götter wie die Menschen. Gräser und Bäume neigten sich ihm zu, die wildesten Tiere ließen sich besänftigen und Felsen begannen zu weinen. Orpheus galt als der Beste unter den Sängern und seine steinerweichende Kunst als der Beginn der Musik. Soweit die Mythologie. Doch tatsächlich geht auf die griechische Antike die Erkenntnis zurück, dass sich Freude und Glück, Liebe und Leiden, Trauer und Schmerz musikalisch nicht nur ausdrücken, sondern auch erzeugen lassen. Von der daraus entstandenen Affektenlehre des Barock bis in die Kulturtheorie der Gegenwart stellt sich die Frage immer wieder neu, wie und warum uns gerade die Musik so unmittelbar und tief berührt. Ob ein Klagelied, ein Popsong oder ein sinfonisches Werk – sie alle haben die Kraft, unsere Gemüter zu bewegen und werden aus genau diesem Grund gehört.

Was sich jedoch über die Zeit veränderte, sind die Hörgewohnheiten, die Formen der Rezeption. Musste man sich einst am Lagerfeuer oder auf dem Marktplatz, in der Kirche, der Oper oder im Konzerthaus versammeln, um Musik zu hören, kann sie heute – technisch entkoppelt von ihrer Produktion – zu jeder Zeit und nahezu an jedem Ort konsumiert werden.

„Wird sie dadurch beliebig? Oder zu einem permanenten Begleiter unseres Alltags, einem Gefühlsrauschen für alle Lebenslagen“, fragt Professor Christian Thorau, der an der Universität Potsdam eine musik- und kulturwissenschaftlich orientierte Musikhörforschung betreibt. Er und sein Team haben sich intensiv mit der Geschichte und Gegenwart des Musikhörens auseinandergesetzt, auch um Tendenzen für die Zukunft erkennen zu können. Sie stellen jedoch keine Prognosen. „Es ist mehr ein kulturhistorisches, anthropologisches Interesse“, betont Doktorand Raphael Börger, der sich unter anderem mit der Nutzung von Musik-Apps befasst. „Menschen nutzen diese Apps, um sich in verschiedene Stimmungen zu versetzen. Sie hören sie zum Beispiel, um sich bei der Arbeit im Großraumbüro zu isolieren, nach Stressphasen zu beruhigen, sich im Sport anzutreiben oder vom Alltag abzuschalten. Selbst für das Einschlafen gibt es spezielle Geräte und Apps, von Meereswellen bis zu Ventilatorgeräuschen“, sagt Börger. Auf die Spitze getrieben oder besser: in die Länge gezogen habe es der deutsch-britische Komponist Max Richter, der mit „Sleep“ ein achtstündiges Monumentalwerk für die Nacht geschaffen habe, erzählt Christian Thorau.

Längst gibt es eine Industrie, die für jede Stimmung die passenden Rhythmen und Sounds bereithält: dreamy, funny, euphoric, romantic, sentimental, busy, hopeful, smooth ... Und immer häufiger kommt hierbei Künstliche Intelligenz zum Einsatz. „Richtig interessant wird es, wenn KI solche Klänge im Feedback mit den über eine Smart-Watch gemessenen Biodaten eines Menschen generiert, um die Person in diesem Moment in eine bestimmte Stimmung zu versetzen“, erklärt Raphael Börger. Hoher Puls – entspannende Musik! Die KI als in Echtzeit operierende Hausapotheke. Wie im literarischen Gegenstück Erich Kästners, der in seiner „Lyrischen Hausapotheke“ für jedes Leiden ein heilendes Gedicht bereithielt ...

Als Kultur- und Geisteswissenschaftler sieht sich Börger in der klassischen Rolle des Beobachters. Methodisch schaut er zunächst nach historischen Quellen: Was gab es an ähnlichen Entwicklungen bereits in der Vergangenheit? Welche Fäden laufen gegenwärtig zusammen? Sodann begibt er sich auf „ethnografische Erkundung“ ins Feld: Was wird angeboten? Wie funktionieren die Apps? Wer nutzt sie mit welchem Gewinn? Hier und da wird er mit Usern in Kontakt treten, qualitative Interviews führen, teilnehmend beobachten. Klanganalysen runden seine Arbeit ab, die am Ende auch ein Bild davon zeichnen soll, welche Bedeutung die neuen Formen des Musikhörens im Leben von Menschen einnehmen.

Und was ist mit der Kunst? Der von Menschen auf Instrumenten gespielten Musik, die im Moment des Entstehens mit den Gedanken und Empfindungen der Zuhörenden verschmilzt? „Nun, mit der Ambient-Musik der Apps bekomme ich etwas, aber etwas anderes, z.B. die leibliche Ko-Präsenz mit den Musizierenden, bekomme ich nicht“, sagt Raphael Börger ohne Wertung. Und Christian Thorau ergänzt, was er als Professor nicht müde wird zu betonen: „Konzentriertes Musikhören ist eine spezielle Kulturtechnik, die wir einüben müssen. Das sehen wir auch im historischen Rückblick deutlich.“ Still im Konzertsaal zu sitzen, auf andere Aktivitäten zu verzichten und durch die Einbildungskraft etwas Eigenes einzubringen – das sei die Voraussetzung jeder Kunstrezeption und des daraus entstehenden Genusses.

Auch wenn Künstliche Intelligenz heute bereits darauf trainiert ist, Kompositionen im Stil von Bach und Beethoven zu imitieren, so wird sie doch etwas Wesentliches vermissen lassen, meint Thorau. „Was wir eigentlich hören, ist die menschliche Begrenztheit und den Wagemut, diese zu überschreiten. KI hat diese Fähigkeit nicht – trotz ihrer unbegrenzten Möglichkeiten“, zitiert er den australischen Musiker und Autor Nick Cave aus einem Text in der Süddeutschen Zeitung (4.2.2019). Musik erlaube uns, die „Himmelssphäre mit den Fingerspitzen zu berühren. Die Ehrfurcht und das Wunder, das wir erleben, liegen in der verzweifelten Kühnheit des Versuchs, nicht nur in seinem Ergebnis“, schreibt Cave und fragt: „Wo ist diese Größe noch zu finden, wenn die Möglichkeiten unbegrenzt sind?“

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2023 „Zukunft“ (PDF).