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„Hallo Leute! Willkommen zu meinem neuen Video …“ – Roland Verwiebe und sein Team untersuchen die Arbeitsumstände von Youtuber*innen

Landwirt mit Strohhut hält ein Ei in der einen und ein Smartphone in der anderen an und filmt sich für ein YouTube-Video.
Das Team vom Projekt „TubeWork“
Das Team vom Projekt „TubeWork“ sitzen zusammen am Schreibtisch und diskutieren über Ergebnisse ihrer Arbeit.
Foto : AdobeStock/Video_StockOrg
Roland Verwiebe und sein Team untersuchen die Arbeitsumstände von Youtuber*innen
Foto : Sandra Scholz
Roland Verwiebe (Mitte oben) und sein Team untersuchen im Projekt „TubeWork“ die Arbeitsumstände von Youtuber*innen.
Foto : Sandra Scholz
Diskussion der Ergebnisse im Team

Sich vor der Kamera schminken, Sketche hochladen, Geschichtsnachhilfe geben – so vielfältig das Angebot an Videos auf YouTube ist, so unterschiedlich sind die Menschen hinter den Inhalten. Dass einige mit der selbstgemachten Videounterhaltung ihren Lebensunterhalt bestreiten, ist schon lange nicht mehr kurios. Doch wie definiert sich das Berufsbild YouTuberin oder YouTuber? Dieser Frage gehen die Potsdamer Forschenden im Projekt „Tube- Work – Das neue Berufsfeld der YouTuberInnen in Deutschland – Ungleichheit und Selbstökonomisierung in algorithmenbasierten Märkten“ nach. Das Team um Prof. Dr. Roland Verwiebe schließt damit die Lücke, die bisher in der soziologischen Forschung zum Videogiganten in Deutschland bestand.

„Viele, die den Beruf ausüben, bezeichnen sich heutzutage nicht mehr als YouTuberin oder YouTuber. Sie nennen sich eher ‚Content Creator‘“, beschreibt Roland Verwiebe das Selbstverständnis der Befragten. „Sie sagen: ‚Wir sind Künstler*innen, Unternehmer*innen, Dokumentarfilmer*innen und kommentieren unsere Zeit.‘“ Die Plattform verändert sich ständig – die Aufgaben und Selbstwahrnehmung der Content Creators muss im selben Tempo Schritt halten. Die neue Bezeichnung ist nur ein Indiz dafür. „Sonst wird genau definiert, was einen Job ausmacht. Im Fall von YouTuber*innen entwickelt sich das Berufsbild stetig weiter. Die Aktiven pflegen es selbst und die Community mystifiziert es“, erklärt der Professor. Seit August 2022 ergründet das Forschungsteam im DFG-geförderten Projekt die Besonderheiten des Berufs.

Quantitative und qualitative Untersuchungen

Dafür setzen sie sowohl auf qualitative als auch quantitative Methoden. Üblicherweise beschränken sich die Studien in der Soziologie auf die eine oder die andere Herangehensweise. „Für mich nicht nachvollziehbar“, sagt Roland Verwiebe. Gerade wenn es um die Selbstwahrnehmung der Befragten geht, kann das Team nicht auf die aus beiden Methoden gewonnenen Daten verzichten. „Beispielsweise äußerten Studienteilnehmer, dass eine Ausbildung nicht so relevant sei. Im Verlauf der Befragung stellte sich aber heraus, dass sie das Gelernte doch als ‚total‘ wichtig empfinden. So etwas fällt nur in einer qualitativen Untersuchung auf“, erzählt der Wissenschaftler. „Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass viele, die auf der Plattform erfolgreich sind, einen Hochschulabschluss im Medienbereich haben. Das war früher noch anders. Da galt YouTube als Einstieg für Menschen mit wenig Bildung.“ Was die YouTuber*innen gestern wie heute vereint: Viele beginnen auch fast 20 Jahre nach Gründung der Plattform ihre Laufbahn immer noch als Hobby.

Die quantitativen Daten erheben die Promovierenden Sarah Weißmann und Aaron Philipp. Sie lesen die Werte automatisch aus dem YouTube Data API – kurz für Application Programming Interface – aus. Das Interface ist eine Schnittstelle, die die Videoplattform eigentlich zur Einbindung ihrer Daten in Apps zur Verfügung stellt. Die Forschenden werten die öffentlich zugänglichen Daten aller 120.000 deutschsprachigen Kanäle anonymisiert aus: vom Geschlecht der Creators bis hin zu den Kommentaren der Community.

Qualitative Daten gewinnt das Team bei Interviews mit YouTuberinnen und YouTubern. Bisher haben sie knapp 20 Personen befragt, Männer und Frauen, die überwiegend zwischen 20 und 40 Jahren alt sind. Am Ende des Projektes sollen es 30–40 Interviews sein. Weil auf der Videoplattform viele Creator-Persönlichkeiten gebündelt werden, ist es dem Forschungsteam wichtig, eine vielfältige Auswahl an Befragten zu bekommen. Sie interviewen Personen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Kanalgröße, Branchen usw. Mit ihren Fragen wollen sie ergründen, wie die YouTuberinnen und YouTuber mit dem Algorithmus umgehen, wie sie das Videodrehen und -bearbeiten in den Alltag integrieren oder ihr Einkommen entsteht. Die Interviews werden die Forschenden durchführen, bis sie die „theoretische Sättigung“ erreichen: „Wir können kein repräsentatives Bild erfassen, sondern wollen die Kontraste des Berufsbildes abstecken“, erklärt Roland Verwiebe.

Frauen verdienen mehr auf YouTube

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befragen die hauptberuflichen YouTuber*innen zu ihren Netzwerken, ihrem sozialen und Bildungshintergrund, aber auch dazu, wie sie Ungleichheiten wahrnehmen. Letztere spürten die Befragten mehr oder weniger stark. Ausgehend von seinen Daten vermutet das Forschungsteam bereits, dass „Ungleichheiten von Schönheitsstandards und dem Startkapital bei der Kanalöffnung abhängen“, so Mitarbeiterin Claudia Buder. „Schönheit“ ist auch das Stichwort für die ersten Erkenntnisse der Studie: „Unsere bisherigen Ergebnisse lassen vermuten, dass Frauen auf YouTube mehr verdienen als Männer“, erklärt Aaron Philipp. Eine etablierte Nische für weibliche Creators sind z.B. das Gaming oder der Beauty-Bereich. Große Firmen, die Produkte bereitstellen und für ihre Platzierungen bezahlen, stehen als Kooperationspartner hinter den Kanälen. Dadurch entsteht – neben den Möglichkeiten, die YouTube durch Werbung seit den 2010er Jahren selbst ermöglicht – eine zusätzliche Einnahmequelle.

Nach den Interviews sitzen die Forschenden regelmäßig zusammen und diskutieren darüber, welche Erkenntnisse sie bieten. Nicht immer sind sie sich einig, aber ihre Arbeit profitiert von der Teamdynamik: „Wir brauchen den Austausch für die Interpretation des Gesagten“, so Roland Verwiebe.

Launischer Algorithmus

YouTuber*innen müssen mit berufsspezifischen Besonderheiten umgehen können: So groß der Personenkult um einzelne Kanalbetreibende sein mag, so sehr seien sie von zwei Faktoren abhängig: den Menschen, die zuschauen und dem Algorithmus. „Für alles gibt es direktes Feedback“, sagt Sarah Weißmann, die zum TubeWork-Team gehört. Nutzende schreiben Kommentare, geben „Daumen nach oben“ oder entscheiden sich für ein Abonnement des Kanals. Der Algorithmus berechnet nach unbekannten Kriterien, welche Videos an wen ausgespielt werden. „Heutzutage haben die Menschen mit komplexen, selbstlernenden Algorithmen zu tun. Ihre Funktionsweise ist nur schwer nachzuvollziehen. Der Algorithmus ist ein launischer Gott“, fasst Roland Verwiebe zusammen, wie die Befragten das technische Reglement empfinden. „Aber die Creators wirken auch selbst am Mythos ‚Algorithmus‘ mit: Informationen über ihn werden geteilt und unterschiedliche Strategien entwickelt, wie mit ihnen umzugehen sei“, ergänzt Nina-Sophie Fritsch.

Oft betreiben die Creators einen Kanal in Eigenregie, bestimmen die Themen selbst. Überhaupt seien die Inhalte, die durch die Videos vermittelt werden, sehr stark an die jeweilige Person geknüpft, erklärt Claudia Buder. Entsprechend der persönlichen Vorlieben zu arbeiten und eigene Interessen zum Beruf zu machen, bringt aber nicht nur Vorteile mit sich: „Arbeit und Privates entgrenzen sich oft“, sagt Nina- Sophie Fritsch. „Wir bemerken das bei Selbstständigen allgemein und bei YouTube-Creators noch mehr.“ Das zeige sich schon an der heimischen Raumnutzung. „Oft wird im Bett am Laptop gearbeitet oder der Schreibtisch steht unmittelbar am Bett.“ Welche Erkenntnisse das Team noch gewinnen wird, bleibt abzuwarten. Eines ist aber klar: „Die Daten geben extrem viel her“, sagt Roland Verwiebe. Viel zu tun für ihn und sein Team, die die Ergebnisse interdisziplinär und international nutzen wollen. Das Berufsbild YouTuber*in ist in der deutschen Forschung angekommen.

Das Projekt

TubeWork – Das neue Berufsfeld der YouTuberInnen in Deutschland. Ungleichheit und Selbstökonomisierung in algorithmenbasierten Märkten
Forderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Laufzeit: 2022–2025
Beteiligt: Projektleitung: Prof. Dr. Roland Verwiebe; wissenschaftliche ProjektmitarbeiterInnen: Claudia Buder (MA), Sarah Weismann (M.Sc.), Aaron Phillip (MA), studentische Mitarbeiterinnen: Marie Theres-Hesse (BA), Chiara Osorio Krauter

Der Forscher

Prof. Dr. Roland Verwiebe studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Columbia University in New York. 2003 promovierte er in Berlin. Seine Forschung führte ihn unter anderem nach Hamburg, New York und Wien. Seit 2019 leitet er den Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.
E-Mail: sozialstrukturuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2023 „Lernen“ (PDF).