Zum Hauptinhalt springen

Chronisch krank – Wie kommt man damit durch die Corona-Pandemie?

Prof. Dr. Petra Warschburger im Interview
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Petra Warschburger im Interview

Stell dir vor, du bist krank, schon dein Leben lang. Und dann kommt Corona. Während alle von vulnerablen Gruppen sprechen, gehörst du dazu. Was macht das mit dir? Wie schützt du dich? Wie lebst du mit der Gefahr, die für dich um einiges größer ist als für die meisten anderen? Petra Warschburger wollte es wissen. Die Beratungspsychologin forscht schon lange zu Kindern und Jugendlichen, die mit chronischen Erkrankungen leben. Dabei interessiert sie sich vor allem dafür, was ihnen besonders zu schaffen macht. Oder, ob sie ganz eigene Wege finden, mit der dauerhaften Belastung fertig zu werden, die ihre Erkrankung ihnen auferlegt. Corona könnte für sie zum Brennglas geworden sein, das diese Belastung verstärkt hat. Möglich aber auch, dass sie die ständige Bedrohung durch ein unbekanntes Virus besser wegstecken als viele andere, die noch nicht erfahren haben, wie es ist, wenn eine Krankheit ihren Alltag bestimmt. Petra Warschburger hat gemeinsam mit anderen Forschenden und Akteuren aus der klinischen Praxis ein DFG-Projekt auf den Weg gebracht, das untersucht, wie Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen und ihre Familien durch die Pandemie kommen. Denn Rettungsschirme, Sonderprogramme und Corona-Bonus gab es für sie nicht.

Im Frühjahr 2020 stand das Leben in Deutschland plötzlich still. In Ermangelung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus zogen Menschen erst Masken auf, dann ins Homeoffice. Kitas und Schulen wurden geschlossen. Auch Kultureinrichtungen und Sportvereine machten dicht, sogar medizinische Angebote wurden auf das Notwendigste reduziert, Ambulanzen geschlossen, verschiebbare Operationen und Termine abgesagt. Zum Problem wurde dies vor allem für jene, die regelmäßige Betreuung oder Kontrolluntersuchungen brauchen. „In unserem Forschungskonsortium gibt es zahlreiche Medizinerinnen und Mediziner, die täglich Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen versorgen“, sagt Petra Warschburger. „Sie haben in dieser Zeit erkannt, dass die Versorgung ihrer Patienten gefährdet war.“ Sie reagierten: richteten Telefon- und Videosprechstunden ein, sorgten, wo nötig, für Notfallbetreuung. Und sie starteten gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Forschung ein Projekt, das diese außergewöhnlichen Umstände wissenschaftlich analysieren und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen soll.

Verstärkt die Pandemie psychische Belastungen?

„Wir wollten uns genauer anschauen, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie und alles, was sie mitgebracht hat, auf die Kinder mit chronischen Erkrankungen haben“, erklärt Warschburger. Tatsächlich hätten solche Menschen ein erhöhtes Risiko für schwerere Covid19-Verläufe. „Es liegt nahe, dass es schwer sein könnte, diese zusätzliche Gefahr, diesen weiteren Stressor, wegzustecken, und sich dies auf die Psyche und das Wohlbefinden niederschlägt“, so die Forscherin. Ob das wirklich so ist, soll eine Vergleichsstudie zeigen, bei der Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen sowie ihre Eltern befragt werden – dazu, wie gut ihre medizinische Versorgung in der Ausnahmesituation funktioniert, wie sie selbst das Risiko für eine Coronavirus-Infektion wahrnehmen und wie das ihr Wohlbefinden beeinflusst. „Natürlich waren alle von den Belastungen betroffen, die die Corona- Pandemie verursacht hat“, sagt Petra Warschburger. „Aber wir wissen, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen eine besonders sensible Gruppe bilden.“ Da liege der Gedanke nahe, dass die Pandemie für sie verstärkend wirkt – nicht nur bezogen auf ihre Erkrankung, sondern auch die belastenden Begleitumstände, die ihr Wohlbefinden zusätzlich beeinträchtigen.

Die Studie bezieht Gruppen mit verschiedenen Krankheiten ein: Adipositas, Diabetes und Rheuma. „Wir wollen nicht nur innerhalb einer großen Gruppe schauen, wer wie zurechtkommt oder eben nicht, sondern zwischen den Störungsbildern Vergleiche ziehen.“ Sehen Menschen mit unterschiedlichen chronischen Erkrankungen Risiken und Beeinträchtigungen ähnlich oder nicht? Ist die Versorgung unterschiedlich? Gibt es verschiedene Strategien, mit der Pandemie umzugehen?

Um diese Fragen zu beantworten, haben die Akteure des Forschungskonsortiums eine groß angelegte Befragung gestartet. Von Vorteil ist, dass zum Netzwerk zahlreiche Versorgungszentren für Menschen mit chronischen Krankheiten gehören: Insgesamt über 200.000 Menschen sind in den drei dazugehörigen Patientenregistern erfasst. Über diese können die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern für die Studie gewonnen werden. „Die Einladung erfolgt ganz niedrigschwellig bei den Kontrollterminen – mit einigen wenigen zusätzlichen Fragen, die wir den normalen Erhebungen hinzufügen konnten“, so die Psychologin. Wie schätzen die Kinder und Jugendlichen ihr eigenes Risiko für eine Corona-Infektion ein? Wie ist ihre Versorgungssituation? Gibt es Hospitalisierungen, Fehltage in der Schule und ausgefallene Sprechstunden? Wie sieht es mit Videosprechstunden und Ersatzangeboten aus? Abschließend werden alle zu einer vertiefenden Befragung eingeladen. Interviews mit rund 400 Betroffenen und ihren Familien seien das Ziel, so Warschburger. Dabei beantworten Eltern und Kinder jeweils eigene Fragen: Wie stark leidet das Familienleben unter den Einschränkungen? Wie verändert sich ihre Beziehung zu Eltern, Freunden und ihrem Umfeld? Stress, Verhaltensauffälligkeiten, Einsamkeit oder ein sich möglicherweise verändernder Umgang mit der chronischen Erkrankung – all das spielt eine Rolle. Besonders interessiert sind die Forschenden aber daran, welche Mechanismen die Kinder und Jugendlichen im Umgang mit der Corona-Pandemie entwickeln oder aber schon einsetzen können. „Aus früheren Studien unseres Netzwerks wissen wir, dass Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen besondere Ressourcen haben oder entwickeln, die ihnen den Umgang mit der Krankheit, aber auch anderen Problemen erleichtern“, sagt die Psychologin. Zu diesen „heilsamen“ Ressourcen zählen etwa Optimismus, Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung, schwierige Situationen meistern zu können, soziale Ressourcen wie ein stützendes Umfeld, das Erleben von Sinnhaftigkeit, Empathie und Selbstwert.

Sehen chronisch Kranke ihre Risiken realistischer?

Während die umfassenden Befragungen noch in vollem Gange sind, werden aktuell die ersten rund 1.500 Datensätze der Kurzbefragung ausgewertet. Dank der Patientenregister könnten die während der Pandemie gesammelten Informationen mit älteren Datensätzen der Befragten verglichen werden. So sind Veränderungen nicht nur ihrer chronischen Erkrankung genau erkennbar. Offensichtlich wird auch, wie es um ihr psychisches Wohlbefinden steht – und welche Rolle Corona dabei spielt. Schon jetzt zeigt sich: Die Kinder und Jugendlichen, die mit einer chronischen Erkrankung leben, sind realistischer als andere. „Was ihnen ‚fehlt‘, ist der sogenannte optimistische Bias“, erklärt Petra Warschburger. Die meisten Menschen neigten dazu, etwa das eigene Risiko für eine Coronavirus- Infektion niedriger einzuschätzen als das anderer Personen. Menschen mit chronischen Erkrankungen „passiere“ das nicht so schnell. „Sie gehen da realistischer ran, erfahrener.“ Untersuchungen zur psychischen Belastung von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie hätten gezeigt, dass Stressoren wie Ängstlichkeit, Depressivität oder das Gefühl von Isolation zugenommen haben. Dieser Anstieg falle – das zeigen die ersten Auswertungen – bei jenen mit chronischen Erkrankungen indes nicht so hoch aus. Freilich seien sie schon vor der Pandemie stärker psychosozial belastet gewesen als ihre Altersgenossen ohne chronische Erkrankungen.

Wichtig sind für die Forschenden um Petra Warschburger aber nicht nur absolute Zahlen oder Tendenzen. „Es wird Familien geben, die enger zusammengerückt sind, andere ächzen unter der zusätzlichen Belastung“, sagt sie. „Wir wollen möglichst viel darüber erfahren, was ihnen besonders zugesetzt oder aber geholfen hat.“ Aufschluss sollen hier die vertiefenden Befragungen geben, die nach rund einem Jahr auch wiederholt werden, um die langfristige Entwicklung zu verfolgen. Wenn sich etwa zeige, dass vor allem die Schulschließungen die Kinder und Jugendlichen belastet haben, sollten derartige Maßnahmen künftig erst dann in Erwägung gezogen werden, wenn nichts anderes mehr geht. Erwiesen sich die improvisierten Videosprechstunden als hilfreiches Instrument, könne dergleichen möglicherweise in der medizinischen Versorgung etabliert werden. „Wir hoffen, dass wir am Ende nicht nur viel mehr darüber wissen, wie die Ausnahmesituation der Pandemie sich auf die Kinder und Jugendlichen ausgewirkt hat“, sagt Petra Warschburger. „Wir wollen auch verschiedene Hinweise sammeln, mit denen wir auf lange Sicht ihre Betreuung und Behandlung verbessern können.“

Das Projekt

Eine prospektive Analyse der langfristigen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Wohlbefinden und die Gesundheitsversorgung von Kindern mit chronischen Erkrankungen, die mit erhöhtem Risiko für schwere COVID-19 Verläufe einhergehen, und ihren Familien

Beteiligt: Universität Potsdam, Universität Ulm, Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin,
Universitätsklinikum Gießen, Charité Universitätsmedizin Berlin
Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Laufzeit: 05/2021–04/2024

www.kick-covid.de

Die Forscherin

Prof. Dr. Petra Warschburger studierte Psychologie an der Universität Trier. Seit 2003 ist sie Professorin für Beratungspsychologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: petra.warschburgeruni-potsdamde

Teilnehmende gesucht

Wollen auch Sie Ihre Erfahrungen mitteilen und an der Studie teilnehmen? Mitmachen können alle Eltern mit einem Kind bis 21 Jahre, unabhängig davon, ob ihr Kind eine chronische Erkrankung hat oder nicht.

https://umfragenup.uni-potsdam.de/kick-covid-gesund

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).