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Daten statt Ideologie – Der Sozialwissenschaftler Jasper Tjaden forscht zu Migration und Integration

Prof. Dr. Jasper Tjaden
Sprachkurs mit Geflüchteten
Foto : Sandra Scholz
Prof. Dr. Jasper Tjaden
Foto : AdobeStock/Frank-Gärtner
Sprachkurs mit Geflüchteten

„Ich habe großes Glück, in meiner Heimatregion eine Professur bekommen zu haben“, sagt der Berliner Jasper Tjaden. „Ich kannte die Uni Potsdam vorher nicht besonders gut, aber es ist einfach schön hier: Es ist grün, man hat Gewässer vor der Tür und es gibt viele Kolleginnen und Kollegen mit sehr interessanten Themen.“ Der Sozialwissenschaftler möchte an der Universität Potsdam die Migrations- und Integrationsforschung ausbauen und ein ansprechendes Lehrangebot für Studierende schaffen.

Seit 2021 ist Jasper Tjaden Professor für angewandte Sozialforschung und Public Policy an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Mit seiner Forschung zu Integrations- und Migrationsprozessen erregte der Sozialwissenschaftler bereits viel Aufsehen. So hatte er in einer Studie mit dem Ökonomen Tobias Heidland von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel den Effekt von Grenzöffnungen auf langfristige Zuwanderungsmuster untersucht. Führte Angela Merkels Entscheidung 2015, die Grenzen offen zu halten, dazu, dass langfristig mehr Menschen nach Deutschland kamen? Diese These war in der Öffentlichkeit immer wieder zu hören gewesen. „Weil die Bundestagswahlen und das Ende der Ära Merkel bevorstanden, wollten wir diese These überprüfen“, erklärt Tjaden. Die Wissenschaftler werteten dafür Daten aus den Jahren 2010 bis 2020 aus. Grundlage der Studie waren Asylanträge vor und nach 2015; außerdem waren weltweit Menschen befragt worden, ob sie vorhätten, nach Deutschland zu migrieren. Zuletzt sahen sich die Wissenschaftler Google-Suchanfragen an: Wurde „Deutschland“ in Verbindung mit „Visa“ häufig gesucht?

„Long story short“, fasst der Sozialwissenschaftler zusammen: „Wir haben nirgends Beweise für eine solche Sogwirkung gefunden.“ Vielmehr war schon 2011/12 ein rapider Anstieg zu verzeichnen gewesen, also ein paar Jahre vor der sogenannten Flüchtlingskrise. Nach 2015 sank das Interesse an einer Migration nach Deutschland schnell ab. Ursache der größeren Zahl von Flüchtlingen 2011/12 war vor allem der Bürgerkrieg in Syrien. „Der wütete ja schon viel länger, aber viele Menschen waren zunächst in die Nachbarländer geflohen.“ In den Aufnahmelagern dort hatten sich die Zustände stark verschlechtert, es gab zu wenig Lebensmittel und eine mangelhafte Gesundheitsversorgung. „Ärzte ohne Grenzen“ schlug Alarm und warnte, dass sich die Leute auf den Weg machen würden, wenn sich die Situation nicht verbessern würde. Gleichzeitig hatte sich der Konflikt in Syrien intensiviert, das Bombardement zugenommen. Die zweitgrößte Gruppe von Migrantinnen und Migranten kam damals aus dem Irak und Afghanistan, wo seit Jahrzehnten bewaffnete Konflikte herrschen. „Für den Großteil der Menschen, die Asyl beantragt haben, waren diese Bedingungen der treibende Grund – nicht Merkels Entscheidung, die Grenzen offen zu halten“, so der Sozialwissenschaftler. Die damalige Bundeskanzlerin hatte mit ihrer Aussage „Wir schaffen das!“ also keine Massenwanderung ausgelöst. Vielmehr hatte die Entwicklung zum Zeitpunkt der Äußerung ihren Höhepunkt bereits erreicht.

Ein brisantes Forschungsfeld

Das Medienecho auf die Untersuchung war groß. Die Studienergebnisse wurden im Spiegel, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Tagesspiegel, im Fokus und im ZDF vorgestellt. „Das hat uns gefreut, aber es war auch eine Herausforderung“, erzählt Jasper Tjaden. Der Wissenschaftler bekam nicht nur Medienanfragen, sondern auch viele E-Mails von Bürgerinnen und Bürgern, und zwar „von links bis rechts. Es gab sehr interessierte aber ebenso sehr, sehr kritische Rückmeldungen“, so Tjaden. Er ist sich der Brisanz und der politischen Relevanz des Themas bewusst. Die Migrations- und Integrationsforschung interessiere ihn, weil das Thema hohe gesellschaftliche Relevanz habe, aber gleichzeitig viele Fragen ungeklärt seien und das Wissen über Migration in vielen Debatten gering sei. „Daher wird es sehr schnell ideologisch, in Medien, Politik und im Alltag. Der Anspruch an die Kommunikation von Forschungsergebnissen ist dadurch aber viel höher – wir müssen mit Bedacht berichten.“ Und damit ist Tjaden nicht ganz unerfahren. Der Sozialwissenschaftler arbeitete bis zu seiner Berufung in Potsdam für das Global Migration Data Analysis Centre (GMDAC) der Internationalen Organisation für Migration (IOM), einer Einrichtung der Vereinten Nationen. „Dort habe ich wissenschaftliche Politikberatung gemacht. Wir waren ständig in Kontakt mit Ministerien und der Presse.“ Zuvor hatte er für die Weltbank und für die Migration Policy Group gearbeitet.

Warum er sich von seiner Arbeit bei einer NGO getrennt hat, um an die Universität Potsdam zu kommen? „Um mehr Zeit für Forschung zu haben“, sagt der Professor. Zwar hatte er bei der UN einen „interessanten Job“. „Ich habe dort viel gelernt, bin häufig gereist und habe in einem tollen Team gearbeitet. Aber es kamen für mich immer wieder grundlegende Fragen auf, denen ich nicht nachgehen konnte.“ Im Alltag einer Nichtregierungsorganisation gibt es wenig Zeit für Forschung, da die Projekte sehr kurze Laufzeiten haben. So müssen ständig Berichte für Ministerien geschrieben werden, es herrscht ein hoher Druck. „Das elektrifiziert auch, allerdings hieß das, dass ich die wissenschaftlichen Papiere am Abend oder am Wochenende schreiben musste.“ Doch noch etwas hat Tjaden an die Universität gezogen: „Lehre macht mir echt Spaß.“ Und nicht nur ihm: Seine Seminare zu Migration oder zur Evaluation politischer Maßnahmen sind bei den Studierenden bereits stark nachgefragt.

Neue Medien nutzen, um Wanderungen vorherzusagen

Tjaden möchte einen Beitrag leisten, um die empirischen Lücken in der Migrationsforschung zu schließen. „Eines unserer Probleme ist, dass wir zu wenig Daten haben“, sagt der Wissenschaftler. Zwar habe sich die Datenlage zur Integration von Geflüchteten in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren stark verbessert. Beim Thema Migration könne die Wissenschaft aber nur mit den amtlichen Einreisedaten arbeiten. „Wir wissen wenig darüber, warum, wann und unter welchen Umständen Menschen migrieren. Wir haben zu wenig Informationen aus den Herkunftsländern.“ Bessere Datenquellen sind meist auf OECD-Länder beschränkt. Aus großen Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wisse man wenig.

Digitale Daten stehen deswegen im Fokus von Tjadens Forschung. Der Wissenschaftler glaubt, dass soziale Medien helfen können, Vorhersagen über Wanderungen zu treffen. Bisher können diese nämlich nur nachträglich bemessen werden. „Vorhersagen sind seit 2015 besonders wichtig geworden. Denn die Migrationsbewegung kam damals trotz der Vorzeichen für viele sehr überraschend.“ So stelle Facebook Daten bereit, um Freundschaftsnetzwerke zu analysieren, zum Beispiel: Wie viele Leute in Ghana haben Freunde in Argentinien? Für jedes Länderpaar kann man die Dichte an Freundschaftsbeziehungen ermitteln – und diese korreliert interessanterweise mit internationalen Wanderungsbewegungen. So könne man Veränderungen in Freundschaftsnetzwerken nutzen, um Migration vorherzusagen. Neben Facebook hat sich Tjaden sieben weitere Datenquellen angeguckt, darunter LinkedIn, den Mobilfunk und Satellitenaufzeichnungen. Möglich sei auch, anhand der Flugdaten zwischen zwei Ländern zu prüfen, ob mehr Passagiere aus- als einreisen.

Um mehr über Auswanderungspläne in den Herkunftsländern zu erfahren, hat Tjaden Menschen in Westafrika befragt: „Wir waren mit einem Team vor Ort und haben mit Unterstützung eines Umfrageinstituts Daten von über 8.000 Menschen im Senegal sowie 3.500 in Guinea erhoben.“ Der Sozialwissenschaftler wollte in einem Methodenprojekt herausfinden, ob der Instant-Messaging-Dienst WhatsApp Potenzial für die Befragung (potenzieller) Migrantinnen und Migranten bietet. Denn grundlegendes Problem zur Erforschung von Migration ist den Kontakt zu halten, um zu erfassen, ob die Befragten tatsächlich migriert sind oder nicht. Vorteil von WhatsApp: Es ist sehr günstig und in manchen Ländern sehr beliebt – besonders die Sprachnachrichten. Ein Jahr nach der letzten Befragung rief das Team die eine Hälfte der Interviewpartner an, die andere Hälfte kontaktierte es per WhatsApp-Sprachnachricht. Die Teilnahmewahrscheinlichkeit war zwar nicht viel höher – dennoch bleibe der methodische Vorteil, dass die App viel günstiger ist als der Mobilfunk.

Investitionen in Zuwanderinnen und Zuwanderer zahlen sich aus

Was die künftige Regierung nun in Sachen Integration besser machen muss? „Deutschland ist ein Nachzügler in Sachen Integration, hat lange abgestritten, Einwanderungsland zu sein“, sagt Tjaden. „Mit den Gastarbeitern gab es riesige Versäumnisse in der Integrationspolitik, manche von ihnen sind vielleicht nie angekommen.“

Nun gehe es auch darum, den Kindern der neuen Generation von Zugewanderten gute Bildungs- und Berufschancen zu ermöglichen. „In den vergangenen 20 Jahren hat sich glücklicherweise viel getan“, sagt Tjaden. Besonders 2015, als die Zahl der Zuwanderer in Deutschland auf dem Höhepunkt war, wurden schnell viele Veränderungen eingeführt: Der Zugang zu Integrationskursen wurde erleichtert und mehr Menschen erhielten schneller einen sicheren Aufenthaltsstatus, noch bevor ihr Asylbescheid bewilligt wurde – um sie unkomplizierter in den Arbeitsmarkt einzubinden. „Eine gute Maßnahme“, findet Tjaden. „Und ein riesiger behördlicher Kraftakt.“

Trotzdem ist der Sozialwissenschaftler immer wieder verblüfft, wie wenig für Integration aufgewendet wird. „Obwohl es sich lohnen würde, viel mehr zu investieren!“ Sprachkurse seien dabei ein wichtiger Punkt. Zu erwarten, dass Leute mit wenig Bildung nach 600 Stunden Deutschunterricht ein Umgangssprachniveau erreichen, sei unangemessen. Die Kurse hätten zwar positive Effekte, müssten jedoch an unterschiedliche Zielgruppen angepasst sein: an Eltern, Frauen oder bestimmte Berufsgruppen. „Je schneller die Geflüchteten in Arbeit kommen, desto mehr spart der Staat. Es könnte bestimmt zwei oder drei Mal so viel investiert werden. Erfolgreiche Integration reduziert Sozialausgaben und erhöht den Zusammenhalt in der Gesellschaft“, findet Tjaden. Je besser etwa die Deutschkenntnisse der Zugewanderten sind, desto größer sei auch das Vertrauen der Aufnahmegesellschaft in die neuen Bürgerinnen und Bürger.

Mit seinem Doktoranden Samir Khalil erforscht Tjaden aktuell den Einfluss von Sprachkursen auf den Integrationsverlauf von Geflüchteten. In Deutschland werden sie bisher per Zufallsprinzip auf Bundesländer verteilt – „da kann man Glück oder Pech haben, in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit, großer Fremdenfeindlichkeit oder einem geringen Angebot an Integrationskursen landen.“ Tjaden arbeitet nun mit Kolleginnen und Kollegen des Hasso-Plattner- Instituts daran, die Verteilung von Geflüchteten in Deutschland zu optimieren. Gemeinsam haben die Forschenden einen Algorithmus entwickelt, der nicht per Zufall, sondern nach Merkmalen der Person und des Landkreises vorgeht: Familiensituation, Ausbildungsplätze, Wohnungsleerstand etc. werden dabei berücksichtigt. „Wir wollen so einen besseren Match herstellen. Das kann Zugewanderten einen besseren Start ermöglichen.“

Der Forscher

Prof. Dr. Jasper Tjaden studierte an der London School of Economics and Political Science (LSE) und promovierte im Fach Soziologie an der Universität Bamberg und der City University of New York. Seit 2021 ist er Professor für angewandte Sozialforschung und Public Policy an der Universität Potsdam.
E-Mail: jasper.tjadenuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2022 „Zusammen“.