Seit einem Jahr lebt Kateryna Demerza in Berlin. Nach dem Beginn des groß angelegten Invasionskrieges ließ sie ihre Eltern und Freunde, ihre Heimatstadt zurück. Bis dahin hatte sie an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kyjiw promoviert, wo sie bereits ihren Bachelor und Master abgeschlossen hatte. Schon im Studium interessierte sie sich für die Beziehung zwischen Raum, Macht und Menschen, zwischen der Stadt und ihren Bürger*innen. Sie widmete sich der Phänomenologie, die sich mit unmittelbar gegebenen Erscheinungen befasst. Den Phänomenen und wie wir sie erleben, ging Demerza auch ganz praktisch auf den Grund: Sie schickte Menschen auf Spaziergänge durch ausgewählte Kyjiwer Stadtteile und ließ sie mithilfe eines von ihr entwickelten Instrumentariums beschreiben, was sie wahrnahmen, kurz: wie sie die Atmosphäre erlebten. „Sie dokumentierten auf einer Karte des Bezirks ihre Empfindungen“, berichtet die 28-jährige Doktorandin. Bei den Spaziergängen trafen Einheimische, die im jeweiligen Stadtteil aufgewachsen waren, auf Menschen, die sich hier nicht auskannten. Der Austausch über das zunächst unterschiedliche Erleben war sehr anregend für beide Seiten, oft änderte sich die Ansicht über die Atmosphäre, nachdem sie über ihre Erfahrungen während des Rundgangs gesprochen hatten.
Eigentlich wollte Kateryna Demerza ihre Dissertation in Kyjiw auf Basis dieser Erhebung schreiben. Doch nach dem groß angelegten russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 trug sie sich mit großen Zweifeln herum, ob ihre Forschung angesichts des nunmehr achtjährigen Krieges noch Sinn habe. Es fiel ihr schwer, den wissenschaftlichen Artikel über die Workshops zu beenden, an dem sie gerade arbeitete. „Nach der russischen vollen Invasion zweifelte ich, ob es überhaupt einen Wert hat, philosophisch-theoretisch zu schreiben“, erzählt Demerza. „Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas Anderes tun müsste, und konnte mich nicht auf den Artikel konzentrieren.“ Eine ihrer Professorinnen in der Ukraine ermunterte sie jedoch, ihre Forschung fortzusetzen: „Sie sagte zu mir: Katja, konzentriere dich auf die Promotion. Der Abschluss wird dir später auch bei deinem gesellschaftlichen Engagement nützen.“
So änderte Kateryna Demerza die Ausrichtung ihrer Dissertation. Sie möchte die Forschungsarbeit in und über Kyjiw nutzen, aber auch etwas Neues beginnen: „Ich wohne nun schon ein Jahr in Berlin, eine wichtige Erfahrung.“ Aufbauend auf ihrer in Kyjiw entwickelten Methode, will sie Menschen zur Atmosphäre öffentlicher Räume in Berlin befragen: und zwar zum Kottbusser Tor in Kreuzberg, zum Körnerpark in Neukölln und zum Park am Wasserturm in Prenzlauer Berg. Die Doktorandin plant, Menschen vor Ort anzusprechen. Was fühlen, was bemerken sie? Die ausgewählten Räume sind dabei sehr unterschiedlich. Am Kottbusser Tor, wo inzwischen eine neue Polizeiwache eingerichtet ist, um der Kriminalität zu begegnen, war Demerza bei einem Besuch in Berlin 2017 zum ersten Mal. „Ich wohnte fast direkt am Kotti und hatte Angst, dort spazieren zu gehen. Inzwischen fühle ich mich hier schon anders.“ Der Körnerpark dagegen ist eine rund 100 Jahre alte neobarocke Grünanlage, die einem Schlosspark ähnelt und heute mitten in einer Neuköllner Wohngegend liegt. „Er fällt aus seiner Umgebung ein bisschen heraus. Du denkst, er müsste eigentlich in Charlottenburg liegen.“ Auch diese Ambivalenz prägt seine Atmosphäre. Der Park am Wasserturm in Prenzlauer Berg wiederum ist sehr ruhig. „Dort spielen Kinder, Menschen gehen mit ihren Hunden spazieren oder besuchen die vielen Cafés um den Park herum.“ Grünanlagen faszinieren die Philosophin ohnehin. In ihrer Heimatstadt wandelte sie oft von einer zur anderen und passierte so unterschiedliche Stadtteile. „Jeder Park hatte eine andere Stimmung. Diese Atmosphären suche ich auch hier. Der Körnerpark erinnert mich ein bisschen an meinem Lieblingspark in Kyjiw.“ Dieser ist wie ihre Kyjiwer Uni nach dem ukrainischen Dichter Taras Schewtschenko benannt. Immer wieder ist der Forscherin die Liebe zu ihrer Heimatstadt anzumerken. Doch wenn sie durch die Straßen geht, wirkt es auch ein bisschen, als wäre sie immer schon in Berlin gewesen.
Mit ihrer Forschung möchte Kateryna Demerza zeigen, dass sich der Begriff der Atmosphäre methodisch nutzen lässt. Die Neue Phänomenologie, begründet von dem Philosophen Hermann Schmitz, stellt die unwillkürliche Lebenserfahrung in den Mittelpunkt und das „Spüren am eigenen Leib“. Für Schmitz sind Atmosphären leiblich ausgedehnte Emotionen. Der Leib wird als etwas verstanden, das man ist, während der Körper etwas ist, das man hat. Die leibliche Erfahrung ist damit zutiefst subjektiv – für Demerza auch eine methodische Herausforderung. „Die Atmosphäre existiert, weil ich sie erlebe. Stimmungen sind real, für alle, die sie empfinden können. Aber sie bleiben in der Empfindung.“ Demerza erzählt von einer Studie, die die Beweggründe der Berliner*innen untersucht hat, gegen eine Bebauung des Tempelhofer Feldes abzustimmen. Sie zeigte, dass die Atmosphäre des Ortes dabei entscheidend war. Dennoch wird sie bei der Stadtplanung kaum mitgedacht. „Menschen werden als Körper gesehen, die sich bewegen und ernähren, aber nicht in ihrer erlebnishaften Dimension.“
Unterstützt wird die 28-Jährige an der Universität Potsdam von Logi Gunnarsson. Kennengelernt hat sie den Professor für Ethik/Ästhetik über eine Liste von Professor*innen, die ukrainischen Forschenden ihre Unterstützung angeboten hatten. Durch ihn erfuhr sie vom Potsdamer Brückenstipendium, das Forschende aus der Ukraine fördert. Seit August 2022 erhält sie das Stipendium, mit dem sie ihre Dissertation an der Kyjiwer Uni von Potsdam aus weiterschreiben kann. Schon im Oktober veranstaltete sie ihre erste eigene Tagung mit dem Titel „City. Everydayness. Identity. Aesthetics“. Für ihr Projekt hat sie daraus sehr viel mitgenommen. Auch das Kolloquium für Promovierende an der Professur half ihr methodisch weiter. „Logis Blick auf mein Projekt finde ich sehr bereichernd.“ Ende April läuft das Brückenstipendium aus. Mit Unterstützung von Prof. Gunnarsson bewirbt sich Kateryna Demerza um ein weiteres Stipendium. Wenigstens bis zum Ende des Sommers möchte sie in Berlin bleiben, um Menschen zu fragen, wie sie die Atmosphäre an den drei ausgewählten Orten in Kreuzberg, Neukölln und Prenzlauer Berg erleben. Demerza kann sich vorstellen, parallel zu ihrer Doktorarbeit auch Essays zu veröffentlichen, die die Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammenzufassen. So könnten Atmosphären bei der Stadtplanung vielleicht künftig eine größere Rolle spielen.
Bevor die Philosophin an die Uni Potsdam kam, war sie von April bis Juli 2022 „Prisma Ukraina Fellow“ im Forum Transregionale Studien in Berlin. Dort beteiligte sie sich an einem Projekt zur Dekolonisationsgeschichte der Ukraine. Auch hier ging es um öffentliche Räume. „Nach der russischen Invasion haben Ukrainer*innen sowjetische Statuen zerstört oder demontiert, nicht nur von Lenin, sondern etwa auch von Puschkin. Für viele Menschen sind die Denkmäler von Fremden, die in unserem Land stehen“, erzählt Demerza. „Mich interessiert, wie wir Ukrainer*innen mit der Zeit der sowjetischen und russischen Kolonisierung in unseren öffentlichen Räumen umgehen können.“ Manche Stimmen meinen, dass man mit dem sowjetischen Erbe leben müsse, sagt Demerza. Noch heute seien viele ukrainische Schriftsteller unbekannt, weil sie von der Sowjetunion getötet, verschwiegen oder als nicht würdig, als provinziell dargestellt wurden. „Als ich nach Berlin kam, stellte ich fest, dass es kaum Kenntnisse der ukrainischen Geschichte gibt. Die Menschen hier sehen das Land meist nur durch die russische Optik“, sagt Demerza. „Ich als junge Ukrainerin kann dazu beitragen, das zu ändern.“
Und verändern möchte die 28-Jährige nicht nur mit ihrer Forschung, sondern auch als Aktivistin. Schon in Kyjiw setzte sie sich für den Schutz der ukrainischen Kultur ein, arbeitete beim Ivan Honchar Museum, dem Nationalen Zentrum der traditionellen Kultur. Sie engagiert sich in der NGO „Renovation Map“, die das architektonische Erbe in Kyjiw schützen und Gebäude vor dem Abriss oder Verfall bewahren will. Die Freiwilligen stellen Anträge, um von der Zerstörung bedrohte Gebäude als Kulturerbe schützen zu lassen oder gehen vor Gericht, um den Abriss historischer Bauten zu verhindern. Diese Arbeit setzt Demerza inzwischen von Berlin aus fort. Und sie ist aktiv im Verein „Vitsche“, in dem sich junge Ukrainer*innen von Berlin aus gegen den russischen Krieg und für ukrainische Selbstbestimmung einsetzen. Sie organisieren Kulturprojekte wie Ausstellungen oder Festivals, Protestaktionen und Demonstrationen und sie klären auf – produzieren Videos über die russische Desinformation, schreiben antipropagandistische Statements. „Ziel des Vereins ist es, die ukrainische Souveränität zu schützen und zu stärken, Stereotypen entgegenzuwirken, aber auch über den paternalistischen Gestus aufzuklären, mit dem viele Ukrainerinnen und Ukrainer zu kämpfen haben.“ Bei der Freiwilligenarbeit kommen Demerza auch ihre sehr guten Deutschkenntnisse zugute. Schon in der Schule hat sie die Sprache gelernt und auf Rat ihrer Mutter nach der Schule einen Kurs belegt. „Meine Mutter ist in der Sowjetunion aufgewachsen und hatte nicht die Möglichkeit, Sprachen zu lernen. Deswegen war es ihr immer wichtig, dass ich Englisch und Deutsch lerne.“
Inzwischen wohnt die Philosophin in einer WG in Berlin, in der sie sich wohlfühlt. Ihre Wohnung in Kyjiw musste sie vor Kurzem aufgeben. „Aber es ist OK. Meine Eltern leben noch in der Stadt und ich weiß, dass ich dort schnell eine neue Wohnung finden kann, wenn ich zurückkehre. In Berlin ist das anders.“ Ihre Unterkunft in Berlin musste die Doktorandin im vergangenen Jahr schon drei Mal wechseln. „Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich immer nur für ein paar Wochen oder Monate planen kann.“