Muss also die Erdgeschichte umgeschrieben werden? Begann das Anthropozän – das Erdzeitalter des Menschen – viel früher, als man bisher dachte? Für Michael Hofreiter nicht. „Es ist typisch anthropozentrisch, dass wir unsere eigene Erdepoche brauchen“, sagt er und lacht. „Ich halte es für gut möglich, dass es in fünf bis zehn Millionen Jahren auf der Erde kaum mehr Spuren menschlicher Existenz gibt.“ Sollte das Forschungsprojekt jedoch zeigen können, dass schon der Neandertaler seine Umwelt dauerhaft veränderte, sei das gleichwohl wissenschaftlich bemerkenswert: „Die bislang ältesten Anzeichen dafür, dass Menschen mithilfe von Feuer die Landschaft großflächig verändert haben, stammen aus Australien und sind rund 50.000 bis 60.000 Jahre alt“, erklärt der Biologe. „In der Neumark untersuchen wir jetzt Funde, die gut 120.000 Jahre alt sind.“
In Kooperation mit dem Archäologischen Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution in Neuwied (MONREPOS) und den Universitäten in Mainz und Leiden untersucht Hofreiter Spuren menschlichen Einflusses auf die Natur. Hat der Neandertaler die biologische Vielfalt der Tierund Pflanzenwelt verändert? Bislang ging man davon aus, dass die Menschen das Angesicht der Natur erst nachhaltig zu beeinflussen begannen, als sie sesshaft wurden und Wälder abholzten, Städte anlegten, Felder bewirtschafteten. Das AlterEco-Team ist anderer Ansicht: Die Forschenden schreiben in ihrer Projektskizze, „dass die Eingriffe des Menschen in die Landschaft eine viel größere zeitliche Tiefe haben und dass die prähistorischen Jäger und Sammler ihre Nischen bereits Zehntausende Jahre vor dem Aufkommen der Landwirtschaft mit erheblichen Auswirkungen auf die Ökosysteme veränderten“.
Ein einzigartiges Freilandlabor
Um das zu belegen, untersuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Spuren pflanzlichen und tierischen Lebens während des Eem, einer Warmzeit, die vor etwa 126.000 Jahren begann und rund 11.000 Jahre dauerte. Erhalten sind diese in einem ehemaligen Braunkohletagebau in Sachsen- Anhalt bei Halle/Saale. „Das Untersuchungsgebiet Neumark-Nord ist einzigartig“, sagt Michael Hofreiter. „Zum einen hat die besondere Geologie dafür gesorgt, dass die Überreste von Tieren, Pflanzen und die Spuren menschlicher Einflüsse sehr gut erhalten wurden. Über der Braunkohle befand sich lange eine Eisschicht. Dazu kamen sandige Sedimente, die der DNA, die wir untersuchen, weniger schaden als etwa saure Sedimente.“ Zudem habe erst die großflächige Öffnung des Areals durch den Tagebau jene Schichten freigelegt, in denen die prähistorischen Überreste mehr als hunderttausend Jahre überdauert haben, sodass die Forschenden sie heute untersuchen können. „Zu unserem Glück hat der Archäologe Dietrich Mania schon während des Braunkohleabbaus viele Funde gesichert.“ Die beiden Seebecken Neumark-Nord 1 und Neumark-Nord 2 (NN1 und NN2) werden inzwischen großflächig erschlossen – auf insgesamt fast 26 Hektar wurden bislang Zehntausende Pflanzen- und Tierreste gesichert. Darunter finden sich mehr als 200 Tierarten: von Käfern über Rotfedern und Hechte bis hin zu Hyänen, Nashörnern und Höhlenlöwen. Über 1.500 Skelettteile von rund 70 Europäischen Waldelefanten wurden allein in NN1 zusammengetragen. „Das waren riesige Tiere mit einer Schulterhöhe von bis zu vier Metern und einem Gewicht von 13 Tonnen“, sagt Hofreiter. Dazwischen immer wieder Spuren ihrer menschlichen Jäger: Feuersteinmesser, Werkzeuge zum Schaben und Holzkohlereste, die auf Feuer hinweisen. Knochen oder Skelette von Neandertalern selbst wurden jedoch nicht gefunden.
Das interdisziplinäre Forschungsteam hat sich vorgenommen, die Funde mithilfe verschiedenster neuer Methoden zu untersuchen: Der Geowissenschaftler Prof. Thomas Tütken von der Uni Mainz nimmt die Nahrungsnetze zwischen Pflanzen- und Fleischfressern in den Blick und bedient sich dafür der Analyse stabiler Isotope. Dabei werden die Knochenfunde etwa von Löwen, Bären und Wölfen sowie Hirschen, Nashörnern und Elefanten daraufhin untersucht, in welchem Umfang sich stabile Verbindungen von Kohlenstoff, Stickstoff und etlichen anderen Elementen in ihnen erhalten haben. Dies lässt Rückschlüsse darauf zu, wovon sich die Tiere ernährten, was wiederum die Rekonstruktion der Nahrungsnetzwerke ermöglicht.
Der Archäologe Prof. Wil Roebroeks von der Universität Leiden wird die vielen Brandspuren unter den Funden in Neumark-Nord analysieren. Haben Neandertaler Feuer eingesetzt, um beispielsweise das Gebiet, das lange vollständig von Wald bedeckt war, offen zu halten und so besser jagen zu können?
Prof. Sabine Gaudzinski-Windheuser und Dr. Lutz Kindler vom MONREPOS interessieren sich vor allem für die Fauna- und Elefantenfunde. „Alle Elefantenknochen, die ausgegraben wurden, haben Schnittspuren, was darauf schließen lässt, dass sie gejagt wurden“, erklärt Michael Hofreiter. Die zooarchäologische Analyse der von Menschen und Raubtieren verursachten Knochenveränderungen gibt beispielsweise Aufschluss über die Größe der Populationen, die in diesem Gebiet lebten.
Große Tiere, kleine Reste
Die großen Tiere haben es auch Michael Hofreiter angetan. Er schaut sich die Knochen von Auerochsen, Rot- und Damhirschen sowie Elefanten an. Fleischfresser bleiben dagegen außen vor: „Da sie in der Nahrungspyramide ganz oben stehen, haben wir für eine genetische Analyse von ihnen einfach nicht genug Funde“, erklärt der Biologe. Bei den Elefanten ist das anders. Proben von insgesamt 40 Tieren haben Hofreiter und sein Team bereits zusammengetragen. Eine Beprobung der Hirschknochen, die sich im MONREPOS nahe Frankfurt befinden, steht an. „Da heißt es dann: Kittel und Handschuhe an, Maske auf und ran an den Knochen – mit einem Dremel“, erklärt er. Natürlich eng abgestimmt mit den verantwortlichen Archäologen und Kuratierenden, damit die Knochen später noch ausgestellt werden können. Die am besten erhaltene alte DNA finde man erfahrungsgemäß in den dicken Knochen. Je besser die Probe, desto mehr Informationen könne man später im Labor daraus extrahieren. „Viel brauchen wir nicht“, so Hofreiter. „Für eine Extraktion reichen 50 Milligramm.“
Im Potsdamer Labor werden vorhandene DNA-Reste extrahiert und anschließend genauer untersucht – in großen Mengen. Next Generation Sequencing (NGS) heißt das Verfahren, das die Arbeit mit Erbgut revolutioniert hat. Im Labor von Hofreiters Forschungsgruppe steht ein schwarzer Kasten, der wie ein handelsüblicher Laserdrucker aussieht: ein kleiner Sequenzierer. Er schafft „nur“ rund 400 Millionen Sequenzen in einem Durchlauf. Allemal genug, um die Forscher wochenlang zu beschäftigen. Ihre Arbeit besteht vor allem darin, die Daten bioinformatisch auszuwerten. „Mit NGS können wir gewaltige Mengen DNA sequenzieren“, so Hofreiter. „Außerdem eignet sich die Methode sehr gut für alte DNA, da man mit ihr auch die oft nur sehr kurzen erhaltenen Abschnitte analysieren kann.“ Aus den einzelnen Analysen erstellen Hofreiter und sein Team eine DNA-Bibliothek, mit deren Hilfe sie die Tiere vergleichen können. „Für einen populationsgenetischen Vergleich brauchen wir von allen Individuen denselben DNA-Abschnitt“, erklärt er. Der Vergleich soll Antworten auf viele Fragen bringen: Welche Dynamik gab es bei den Populationen? Fand ein Austausch statt oder lebten sie „nebeneinander“? Ging die genetische Vielfalt zurück, weil die Tiere stark bejagt wurden? „Wenn wir genug genetisches Material finden, können wir für jede Art ein Genom erstellen“, sagt Hofreiter. „Dann wären wir in der Lage, die langfristige Populationsdynamik auszurechnen – also wie groß die Populationen zu welchen Zeiten waren.“
Am Ende sollen die Ergebnisse aller Teilprojekte zusammengeführt werden. Dafür setzen die Forschenden eine Software ein, mit der in der Naturschutzbiologie Simulationen zur Populationslebensfähigkeit durchgeführt werden. „Wenn wir die Daten ‚zusammenschmeißen‘, wird sich zeigen, wie groß der Einfluss des Neandertalers auf seine Umgebung wirklich war“, sagt der Biologe. „Vielleicht hat er trotz intensiver Jagd und landschaftlicher Veränderung gar keine so große Rolle gespielt. Möglicherweise aber doch.“ Die Hoffnung ist, dass „AlterEco“ erkennen lässt, wie lange Menschen schon in die Welt eingreifen und sie dauerhaft verändern. Klar dürfte aber schon jetzt sein, dass der Neandertaler einen weit kleineren ökologischen Fußabdruck zu verantworten hatte als wir heute.
Das Projekt
AlterEco – Understanding the Anthropocene: human alternation of ecosystems in our deep history
Beteiligt: Prof. Dr. Sabine Gaudzinski-Windheuser & Dr. Lutz Kindler (Archäologisches Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution in Neuwied (MONREPOS), Leitung); Prof. Dr. Michael Hofreiter (Uni Potsdam), Prof. Dr. Thomas Tütken (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), Prof. Dr. Wil Roebroeks (Universität Leiden)
Förderung: Leibniz-Gemeinschaft
Zeitraum: 04/2021–12/2023
Der Forscher
Prof. Dr. Michael Hofreiter studierte Biologie in München. Seit 2013 ist er Professor für Allgemeine Zoologie/ Evolutionäre adaptive Genomik an der Universität Potsdam.
E-Mail: michael.hofreiteruuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).