Wissenschaftliche Erkenntnisse und Expertise in die Praxis zu bringen, ist für viele Disziplinen wichtig. Für wie essenziell erachten Sie dies für Ihr Fach?
Ich finde den Transfer in die Praxis sehr wichtig – nicht nur für die Politikwissenschaft insgesamt, sondern ganz besonders für das Teilgebiet, welches ich schwerpunktartig bearbeite, die Verwaltungswissenschaft. Diese hat traditionell enge Praxiskontakte, funktioniert ohne Transfer gar nicht richtig. Denn der verläuft für uns in beide Richtungen: Unsere Forschungsthemen sind von der Praxis inspiriert. Bestimmte Fragestellungen und Probleme, die in der Verwaltungstätigkeit auf unterschiedlichsten Ebenen auftreten, erweisen sich als gesellschaftlich relevant und gelangen so zu uns. Umgekehrt arbeiten wir natürlich ständig daran, die Erkenntnisse dieser Forschung den Weg zurück in die Praxis finden. Und wir sehen, dass das – sicherlich mal mehr und mal weniger – angenommen wird.
Auf welchen Wegen findet dieser Transfer statt?
Nun, zunächst durch die wissenschaftliche Publikation der Ergebnisse selbst. Mitunter macht dabei das Format einen wichtigen Unterschied. Erscheinen sie in einem wissenschaftlichen Journal oder etwa als Policy Paper? Letztere sind kurze Papiere mit oft nur fünf bis zehn Seiten, die aus der Forschung gespeiste Thesen zusammenfassen und pointiert präsentieren. Immer häufiger tun sich Forschende zusammen und veröffentlichen solche Policy Papers gemeinsam, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen. Dabei verlassen sie natürlich die Rolle der reinen Wissenschaft: Sie geben Empfehlungen ab und versuchen, die Politik in eine bestimmte Richtung zu lenken. Und die nimmt das auf jeden Fall zur Kenntnis, natürlich folgt daraus nicht automatisch gleich ein bestimmtes Handeln. Aber auch in Diskussionsrunden, Briefings oder Round Tables, bei denen Ergebnisse und Expertise präsentiert werden, ist dieser Wissenstransfer üblich.
Gibt es für diesen Transfer etablierte Kanäle?
In einem meiner zentralen Forschungsfelder, der Verwaltungsmodernisierung und Digitalisierung der Verwaltung, etwa das Netzwerk „Bessere Rechtssetzung und Bürokratieabbau“. Das Netzwerk besitzt Kontakte in die Praxis und die Wissenschaft und sorgt für den nötigen Austausch. so diffundiert das. Ein anderes Beispiel ist die European Group for Public Administration (EGPA), die eine europäische Community von Verwaltungswissenschaftlern ist. Diese hat beispielsweise das Format von Policy Papers als eine Art des Wissenstransfers eingerichtet und ist auf europäischer Ebene mit Politik und Verwaltung sehr gut vernetzt.
Eine weitere Möglichkeit für Wissenstransfer ist sicher Politikberatung. Wie funktioniert die?
Auch dafür gibt es unterschiedliche Formate. Eine wäre etwa die Auftragsforschung. Das bedeutet freilich nicht Gefälligkeitsforschung. Die Auftragsgeber wollen ja gerade unabhängige Expertise. Entsprechende Untersuchungen haben wir etwa zur Governance des Corona-Managements durchgeführt. Wir haben die Frage gestellt, wie Politikberatung und Datennutzung in der Corona-Krise funktioniert haben. Ein anderes Instrument sind Expertengremien. Auch diese werden meist von der Politik initiiert. Der Nationale Normenkontrollrat (NKR) etwa wird vom Bundespräsidenten ernannt. Vom NKR wird erwartet, dass er die Regierung berät, um Bürokratie abzubauen und die Gesetzgebung zu verbessern. Dafür treffen wir uns alle zwei Wochen und gehen die aktuelle Rechtsetzung des Bundes durch, und prüfen unter anderem auch, ob die Bemühungen, die Verwaltung zu modernisieren und zu digitalisieren, Früchte tragen.
Wie kommt man als Forschende in die Rolle der Politikberaterin?
Wichtig ist vor allem, sich nicht in den oft zitierten „wissenschaftlichen Elfenbeinturm“ zurückziehen. Wenn man nur für Grundlagenforschung und wissenschaftliche Journals arbeitet und es einem egal ist, ob man von Entscheidungsträgern wahrgenommen wird oder nicht, hat man schon verloren. Das heißt nicht, dass man das gar nicht oder nur wenig machen soll, immerhin ist gute Forschung und Publikationstätigkeit unsere wichtigste Ressource für Reputation, das nötige Standing. Diese Hausaufgaben muss man erst mal machen. Aber anschließend gilt es, sich hinauszuwagen! Man muss den Mut haben, seine Forschung mit Entscheidungsträgerinnen und -trägern zu diskutieren. Das bedeutet aber: kritikfähig bleiben, wenn von außen, also quasi unserem „Objekt“ der empirischen Untersuchung selbst, das man sonst nur mit der wissenschaftliche Lupe seziert, Kritik kommt. Voraussetzung ist eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der realen Welt. Last but not least, braucht man ein gewisses Verständnis für die Logik politischer Entscheidungen. Denn diese unterscheidet sich von wissenschaftlicher und auch administrativer Rationalität. Wer sich da nicht reindenken kann, wird es schwer haben. Das haben wir in der Corona-Pandemie deutlich gesehen: Vor allem zu Anfang haben die wissenschaftliche und die politische Sphäre nicht dieselbe Sprache gesprochen und kaum zueinander gefunden. Politikberatung ist Grenzarbeit – an und über Grenzen hinweg. Trotzdem ist die Rollentrennung wichtig und beide Seiten müssen sich über diesen Balanceakt bewusst sein – auch eine Lehre aus Corona.
Alles Weitere ergibt sich – auf unterschiedlichsten Wegen. Ich wurde beispielsweise unlängst gefragt, ob ich in Potsdam den Digitalisierungsrat unterstützen würde – und jetzt bin ich dabei. Natürlich wirkt sich das auf das eigene Tätigkeitsspektrum aus. Wer in Praxistransfer investiert, muss seine Forschungs- und Publikationsarbeit etwas anders organisieren; zentral sind hier gut funktionierende Kooperationen und die Zusammenarbeit mit anderen Forschenden, die aber auch zu neuen Synergien mit Blick auf Transferarbeit führen.
Kommt Ihre Expertise an?
Das ist unterschiedlich und hängt sehr vom Gremium oder der konkreten beratenden Tätigkeit ab. Auf jeden Fall ist es kein Selbstläufer, kein Kanal, den man einfach nur „füttern“ muss. Für die Arbeit des Normenkontrollrats etwa kann ich sagen, dass unsere Expertise, die wir in Form von Gutachten und Policy Papers „abliefern“, ganz sicher bei vielen ankommt. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass man drauf wartet. Als unabhängiges Gremium sind wir vielen auch ein Dorn im Auge. Ministerien schreien nicht hurra, wenn wir kommen. Letztlich sind wir ja Kontrolleure. Manch einer versucht, Fragen auszuweichen, sich kritischen Blicken zu entziehen, dicht zu machen. Und dafür gibt es viele Wege. Das braucht Beharrlichkeit. Vor allem aber die Einsicht, dass man mit Kooperation weiter kommt als mit Konfrontation.
Zur Webseite von Prof. Dr. Sabine Kuhlmann: https://www.uni-potsdam.de/de/ls-kuhlmann/lehrstuhl/sabine-kuhlmann
Zur Pressemitteilung des Normenkontrollrats über die vierte Mandatszeit: https://www.normenkontrollrat.bund.de/nkr-de/service/presse/pressemitteilungen/nationaler-normenkontrollrat-fuer-vierte-mandatszeit-berufen-2040056