Sie waren mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, Staatsminister und MdB Carsten Schneider in Seoul. Was war das Ziel der Reise?
Anlass der Reise war die 11. Sitzung des deutsch-koreanischen Konsultationsgremiums, das 2010 ins Leben gerufen wurde und einmal jährlich abwechselnd in Berlin und Seoul tagt. Gastgeber in diesem Jahr war der Minister für Wiedervereinigungsfragen der südkoreanischen Regierung. Grundsätzlich soll die Arbeit des Gremiums die gegenseitigen Beziehungen stärken. Inhaltlich beschäftigen sich die Tagungen vor allem mit Fragen der deutschen-deutschen Teilung und Wiedervereinigung. Erfahrungen aus dieser Phase der deutschen Geschichte sollen dabei mit dem Prozess der Teilung Koreas verglichen und Schlussfolgerungen für eine mögliche Annäherung und Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel genutzt werden.
Warum waren Sie dabei?
Die diesjährige Tagung hat erstmals Kultur und Sport in den Fokus gerückt. Als Sporthistoriker, der sich mit dem Sport in der DDR und der Bundesrepublik und dem gegenseitigen Verhältnis der beiden deutschen Staaten beschäftigt hat, wurde ich um einen Beitrag zu den innerdeutschen Sportbeziehungen in der Zeit von 1945 bis 1989 gebeten.
Nehmen Sie uns doch mal mit in diese Zeit: Was prägte die deutsch-deutsche Sportgeschichte?
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Sport in beiden deutschen Staaten höchst unterschiedlich: In der Bundesrepublik versuchte man – allerdings unter dem Dach des 1950 gegründeten Einheitsverbandes Deutscher Sportbund – an die demokratischen Traditionen des freien Vereinswesens der Weimarer Zeit anzuknüpfen. In der DDR organsierte und kontrollierte man den Sport mit einer klaren politischen Zielstellung. Sowohl der Freizeit- als auch der Spitzensport sollten das System nach innen stabilisieren, nach außen repräsentieren und letztlich den Weg zu einer staatlichen Anerkennung ebnen. Dazu fokussierten sich SED-Führung und DDR-Sportfunktionäre zunehmend auf das Erringen internationaler sportlicher Erfolge. Dafür bauten sie die entsprechenden Strukturen für eine Unterstützung und Förderung auf, die vor allem mit staatlichen Mitteln finanziert wurden. Erfolge sollten die DDR-Sportler:innen aber nicht nur auf der internationalen Bühne erringen, sondern vor allem im direkten sportlichen Vergleich mit dem „Klassengegner“.
Erfolge stellten sich allerdings erst nach und nach ein, was man bspw. anhand des wachsenden Anteils von DDR-Athleten und -Athletinnen im Rahmen der gemeinsamen deutschen Olympiamannschaften im Zeitraum von 1956 bis 1964 nachvollziehen kann. Sportlich blieb die Bundesrepublik – zumindest im Rahmen der Olympischen Spiele bis 1964 – erfolgreicher als die DDR, die erstmals 1968 mit einem eigenen Team antreten durfte. 1966 wurden die Olympischen Sommerspiele 1972 nach München vergeben, was die Systemkonkurrenz abermals anheizte. Als dann zwei Jahre später bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 die DDR erstmals deutlich besser abschnitt als die BRD, löste diese empfundene sportliche Niederlage in der Bundesrepublik weitreichende Reformen der Leistungssportförderung aus, die sich auch am DDR-Sportsystem orientierten. Den Vorsprung der DDR im Medaillenspiegel bei Olympischen Spielen vermochte man allerdings bis 1988 nicht mehr aufzuholen, im Gegenteil: die Bundesrepublik fiel im direkten Vergleich immer weiter zurück.
Vielen sind die deutsch-deutschen Kopf-an-Kopf-Rennen in olympischen Medaillenspiegeln als Ausdruck der Systemkonkurrenz im Gedächtnis. War diese Politisierung des Sports maßgeblich für alle Bereiche – in beiden deutschen Staaten?
Der DDR blieb die internationale staatliche Anerkennung aufgrund des Alleinvertretungsanspruches der Bundesrepublik lang versagt. Deshalb suchte die SED-Führung nach Mitteln und Wegen, sich international in Szene zu setzen. Dazu schien vor allem der Sport geeignet, wobei diese Form der Darstellung keine Erfindung der DDR war. Dass man sich über sportliche Erfolge und die Ausrichtung von Sportgroßveranstaltungen positiv inszenieren kann, hatten bereits die Nationalsozialisten als Gastgeber der Olympischen Spiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen und Berlin bewiesen.
Der Leistungssport stellt in diesem Zusammenhang sicher eine Ausnahme dar, weil es der einzige gesellschaftliche Teilbereich war, in dem die DDR der Bundesrepublik offensichtlich überlegen war.
Ein weiteres Highlight deutsch-deutscher Sporthistorie ist das Fußballländerspiel BRD–DDR 1974. Wie bewertet die Sportgeschichtswissenschaft den Stellenwert solcher Großereignisse?
Für die DDR war das 1:0 gegen die Bundesrepublik im Rahmen der Vorrunde der Fußballweltmeisterschaften 1974 sicher ein großer Prestigegewinn, letztlich aber bedeutungslos, weil die DDR in der Zwischenrunde ausschied und die Mannschaft der Bundesrepublik sich zum zweiten Mal nach 1954 den Weltmeistertitel sicherte. Dieser Sieg der DDR führte allerdings dazu, dass es nach diesem ersten und einzigen Aufeinandertreffen der A-Nationalmannschaften keine weiteren Spiele auf dieser Ebene gab. Die DDR-Sportführung wollte diese positive Länderspielbilanz im Fußball auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Zuletzt zeigt uns die Geschichte aber auch, dass die sportliche Überlegenheit eben nur eine Überlegenheit im Sport abbildete und nicht des gesellschaftlichen Systems.
Rückblickend steht die Sportnation DDR unter einer Art General-Dopingverdacht. Wie viel ist da aus wissenschaftlicher Perspektive dran? Oder bestätigt sich darin der Spruch: Der Sieger schreibt die Geschichte?
In der DDR wurde ein sehr komplexes System für die Förderung von Leistungs- und Spitzensport in bestimmten medaillenträchtigen, olympischen Sportarten etabliert. Dieses System war sehr aufwendig, wissenschaftlich fundiert, kostenintensiv, aber letztlich auch erfolgreich. Das systematische Doping ab 1974 stellt nur einen, wenn auch einen wichtigen Baustein in diesem Gesamtsystem dar. Inzwischen zeigt uns die wissenschaftliche Aufarbeitung des Dopings in der Bundesrepublik, dass auch dort mit staatlicher Unterstützung gedopt wurde. Dies erfolgte aber weniger systematisch und weniger wissenschaftlich begleitet.
War der Sport während der Zeit der deutsch-deutschen Teilung eine eher trennende oder verbindende Sphäre?
Das ist eine Frage der Perspektive und auch der Zeit. Die Sportlerinnen und Sportler an der Basis in Ost und West haben vor dem Mauerbau 1961 den sportlichen Austausch vor allem als verbindendes Element gesehen. Deshalb hatte die DDR-Führung ab Mitte der 1950er Jahre auch kein großes Interesse mehr daran. Nach dem Mauerbau wurde der innerdeutsche Sportverkehr abgebrochen und erst 1974 wieder aufgenommen. Er erreichte bei Weitem nicht mehr den Umfang von mehreren Tausend innerdeutschen Sportbegegnungen wie Mitte der 1950er Jahre. Aufgrund des geringen Umfangs – nur 40 Begegnungen 1974, 120 im Jahr 1988 – und der strengen politischen Anleitung sowie Kontrolle durch die DDR-Sportfunktionäre und die Staatssicherheit konnten die sportlichen Begegnungen ihre positiven Potenziale nur noch in einem sehr kleinen Rahmen entfalten.
Hatte der Sport Einfluss auf die Entwicklungen, die zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung geführt haben?
Die Sportlerinnen und Sportler haben in der Endphase der DDR zwar auch Kritik am System geäußert, waren aber zumeist an besseren Förderbedingungen und einer Reform der DDR interessiert. Der Sport hatte in diesem Zusammenhang wenig Einfluss, vielmehr lief er den politischen Entwicklungen hinterher. Man muss aber auch zugestehen, dass die Funktionäre in Ost und West von der rasanten Geschwindigkeit der politischen Umwälzungen schlicht überfordert waren, die nach dem Fаll der Mauer in nicht einmal einem Jahr zur Wiedervereinigung führten.
Wie sieht das für Korea aus: Was prägt den Sport in Nord und Süd? Gibt es Verbindungen über die sonst so hermetische Grenze?
Der Sport war und ist ein guter Indikator für die innerkoreanischen Beziehungen. Es gibt also durchaus eine Parallele zu den innerdeutschen Sportbeziehungen. Noch bei den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang liefen Nord- und Südkorea im Rahmen der Eröffnungsfeiern gemeinsam in das Olympiastadion ein und stellten bei den Damen ein gemeinsames Eishockeyteam. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Verhältnis seitdem vor allem aufgrund des nordkoreanischen Atomprogramms erheblich verschlechtert hat und auch die Sportkontakte auf ein Minimum heruntergefahren wurden.
Was kann der Sport Ihrer Ansicht nach für eine Annäherung der beiden koreanischen Staaten tun?
Man kann in der aktuellen Situation nur versuchen – und das habe ich der koreanischen Delegation empfohlen –, über sportliche Kontakte den menschlichen Austausch aufrechtzuerhalten. Das Land ist seit über 70 Jahren geteilt und es gibt immer weniger Menschen, die sich an die Zeit des geeinten Koreas erinnern können. Der Sport kann vor allem abseits des Spitzensports helfen, dass Menschen in Kontakt kommen, sich näher kennenlernen und Gemeinsamkeiten entdecken. Eine solche menschliche Annährung kann Vorurteile abbauen und die Basis für ein Überwinden der politischen Spannungen sein.
Wie geht es für Sie nach dem Staatsbesuch weiter?
Ich bin gerade vor allem mit dem Start des Wintersemesters beschäftigt. Darüber hinaus holen auch die Sporthistoriker viele Veranstaltungen nach, die pandemiebedingt ausfallen mussten. Ich werde bis zum Jahresende noch ein paar Vorträge halten, bspw. zum „Stellenwert von Turnen und Sport zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und bei der Rehabilitation von Soldatinnen und Soldaten“, zur „Entwicklung des Leistungssports im geteilten Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Olympischen Spiele 1972“ und schließlich zur „Entstehung und Entwicklung der jüdischen Sportbewegung“.