„Weite Teile Afrikas liegen in Gegenden, die geprägt sind von langen Trockenzeiten und ein bis zwei kurzen Regenzeiten im Jahr. In diesen Trockengebieten leben noch sehr viele Menschen als Viehzüchter und Kleinbauern. Diese sind ganz besonders vom Klimawandel und den Folgen einer Wüstenbildung betroffen“, sagt Anja Linstädter. „Wenn Weideflächen stark übernutzt werden, können sie – zum Beispiel infolge einer Dürre – plötzlich kollabieren oder ‚umkippen‘. Futtergräser gehen dann dauerhaft verloren und zurück bleibt nackter, karger Boden.“ Die Wüstenbildung ist beispielsweise in Namibia, einem der trockensten Länder der Erde, ein drängendes Problem. Hier setzt das Verbundprojekt „NamTip“ an, das ökologische Kipppunkte der Wüstenbildung (Desertification Tipping Points) untersucht. Als ökologischen Kipppunkt bezeichnet man einen bestimmten Zeitpunkt, ab dem eine Entwicklung in einem Ökosystem hin zu einem neuen Systemzustand nicht mehr aufzuhalten ist. „Aufgrund der komplexen Wechselwirkungen von Natur und Gesellschaft sind diese Kipppunkte noch nicht gut verstanden – häufig kommen sie als unangenehme Überraschung. Wenn wir dieses Phänomen jedoch nicht verstehen, können wir keine geeigneten Maßnahmen ergreifen, um es zu vermeiden“, erklärt Linstädter.
Diversität der Kulturen und des Wissens
Das NamTip-Projekt bringt seit 2019 Expertinnen und Experten aus vielen Bereichen zusammen. Neben deutschen und namibischen Forschenden aus den Natur- und Sozialwissenschaften sind es Fachleute aus dem Weidemanagement, der Politik, Pädagogik und Kommunikation, die jeweils einen Teil des fächerübergreifenden Puzzles liefern. „Diversität spielt in unserem Projekt eine große Rolle“, sagt Anja Linstädter. „Wir ergänzen uns und arbeiten auf Augenhöhe mit unseren wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen vor Ort zusammen.“ So haben die namibischen Ökologinnen und Ökologen eine viel bessere Kenntnis der Artenvielfalt und der langfristigen Dynamiken in den Savannen. „In Befragungen der Menschen vor Ort stellen wir fest, dass ihr Wissen oft komplementär ist zu unseren Kenntnissen als Ökologen“, sagt sie und ergänzt: „Dieses lokale Wissen ist eine unschätzbare Ressource zum Verständnis ökologischer Kipppunkte und zum Erhalt der Biodiversität.“ Die Berücksichtigung des vielseitigen Know-hows bildet daher eine wichtige Säule des NamTip-Projekts.
Ein Freilandexperiment simuliert die Wüstenbildung
Zur Erforschung der ökologischen Kipppunkte kombinieren die Ökologen und Bodenwissenschaftler des Projekts zudem verschiedene Forschungsansätze: So erhebt ein neu angelegtes Freilandexperiment Daten zum Zustand der Vegetation und des Bodens. Dafür werden Weideflächen durch die Kombination von experimenteller Dürre und Überweidung gezielt in die Wüstenbildung getrieben. „Wir können also direkt beobachten, welche Prozesse dabei im Ökosystem ablaufen“, sagt Linstädter. „Wir vermuten einen Domino- Effekt – dass es also nicht den einen großen Kipppunkt gibt, sondern eher eine Kaskade von vielen kleinen Kipppunkten. Im ersten Jahr des Experiments konnten wir bereits beobachten, dass die ausdauernden Gräser besonders dann unter der Dürre leiden, wenn sie gleichzeitig stark beweidet werden.“ Insgesamt kommen die Savannengräser mit einem einzelnen Dürrejahr sehr gut klar – eigentlich auch nicht überraschend, schließlich sind solche Ereignisse in einem Trockengebiet nichts Ungewöhnliches. Kontinuierliche Messungen der Bodenfeuchte bis zu einer Tiefe von einem Meter haben gezeigt, dass es im ersten Dürrejahr offenbar noch Wasservorräte in den tieferen Bodenschichten gibt, auf die die Gräser zugreifen können. Aufgrund des Klimawandels werden jedoch starke und lang andauernde Dürren – wie im Experiment simuliert – immer wahrscheinlicher. Anja Linstädter vermutet, dass eine Kombination von Überweidung mit solchen schweren Dürren die natürliche Widerstandsfähigkeit der Gräser übersteigt. „Anschließend können sich selbst verstärkende Prozesse wie eine Veränderung des Kleinklimas und der Bodeneigenschaften dazu führen, dass die Gräser dauerhaft verschwinden.“
„In der zweiten Phase von NamTip wollen wir insbesondere die Ergebnisse aus unserem Kipppunkt- Experiment auswerten – richtig spannend wird es ja erst dann, wenn das Ökosystem tatsächlich ‚kippt‘. Darauf aufbauend wollen wir Handlungsempfehlungen ausarbeiten, wie sich verhindern lässt, dass es zur großflächigen Wüstenbildung kommt. Aber auch Experimente zur Regeneration bereits ‚gekippter‘ Flächen stehen auf der Agenda“, sagt Anja Linstädter. Im Februar 2022 wurde ein Fortsetzungsantrag für diesen nächsten Abschnitt des NamTip-Projekts eingereicht. Doch ob die Forschenden um Anja Linstädter die Gelegenheit bekommen, die Früchte ihrer Arbeit zu ernten, steht derzeit selbst „auf der Kippe“: Das BMBF hat im Juni die gesamte übergeordnete Fördermaßnahme gestrichen. „Eine Katastrophe“, wie die Forscherin erklärt. „Das beschädigt nicht nur die Reputation der laufenden Vorhaben bei den vielen Forschungs- und Praxispartnern in aller Welt. Die Bundesregierung verzichtet damit auch auf die Forschungsphase mit dem höchsten zu erwartenden wissenschaftlichen Ertrag.“
Das Projekt
NamTip: Desertifikations-Kipppunkte verstehen und bewältigen – eine namibische Perspektive
Beteiligt: Universitäten Potsdam, Bonn, Tübingen, Köln, UFZ – Helmholtz Zentrum für Umweltforschung, ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung, University of Namibia, Namibia University of Science and Technology, EduVentures Trust, Agri- Ecological Services, Namibia
Förderung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Fördermaßnahme „Kipppunkte, Dynamik und Wechselwirkungen von sozialen und ökologischen Systemen (BioTip)“ im Kontext des Rahmenprogramms Forschung für Nachhaltige Entwicklung (FONA)
Laufzeit: 03/2019–02/2023
Die Forscherin
Prof. Dr. Anja Linstädter studierte Biologie in Hamburg und promovierte in Cambridge und Köln. Seit 2020 ist sie Professorin für Biodiversitätsforschung und Spezielle Botanik an der Universität Potsdam und Direktorin des Botanischen Gartens.
E-Mail: anja.linstaedteruuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).