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Ich meine, also bin ich?! – Eric-John Russell erforscht die Philosophie der Meinung

Der Rolle von Meinungen auf der Spur: Philosoph Dr. Eric-John Russell.
Foto : Thomas Roese
Der Rolle von Meinungen auf der Spur: Philosoph Dr. Eric-John Russell.

Durchaus gut, wenn man, anstatt sich ständig zu streiten, mal einer Meinung ist, oder? Ansonsten darf natürlich jeder seine haben. Meinungen sind immerhin Privatsache. Und als solche eigentlich nur für Neugierige von Interesse. Ganz sicher aber nicht für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die normalerweise von Berufs wegen nach dem suchen, was wir – möglichst sicher – wissen können. Anders Eric-John Russell. Er forscht als Marie Skłodowska-Curie Fellow dazu, welche Rolle Meinungen in unserer Gesellschaft spielen. Und sagt: „Meinungen erleben eine gefährliche Konjunktur.“

Hegel und Marx, Idealismus und Materialismus – Russell hat bislang zu verschiedenen namhaften Philosophen der Moderne geforscht. Für Meinungen und ihre Bedeutung begann er sich zu interessieren, nachdem Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt worden war. Dem erklärten Selfmade-Präsidenten genügte sein Twitter-Account mit fast 90 Millionen Followern, um politische Debatten nach Belieben anzustoßen oder zu dirigieren. Nicht Berichte, Ausschüsse und lange Beratungen, sondern Kurznachrichten mit 140 Zeichen prägten seine Politik. Und nicht nur die. „Meinungen sind im Aufwind“, sagt Eric-John Russell. „Für viele Menschen bilden sie die Basis dessen, was sie über die Welt wissen. Dabei ‚besitzen‘ Meinungen eine erstaunliche Gewissheit – und eine scheinbar enge Beziehung zum Konzept der Wahrheit.“ Bestes Beispiel seien die Diskurse rund um die Entwicklungen der Corona-Pandemie. Jeden Tag neue Nachrichten, neue Informationen und neue Meinungen. „Plötzlich wurden alle über Nacht zu Experten – und zwar vor allem auf der Basis von Meinungen.“ Das Besondere dieser neuen Meinungsmacht sei, dass sie sich behauptet, selbst wenn wissenschaftliche Evidenz gegen sie steht, erklärt der Philosoph. „Sie besitzen eine ungeheure Unveräußerlichkeit. Wenn es hart auf hart kommt, heißt es: meine Meinung. Du hast deine.“

Meinung vs. Wissen?

Diesen scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg will Russell genauer untersuchen. Sein Ziel ist nichts weniger als eine Philosophie der Meinung. Was macht sie aus? Wie lässt sie sich von anderen Denkformen wie Glaube oder Weltanschauung unterscheiden? Welche Eigenheiten hat die Meinungsäußerung als Kommunikationsform? Welche Rolle spielt sie für unsere Gesellschaft? Und wie hat sie sich im Laufe der Geschichte verändert? Denn die (persönliche) Meinung war eben nicht immer schon das Nonplusultra der Selbstfindung oder -behauptung. Einer der ersten, die ihr einen Platz im Haus des Wissens zuwiesen, war der griechische Philosoph Platon. In seiner „Republik“ stellte er der Meinung (doxa) das Wissen (episteme) gegenüber, wobei nur letzteres uns zu weisem Handeln befähigt. Im Laufe der Jahrhunderte übernahmen wechselnde Quellen die Aufgabe, dieses Wissen zu speisen – erst der Verstand, danach verschiedenste Religionen und dann wieder die Vernunft. Der Meinung blieb meist die Schmollecke weitgehender Wertlosigkeit. „Die tödliche Krankheit des Menschen ist seine Meinung, er wisse“, schrieb der französische Philosoph Montaigne im 16. Jahrhundert. Sein englischer Kollege Thomas Hobbes trat rund 100 Jahre später nach: „Eine Meinung gibt etwas Gesagtes für wahr an, obwohl es sich manchmal um absurde Worte handelt, die nichts bedeuten und unmöglich zu verstehen sind.“ Gleichwohl wusste er um ihren Einfluss: „Die Welt wird von der Meinung regiert.“ 200 Jahre später klärte der Aufklärer Immanuel Kant sie gleich mit auf: „Meinung ist ein Glaube, der sich bewusst ist, sowohl subjektiv als auch objektiv unzureichend zu sein.“ Ihm galt sie als defizitär, aber tolerierbar, wenn sie ihre Beschränktheit einsieht.

Eric-John Russell beginnt seine philosophische Feldarbeit indes noch etwas später: in der Hochzeit der „öffentlichen Meinung“. Ausgehend von der klassischen politischen Theorie will er den Wandel der Meinung zunächst im 18. u. 19. und sodann im frühen 20. Jahrhundert nachzeichnen, um in einem dritten Schritt die aktuelle Meinungskonjunktur und ihre Eigenheiten zu analysieren. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden in vielen Gesellschaften öffentliche Räume, an denen persönliche Ideen und Ansichten geäußert, ausgetauscht und diskutiert wurden. In englischen „coffee houses“ und französischen „salons“ formte sich aus vielen Meinungen eine öffentliche Meinung. Der Prozess ihrer Entstehung wurde zum Bestandteil der heranwachsenden modernen Demokratie. „Schon im damaligen Konzept steckt der Widerspruch, den jede Meinung ausmacht: Basis der öffentlichen Meinung ist nicht Wissen, sondern eine Vielzahl von Meinungen, die im schlimmsten Fall auch eine Vielzahl von Unwahrheiten hervorbringen können.“ Russell hat lange zum deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel gearbeitet. Das wirke nach, meint er und lacht. „Hegel würde sagen: Die öffentliche Meinung sollte respektiert werden – und zugleich verachtet. Denn schon der dahinterstehende Wille der Menschen enthalte unauflösliche Widersprüche.“

Illusion der Sicherheit

Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts seien diese Sphären, in denen die öffentliche Meinung geformt wurde, aber nach und nach verschwunden, so Russell. Geblieben sei die – höchstpersönliche – Meinung, die zum Beginn des 21. Jahrhunderts, ausgestattet mit dem Megafon Sozialer Medien, zum Palaststurm bläst. „Meinungen versprechen eine verloren geglaubte Gewissheit und wir können sie allein aus uns selbst schöpfen“, erklärt der Philosoph. „Wenn die Welt um uns herum immer unsicherer wird, Katastrophen einander jagen, ein Tag schlimmer als der andere anmutet, ist durchaus nachvollziehbar, dass Menschen sich nach innen wenden und nur auf ihre Meinungen vertrauen.“ Doch dieser Schritt komme einer Aufgabe gleich, ist sich der Forscher sicher. „Meinungen sind Urteile über die Welt, die wir fällen, wenn wir aufgehört haben sie anzusehen.“

Russell selbst sieht dazu keinen Anlass und ist schon viel herumgekommen. Der gebürtige US-Amerikaner ging nach seinem Philosophiestudium in New York 2012 nach Frankfurt, um sich die berühmte Frankfurter Schule aus der Nähe anzuschauen, studierte Kritische Theorie. Anschließend wechselte er für seine Promotion sechs Jahre nach London. Seit Anfang 2022 ist er zurück in Deutschland und als Marie Skłodowska Curie Fellow bei Thomas Khurana, Professor für Philosophische Anthropologie und Philosophie des Geistes. Was aber könnte eine kritische Theorie der Meinung eigentlich leisten? „Sie könnte aufzeigen, dass die Sicherheit, die das Primat der eigenen Meinung bietet, trügerisch ist“, so der Forscher. „Denn Meinungen über die Welt sind Urteile über sie ohne Bezug zur Realität. So unsicher sie sein mag: Wir sollten den Blick vor ihr nicht verschließen.“

Der Forscher

Dr. Eric-John Russell studierte Philosophie in New York, Frankfurt und London. Seit 2022 ist er Marie Skłodowska Curie Postdoc-Fellow am Institut für Philosophie der Universität Potsdam.
E-Mail: eric-john.russelluni-potsdamde

Das Projekt

„Gewissheit in einer Welt der Ungewissheit: Eine kritische Theorie der Meinung“
Laufzeit: 7/2022–6/2024
Förderung: Europäische Union (Marie Skłodowska-Curie Postdoc-Fellowship)

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2023 „Lernen“ (PDF).