Was genau haben Sie in Ihrem Projekt vor?
Henriette Ziemer: Amanda und ich arbeiten an einer Anthologie über die Ziege, die Einblicke in die Literatur und Folklore des osteuropäischen Raums gibt.
Amanda Beser: Unser Ziel ist eine nicht immer super ernst gemeinte Textsammlung. Das übergeordnete Thema für alle Stipendiat*innen ist der ost- und mitteleuropäische Raum. Wir wollen den imaginierten Raum und die Konflikte darin durch die Brille der Ziege erfahrbar machen. Inspiriert hat uns der Roman des tschechischen Autors Jáchym Topol „Die Teufelswerkstatt“, in dem die Tiere wiederholt eine Rolle spielen.
Ziemer: Wir verstehen die Ziege als Bewegungsfigur: Sie findet immer neue Wege und geht dem Menschen oft voraus, weil sie sich auch in unbekanntem Terrain zurechtfindet. Es gibt ja auch den Ausdruck „Ziegenpfade“.
Beser: Wir unternehmen ein literarisches Experiment. Die Sammlung hat auch etwas sehr Spielerisches, weswegen wir das Publikum in der geplanten Abschlussausstellung interaktiv mit der literarischen Ziegenlandschaft vertraut wollen, Stichwort Gamification. Schließlich darf Wissenstransfer auch unterhaltsam sein!
Welche Konflikte zeigt die Ziege auf?
Beser: Wir verstehen sie als transkulturelle Metapher, denn die Bewegung in der Raumzeit bringt per se Konflikte mit sich. Wenn verschiedene Wissenskulturen aufeinanderprallen, braucht es Aushandlungsprozesse. Topol verknüpft in seinem Roman etwa das Hirten- mit dem Shoah-Motiv: Einer der letzten Überlebenden aus Theresienstadt zieht mit seiner Ziegenherde umher. Daran lässt sich Zeit ablesen, denn als er zurückkehrt, sind auch die Ziegen gealtert. Die Ziege ist ein Symptom für die übergeordnete Geschichte.
Höppner: Die Denkfabrik hat sich zur Aufgabe gemacht, ein großes Thema zu bearbeiten. Doch wir haben alle schnell gemerkt, dass wir uns mit Mosaikteilchen dem Großen nähern müssen. An diesen kleinen Konflikten, wie die Ziege sie aufzeigt, lassen sich größere erklären.
Ziemer: Vermeintlich kleine. In jiddischen Kindergeschichten und Volksliedern begegnen wir Menschen, die mit der kleinen Ziege losgehen und denen sich eine große Welt eröffnet. In einer Geschichte lebt eine Familie mit einer Ziege zusammen, die fest zum Familienleben im Schtetl gehört. Irgendwann wird das Geld knapp und die Ziege soll zum Schlachter. Der Sohn soll sie ins nächste Dorf bringen, doch ein Schneesturm zieht auf und die beiden retten sich in einen Heuschober. Sie überleben, weil die Ziege das Heu isst und der Junge ihre Milch trinkt. Nach zwei Tagen kehren sie zurück, und das Haustier darf weiterleben. Wir haben unheimlich viele solcher Geschichten gefunden, nicht alle sind schon übersetzt. Ich habe zwar noch keine Erfahrung beim Publizieren, aber sehe die Denkfabrik als Lernraum für mich. Wir haben tolle Betreuer*innen.
Welche Themen bearbeiten die anderen Studierenden in der Denkfabrik und wie läuft die Zusammenarbeit ab?
Ruben Höppner: Es gibt noch ein linguistisches, ein historisches und ein politikwissenschaftliches Projekt. Die Ausrichtung der Denkfabrik ist sehr interdisziplinär: Die Stipendiat*innen studieren „War and Conflict Studies“, „Geschichte, Gesellschaft, Politik“ oder „Osteuropäische Kulturstudien“. Vier Wissenschaftler*innen mit unterschiedlichen Schwerpunkten betreuen sie. Außerdem ist Eugen Rube, Assistent an der Professur, Dreh- und Angelpunkt des Teams.
Beser: Wir sehen uns alle zwei Wochen per Zoom, in unseren kleinen Gruppen noch etwas häufiger. Alle Stipendiat*innen sind sehr engagiert. Viele studieren mehrere Fächer, arbeiten in unterschiedlichen Jobs, teilweise in verschiedenen Bundesländern. Die Vereinbarkeit ist ein Kunststück, aber wenn man mit Spaß rangeht, dann funktioniert es.
Höppner: Im April fahren wir auf Exkursion nach Riga und tauschen uns dort mit ukrainischen Studierenden von der Precarpathian National University, die seit Kurzem zum Netzwerk der European Digital University (EDUC) gehört, aus. Die Stipendiat*innen werden mit ihnen an den Projekten arbeiten. Die Exkursion soll den Raum erfahrbar machen: Wir wollen die unterschiedlichen Diskurse und Konfliktlinien vor Ort sehen. Riga bietet dafür sehr interessante Möglichkeiten.
Warum haben Sie sich für ein Stipendium beworben?
Ziemer: Ich studiere Jüdische Studien und Russistik im Zweifach-Bachelor und beschäftige mich schon länger mit der jiddischen Literatur des ukrainischen Raums. Deswegen habe ich mich gefreut, dass ich dieses Interesse in der Denkfabrik vertiefen kann.
Beser: In der Kulturwissenschaft wird die Slavistik leider meist ausgeklammert. Ich habe Russistik im Bachelor als Nebenfach studiert. In meinem Master-Studium der Vergleichenden Literatur- und Kunstwissenschaft schauen wir uns nur die sogenannten westeuropäischen Kulturen an. Deswegen bin ich froh, dass ich mich in der Denkfabrik mittelosteuropäischen Texten widmen kann.
Höppner: Wir gelten ja als „kleines Fach“. Der osteuropäische Raum findet sonst kaum Beachtung. In Europa gibt es nur wenige Professuren, das ist aus meiner Sicht ein Riesenkritikpunkt. Es ist definitiv notwendig, die Konflikte in Mittel- und Osteuropa einordnen zu können. Und es gibt unheimlich viele Ressentiments in der deutschsprachigen Gesellschaft gegenüber dem Osten. Forschung kann dabei helfen, sie zu dekonstruieren. Auch für den Literaturbetrieb kann ich sagen, dass die Strukturen sehr auf den „Westen“ gerichtet sind – ich sage das so, weil ich diese Ost-West-Opposition überhaupt nicht mag. Wie viele Bücher werden aus dem Englischen übersetzt und wie viele aus dem Tschechischen? Das ist ein strukturelles Problem.
Beser: Eine Strategie, um das Fach sichtbarer zu machen, ist es, Themen aus der Slavistik in andere Disziplinen zu tragen, wie die Religions-, Politik- oder Kulturwissenschaft.
Zehn Studierende widmen sich in der Denkfabrik ein Jahr lang dem „Raum“ und Narrationen in den slawischen Regionen Ost- und Mitteleuropas. Betreut werden sie von vier Forschenden: Prof. Dr. Alexander Wöll, Dr. Galyna Spodarets, Stanislav Klimovich und Ruben Höppner. Ihre Ergebnisse werden sie in einer Ausstellung präsentieren. Die Studierenden erhalten das Universitätsstipendium, das im Rahmen des Deutschlandstipendiums des Bundesforschungsministeriums und mit Spenden von Prof. Bettina Schwarz sowie der Eberhard-Schöck-Stiftung finanziert wird.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2023 „Zukunft“ (PDF).