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Lehrreiches Stimmengewirr – Im Potsdamer BabyLab – Laborbesuch (statt) Selbstversuch

Prof. Barbara Höhle
Mathilde beim Experiment im BabyLAB
Laborleiter Tom Fritzsche führt das Experiment durch.
Mathilde beim Experiment im BabyLAB
Foto : Ernst Kaczynski
Prof. Barbara Höhle
Foto : Tobias Hopfgarten
Mathilde beim Experiment im BabyLAB
Foto : Tobias Hopfgarten
Laborleiter Tom Fritzsche führt das Experiment durch.
Foto : Tobias Hopfgarten
Mathilde beim Experiment im BabyLAB

Der Star des Tages ist die kleine Mathilde: Laborleiter Tom Fritzsche nimmt sie und ihre Mama in Empfang. Anschließend zeigt Dr. Alan Langus von der Forschungsgruppe den beiden den Kinderwarteraum, wo sie erst einmal ankommen können. Der Fotograf bereitet seine Kamera vor und macht einige Probeaufnahmen. Das Blitzlicht erhellt den Raum. Mathildes Mama hilft ihrer 14 Monate alten Tochter aus dem Overall und richtet die Haare der Kleinen. Vier Erwachsene, ein Gewirr von Stimmen. Alle sprechen unterschiedlich – mit ganz eigenen lautlichen Merkmalen. Sätze, Worte, Laute schwirren um Mathilde herum. Aufgeweckt und neugierig blickt sie vom einen zum anderen. Nicht ahnend, dass sie ihren Nachmittag dem Wohl der Wissenschaft widmet.

Die Kleine ist heute Testperson und leistet damit einen Beitrag zur Forschung des BabyLAB auf dem Campus Golm. Das Labor führt seit über 20 Jahren Experimente durch, mit denen der kindliche Spracherwerb untersucht wird. Die Gruppe um Prof. Dr. Barbara Höhle und Dr. Alan Langus geht in einem aktuellen Forschungsprojekt der Frage nach, welchen Einfluss die Variabilität der Sprache auf das Lernen von Worten bei Kleinkindern hat. „Man denkt, Sprache zu verstehen, sei einfach. Für Kinder ist das aber eine ganz andere Geschichte“, so die Psycholinguistin. Regelmäßig werden vor Ort Experimente für Projekte des Sonderforschungsbereichs „Die Grenzen der Variabilität in der Sprache“ durchgeführt.

Für Mathilde und ihre Mama ist es nicht der erste und sicher nicht der letzte Besuch im BabyLAB. Die beiden kennen die Laborumgebung schon ganz genau: das Poster im Gang, auf dem alle Teammitglieder lächeln, das Wartezimmer mit Spielteppich, die lustige Papiergiraffe und -vögel an der Tür und natürlich den Experimentraum. Erst in der vergangenen Woche haben sie an einer anderen Studie teilgenommen. Die junge Mutter unterstützt das Sprachlabor gern zusammen mit ihrem Kind. „Direkt vor dem Termin haben wir beim Spazieren eine Bekannte getroffen, die selbst vor Kurzem Mama geworden ist. Ich habe gleich ‚Werbung‘ für das BabyLAB gemacht“, erzählt die Alumna der Uni Potsdam. Während die beiden ablegen, erklärt Tom Fritzsche kurz das Experiment. Dabei verrät er nicht zu viel.

Auf dem Flur erläutert Alan Langus später: „Die Eltern sollen im Vorhinein nicht zu sehr beeinflusst werden. Deshalb gibt es die ‚Erklärungen‘ zum Experiment erst danach.“ Eltern, die in Potsdam leben, haben oft schon vom Golmer Babylabor gehört. Sobald ein neuer Potsdamer Erdenbürger geboren wird, erhalten sie nämlich Post von der Einrichtung. Und das Labor kommt in der Stadt gut an. So freut sich das Team regelmäßig über die kleinen Probandinnen und Probanden, die ihnen Daten für ihre Studien liefern. Alan Langus wird diese später in der Forschungsgruppe auswerten. Normalerweise dauert ein Experiment nicht länger als zehn Minuten. „Sobald ein Kind unruhig wird oder anfängt zu weinen, brechen wir natürlich ab“, sagt der Wissenschaftler.

Sind alle bereit? Im Experimentraum stehen Stühlchen, Tisch und Monitor schon bereit. Mathilde nimmt auf dem Schoß ihrer Mama Platz. Zur FFP2-Maske setzt die Mutter noch eine Brille mit abgeklebten Gläsern auf, damit sie nichts sieht und Mathilde nicht beeinflussen kann. Tom Fritzsche verschwindet hinter einem Paravent an seinen Computer. Von dort aus überwacht er das Experiment. Dank einer zusätzlichen Videoaufzeichnung können die Daten auch im Nachhinein noch überprüft werden. Bevor der erste Ton eingespielt wird, ist die Kleine fasziniert von Mamas neuem Accessoire, das nun zusätzlich zu Mund und Nase auch die Augen verdeckt. Aber sobald die ersten Laute zu hören sind, verfolgt Mathilde aufmerksam den Bildschirm und lauscht. Der erste Teil des Experiments beginnt.

„Buk, buk, buk …“, ertönen abwechselnd unterschiedliche Frauen- und Männerstimmen. Zu hören ist immer dasselbe Wort und doch klingt es ganz verschieden. Dazu erscheint auf dem Monitor ein leuchtend roter Gegenstand. Vielleicht eine durchlöcherte Vase? Sie wird aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Die kleine Mathilde starrt gebannt darauf und beobachtet das ungewöhnliche „Fernsehprogramm“. Und plötzlich macht es: „Puk, puk, puk ...“ Nur ganz leicht weicht das neue Wort vom zuvor gehörten ab. Zu „Puk“ gehört auch ein neues Objekt, das verdächtig an einen grünen Donut mit bunten Würfel-Streuseln erinnert. Tom Fritzsche sieht Mathilde über die Kamera zu und lässt immer dann die gedrückte Taste los, wenn ihre Aufmerksamkeit nachlässt. Die Stimmen klingen mal hoch, mal kurz, dann langgezogen oder sonor. Für Mathildes Ohren und Gehirn Schwerstarbeit.

Kleinkindern fällt es besonders schwer, minimale lautliche Unterschiede herauszuhören. „Buk“ und „Puk“ ähneln sich bis auf den ersten Laut: Wer die Konsonanten b und p ausspricht, merkt aber, dass sich die Lippen eigentlich gleich bewegen. Sie unterscheiden sich nur in ihrer Stimmhaftigkeit, also darin, ab wann die Stimmbänder bei der Lauterzeugung mitschwingen. Dieser kniffligen Höraufgabe bedienen sich die Forschenden in diesem Experiment. „Im ersten Teil, Lernphase oder auch Habituierungsphase genannt, wird gemessen, wie lange die Kinder auf den Monitor schauen. Diese Phase wird gestoppt, wenn die Aufmerksamkeit der Kinder unter ein bestimmtes Niveau absinkt“, erklärt Barbara Höhle. Das Nachlassen zeige an, dass die Kinder den Zusammenhang zwischen Bild und Wort erfasst haben. Dieser Teil des Wortlernexperiments ist aber erst die Vorbereitung auf die anschließende zweite Phase.

„Puk, puk, puk …“ Nanu, jetzt erscheint der rote Gegenstand und nicht der „grüne Donut“ auf dem Bildschirm. Das ist seltsam! Mathilde schaut länger als zuvor auf das Objekt. Laborleiter Tom Fritzsche hält die Zeit per Knopfdruck fest. „Ob das Kind länger hinsieht, wird erst anhand der aufgezeichneten Zeiten ausgewertet“, erklärt er. „In normalen Testungen weiß ich nicht, was gerade gezeigt wird, und bin daher ebenso ‚blind‘ wie die Eltern.“ Bei diesem Testexperiment kann er sich jedoch sofort freuen: Mathilde hat genauso reagiert wie erhofft.

Wo vorher klar war, welches Objekt „Puk“ und welches „Buk“ „heißt“, zeigt Mathildes längere Aufmerksamkeitsspanne nun, dass die falsche Zuordnung sie irritiert. Und genau darauf wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinaus. Barbara Höhle erläutert: „Die zweite ist die Testphase: In einem Durchgang hört das Kind die gleiche Kombination von Bild und Wort, die es auch in der Lernphase gehört hat. Im folgenden Durchgang wird diese Kombination zerstört. Wir schauen so, was das Kind in der ersten Phase gelernt hat.“

„Mathilde hat super mitgemacht“, sagt Tom Fritzsche und zeigt ein zweites Experiment aus dieser Studie. Die kleinen Probanden bekommen abermals Fantasieobjekte zu sehen und hören wieder „Buk“ und „Puk“. Aber diesmal spricht nur eine weibliche Stimme die Worte. Das klingt nicht mehr so abwechslungsreich. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kinder hier nicht so lang hinsehen, wenn das „falsche“ Objekt mit dem Wort kombiniert wird.

„In dem Experiment mit nur einer Sprecherin ist es für die Kinder schwieriger, die feinen lautlichen Abweichungen auszumachen“, erklärt Barbara Höhle. Um die Laute b und p – stimmhaft und stimmlos – unterscheiden zu können, kommen drei Merkmale ins Spiel: Die Dauer vom Öffnen der Lippen bis zu jenem Zeitpunkt, ab dem die Stimmbänder schwingen. Aber auch die sogenannten Formanten, also konzentrierte, akustische Energie, die beim Sprechen von bestimmten Lauten auftritt, sind entscheidend. Menschen artikulieren Silben unterschiedlich und trotzdem kann jeder beim Hören ein B von einem P abgrenzen. Warum das so ist, haben die Forschenden in einem anderen Projekt herausgefunden: Wenn eines der Charakteristika von den üblichen Werten abweicht, wird es durch die anderen beiden ausgeglichen. „Im aktuellen Projekt sind wir an den Relationen zwischen den Merkmalen interessiert. Wir glauben, dass sie stabil sind“, so die Wissenschaftlerin. „Das ist für uns auch eine Erklärung, warum die Variabilität der Sprecherinnen und Sprecher hilft. Sie macht die Kinder auf die Merkmalrelationen aufmerksam.“ Kinder lernen also, die variable Aussprache hörend zu analysieren und trotz Abweichungen die Laute eindeutig voneinander zu unterscheiden. Die Experimente der Studie haben gezeigt, dass Mathilde und die übrigen Kinder sich die Kunstwörter besser gemerkt haben, wenn sie von unterschiedlichen Sprecherinnen und Sprechern vorgetragen wurden. Diese Erkenntnisse könnten irgendwann auch in der Sprachtherapie eingesetzt werden, kann sich Barbara Höhle vorstellen.

Zum Abschluss erklärt Tom Fritzsche noch einmal genau das Experiment. Die Erwachsenen regeln anschließend die notwendige Bürokratie: Mathildes Mama unterschreibt das Dokument für die Aufwandsentschädigung, die sie vom BabyLAB bekommt. Nachdem die kleine Testperson auf eigenes Verlangen hin auch mit einem Kuli auf einem leeren Blatt Papier „unterschrieben“ hat, gibt es noch ein Präsent. „Juniorprofessor“ steht Blau auf Weiß auf dem T-Shirt, das Mathilde für ihre Hilfe geschenkt bekommt. Tom Fritzsche bedankt sich damit für ihren Besuch. In der Zukunft einmal Juniorprofessorin für Spracherwerb werden? Wenn man das schon mit 14 Monaten wüsste ...

Das Projekt

Das Projekt „C03: Effekte von Variabilität im Input auf Wortlernen und Worterkennen bei Kleinkindern“ ist Teil des Sonderforschungsbereichs SFB1287 „Die Grenzen der Variabilität in der Sprache“.
Laufzeit: 2017–2025
Gefördert: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Beteiligt: Prof. Dr. Barbara Höhle, Prof. Dr. Adamantios Gafos, Dr. Alan Langus, Marc Hullebus

https://www.uni-potsdam.de/en/sfb1287/projects/cluster-c/project-c03

Die Forschenden

Prof. Dr. Barbara Höhle studierte Linguistik, Psychologie und Sozialwissenschaften an der Technischen Universität Berlin. Seit 2004 ist sie Professorin für Psycholinguistik an der Universität Potsdam. Im Januar 2021 hat sie das Amt der Vizepräsidentin für Forschung, wissenschaftliche Qualifizierungsphase und Chancengleichheit übernommen.
E-Mail: barbara.hoehleuni-potsdamde

Der gebürtige Este Dr. Alan Langus studierte Kognitionswissenschaften und Psychologie in Bremen und Amsterdam. Seit Juli 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department Linguistik an der Universität Potsdam.
E-Mail: alan.langusuni-potsdamde

Tom Fritzsche ist Laborkoordinator des BabyLAB auf dem Campus Golm.
E-Mail: tom.fritzscheuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).