„Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 war vielfach die These vertreten worden: ‚Jetzt wird die Welt neu geordnet‘“, erklärt Andreas Zimmermann. „Bestehende Strukturen der Völkerrechtsordnung verdichteten sich, neue kamen hinzu.“ Es schien, als habe sich das Völkerrecht von einer formalen und tendenziell eher wertneutralen Ordnung zunehmend hin zu einer wertgebundenen und am Menschen ausgerichteten Ordnung entwickelt. Doch seit einiger Zeit zeigen sich Entwicklungen, die das Paradigma einer wertgebundenen Verrechtlichung auf globaler Ebene infrage stellen. Großbritannien kehrt der Europäischen Union den Rücken, Polen erklärt Teile des EU-Rechts für unvereinbar mit seiner eigenen Verfassung, Russland annektierte die Krim und die USA wollten – unter Donald Trump – aus der Weltgesundheitsorganisation austreten, während China einen Schiedsspruch zu den Seegrenzen im Südchinesischen Meer ignoriert. Dazu gehört aber auch, dass Versuche von Staaten, drängende globale Aufgaben mittels völkerrechtlicher Rechtssetzung anzugehen, immer wieder auf Schwierigkeiten stoßen, so etwa zu Fragen des Klimaschutzes oder im Welthandelssystem. Es mehrten sich die Stimmen, die eine „Stagnation oder gar Regression des Völkerrechts“ und eine „Rückkehr der Geopolitik“ vorhersagten, erklärt Zimmermann. Sind dies die unübersehbaren Zeichen dafür, dass die beschworene Völkerrechtsordnung wieder auseinanderfällt? Oder belegen sie, dass sich das System im Kielwasser des globalen politischen Klimas Schritt für Schritt wandelt? Diese Fragen versucht das Kolleg zu beantworten – wobei schon klar ist, dass mit einer Antwort im Schwarz-Weiß-Stil, wie ihn der pointierte Titel des Kollegs vermuten lässt, nicht zu rechnen ist. „Es ist nicht so, dass sich vor unseren Augen eine Ordnung auflöst“, sagt Andrea Liese. Vielmehr würden immer wieder verschiedene Institutionen, Werte oder Strukturen von unterschiedlichsten Akteuren infrage gestellt. „Uns interessiert, welche Folgen das hat, wenn sich die Werte, Strukturen und Institutionen rund um das Völkerrecht verändern. Sind es Gefahren oder birgt dies sogar neue Chancen? Und was bedeuten sie für die Weltordnung?“
Werte, Strukturen und Institutionen
Die Forschenden nähern sich dem Völkerrecht aus der Perspektive verschiedener Disziplinen und mit Blick auf drei Sphären, erklärt Andrea Liese. So untersuchen sie, ob anerkannte Grundwerte und Prinzipien der Völkerrechtsordnung, die bislang jedenfalls im Grundsatz von allen Staaten geteilt werden, in einer Reinterpretation ausgehöhlt werden. Dazu gehören die Wahrung des Friedens und der Sicherheit, der Schutz grundlegender Menschenrechte, der Schutz der Umwelt oder das Gewaltverbot. So seien etwa, wie Andreas Zimmermann erklärt, China und Russland schon seit Längerem darum bemüht, traditionelle Werte – wie den Schutz der Familie oder der Religion – gegenüber klassischen Freiheitsrechten zu stärken. Warum werden Menschenrechte häufiger zur Diskussion gestellt als Umweltschutzfragen? Wieso sind Frauenrechte und Religionsfreiheit umstrittener als Wirtschaftsrechte?
Daneben betrachtet die Gruppe den Wandel internationaler Strukturen völkerrechtlicher Ausprägung. So gebe es, wie Zimmermann erklärt, anders als noch vor einigen Jahren inzwischen weniger „harte normative Ordnungen und dafür mehr informelle Absprachen zwischen einzelnen Staaten. Wir wollen klären, ob dieses Vorgehen das Völkerrecht und seine vertraglichen Instrumente infrage stellt.“ Der Jurist selbst untersucht, wie sich die Genfer Flüchtlingskonvention als internationales Rechtsinstrument zur Behandlung Geflüchteter entwickelt – und ob es den Anforderungen gewachsen ist, die Globalisierung und Klimawandel mit sich bringen. „Entstanden ist die Konvention 1951 mit Fokus auf Personen, die vor staatlicher Verfolgung fliehen“, erklärt Andreas Zimmermann. 70 Jahre später fliehen Menschen überall auf der Welt vor Hunger, wirtschaftlichen Missständen, der Verfolgung als Mitglied der LGBTQIA+-Gemeinde und dem Klimawandel. „Die neuen Bedingungen zeigen: Die Konvention hat Lücken. Wie werden diese ausgenutzt, gefüllt oder geschlossen?“
Des Weiteren untersuchen die Forschenden die Entwicklung und den Stand des Völkerrechts anhand „seiner“ Institutionen, so etwa dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die wachsende Zahl internationaler Organisationen und Gerichte und deren ausgreifende Praxis seien häufig als ein Beleg für einen Reifungsprozess des Völkerrechts interpretiert worden, erklärt Andreas Zimmermann. Doch es gebe eben auch Anzeichen dafür, dass sich Staaten von dieser Art gerichtlicher Streitbeilegung abwenden. Während das früher eher die deutliche Ausnahme gewesen sei, gebe es inzwischen immer mehr Akteure, die eine Gerichtsbarkeit nicht anerkennen, der sie formal eigentlich unterworfen sind. So ist etwa die Russische Föderation zum Prozess vor dem Internationalen Seegerichtshof über die Festsetzung des Greenpeace-Schiffs ‚Arctic Sunrise‘ 2013 einfach nicht erschienen. Gleiches gilt für China in einem Streitfall mit den Philippinen über Hoheitsrechte im Südchinesischen Meer. „Man hat immer gesagt: Die internationale Gerichtsbarkeit bildet den Schlussstein des Völkerrechts. Und nun scheint dieser Schlussstein an verschiedenen Stellen wegzubrechen.“ Andrea Liese wiederum beschäftigt sich u.a. mit den thematischen Mandaten des UN-Menschenrechtsrats. Dabei werden sogenannte Sonderberichterstatterinnen und -erstatter ernannt, die zu bestimmten Themen – etwa dem Recht auf Nahrung, dem Folterverbot oder den Rechten intern Vertriebener – Beschwerden nachgehen, in einzelnen Ländern vor Ort Tatsachen ermitteln, über diese öffentlich berichten und Regierungen beraten. „Es geht um die Frage, ob sich die Arbeit dieser Sonderberichterstatter im Laufe der Zeit verändert hat: Sind sie wirklich unabhängig und unvoreingenommen? Beobachten sie einige Staaten genauer als andere? Und wie akzeptiert sind sie vor Ort?“
Erosion völkerrechtlicher Strukturen
Der Eindruck vom Wandel des Völkerrechts fällt – sechs Jahre nach Gründung des Kollegs – gemischt aus. Einerseits, sagt Andreas Zimmermann, seien autokratische und populistische Regime auf dem Vormarsch, würden verschiedene Kräfte bestehende Werteordnungen oder Institutionen und ihre Legitimität infrage stellen. „Ich sehe durchaus einen andauernden Erosionsprozess völkerrechtlicher Strukturen“, so der Jurist. „Gleichzeitig entstehen neue Allianzen, die den Schutz dieser Werten vorantreiben, Institutionen verteidigen und stärken oder Strukturen neu ausfüllen“, ergänzt Andrea Liese. So sei es keinesfalls ausgemacht, dass die WHO durch die Politisierung der USA zerbreche, möglicherweise gehe sie gestärkt aus dieser Krise hervor. „Im Kolleg schauen wir darauf, wie sich diese Veränderungen auf die Ordnung auswirken.“
Die seit 2015 bestehende Forschungsgruppe will diese Entwicklungen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Neben der Mitarbeit von Fellows sei es enorm wertvoll, dass zum Kolleg Forschende aus vielen Ländern gehören, darunter Indien, den Philippinen, China oder den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Außerdem bringen „Practitioners in Residence“, also Experten aus der Praxis, ihre Erfahrungen ein. „Es ist ein Begegnungsraum, der uns vernetzt und sensibilisiert für die Veränderungen im Völkerrecht“, so Andrea Liese. Während die einen als (Post)Doktorandinnen und -doktoranden über mehrere Jahre einer wissenschaftlichen Frage nachgehen, widmen sich Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler für einige Monate einer speziellen Forschungsfrage. Andere stoßen als Gäste hinzu und berichten in einem Vortrag von ihrer Arbeit – wie zuletzt ein polnischer Kollege, der am Prozess über EU-Recht vor dem polnischen Verfassungsgericht beteiligt war.
Vor allem aber bringt die KFG Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen an einen Tisch – wie den Juristen Andreas Zimmermann und die Politikwissenschaftlerin Andrea Liese. Gemeinsam werden gegenwärtige Entwicklungen in den internationalen Beziehungen nicht nur aus unterschiedlichen völkerrechtlichen, sondern zugleich politikwissenschaftlichen und möglichst auch historischen Perspektiven beleuchtet. „Um zu prüfen, ob das Völkerrecht effektiv ist, müssen wir natürlich auch eine Art ‚Realitätscheck‘ durchführen“, sagt Zimmermann. „Das kann die Politikwissenschaft weit besser als wir, da unser Blick doch eher normativ ist.“ Tatsächlich spüre die Politikwissenschaft den politischen Veränderungen rund um das Völkerrecht anders nach, bestätigt Andrea Liese. „Wir sind häufig schon eine Stufe vorher alarmiert, lange bevor sich das Recht ändert. Es ist noch intakt, operiert aber in einem anderen Umfeld als bisher.“ Der Austausch zu den Veränderungen in verschiedenen Sphären befruchtet die Arbeit aller Beteiligten. Allein in der kollegeigenen Reihe von Working Papers wurden schon rund 50 Schriften veröffentlicht. Dazu kommen immer wieder Buchveröffentlichungen, oft fächerübergreifend. So erscheint 2022 ein gemeinsames Buch von Andrea Liese und der Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Heike Krieger von der FU Berlin dazu, wie sich völkerrechtliche Normen verändern, wenn sie immer wieder infrage gestellt oder umgangen werden.
Das Konzept geht auf, betont Andreas Zimmermann. „International schaut man inzwischen anders auf die völkerrechtliche Sphäre. Wir haben eine Forschungsagenda etabliert, die nachwirken wird.“ Als die Gruppe ihre Arbeit aufnahm, sei die kritische Frage nach den Entwicklungen des Völkerrechts mancherorts noch nicht wirklich ernst genommen worden. Das sei nun anders – und habe nicht unerheblich dazu beigetragen, dass das Projekt mittlerweile in einer zweiten Förderphase von der DFG finanziell unterstützt wird.
Das Projekt
Kolleg-Forschungsgruppe „The International Rule of Law – Rise or Decline? – Zur Rolle des Völkerrechts im globalen Wandel“
Beteiligt: Prof. Dr. Andrea Liese und Prof. Dr. Andreas Zimmermann (beide Universität Potsdam); Prof. Dr. Andrew Hurrell (Humboldt-Universität zu Berlin/ Oxford University), Prof. Dr. Heike Krieger (Freie Universität Berlin)
Finanzierung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Laufzeit: 2015–2023
Die Forschenden
Prof. Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard) studierte Rechtswissenschaften an der Universität Tübingen, der Université de Droitd'Économie et des Sciences d'Aix-Marseille III sowie an der Harvard Law School. Seit2009 ist er Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Staatsrecht, Europarecht und Völkerrecht sowie Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam.
E-Mail: schilleruuni-potsdampde
Prof. Dr. Andrea Liese studierte Politikwissenschaft, Rechtswissenschaften, Soziologie und Germanistik in Frankfurt am Main. Seit 2010 ist sie an der Universität Potsdam und vertritt dort den Bereich der Internationalen Beziehungen. E-Mail: andrea.lieseuuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2022 „Zusammen“.