Armando Rodrigues de Sá kam im Jahr 1964 nach Deutschland. Der Portugiese war der millionste Gastarbeiter der Bundesrepublik und erhielt bei seiner Ankunft am Bahnhof Köln-Deutz einen Blumenstrauß, eine Ehrenurkunde und ein Moped. Der 38-jährige Zimmermann stand stellvertretend für all die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die seit den 1950er Jahren aus Italien, Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko, Südkorea oder dem ehemaligen Jugoslawien angeworben wurden. In der DDR gab es ebenfalls einen großen Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland – hier vor allem aus Vietnam, Angola, Kuba oder Mosambik.
Deutschland ist schon lange ein Einwanderungsland. Doch die Bundesrepublik, in die Armando Rodrigues de Sá 1964 einwanderte, unterschied sich stark von der heutigen Lebenswelt. In den 1960ern waren verheiratete Frauen in der BRD weitgehend abhängig von ihrem Ehemann, Scheidungen und uneheliche Kinder ein Stigma, Homosexualität strafbar. Im Laufe der Jahre sollte der Ruf nach individueller Selbstbestimmung stetig lauter werden. Immer mehr fordern verschiedene soziale Gruppen Gleichberechtigung – unabhängig von Lebens- und Familienmodellen, Herkunft, Religion oder Geschlecht. Soziologen verzeichnen seit Jahrzehnten einen gesellschaftlichen Wandel hin zu einer größeren Vielfalt der Lebensstile, Bräuche und Umgangsformen in Deutschland.
Für die Gesellschaft ist das einerseits bereichernd, birgt andererseits jede Menge Konfliktpotenzial. Das Forschungsprojekt „Bodyrules“ blickt dabei auf Spannungsfelder, die in Verbindung mit dem Körper entstehen können: Bekleidung, Fastenregeln, Berührungen oder Geschlechterbeziehungen variieren zwischen sozialen Milieus und Religionen. Forschende der Universität Potsdam, der Berliner Charité Berlin und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) werfen im Projekt einen Blick auf Schulen, Krankenhäuser und Schwimmbäder, um zu ergründen, wie sich unterschiedliche soziale Normen in diesen Organisationstypen widerspiegeln, wie sich die Einrichtungen auf die zunehmende Vielfalt einstellen, welche Konflikte daraus entstehen und wie diese bearbeitet werden.
Das Fasten als Spannungsfeld
Das Potsdamer Forschungsteam um die Soziologin Prof. Dr. Maja Apelt führte eine bundesweite Online-Befragung an über 200 Schulen durch und besuchte außerdem vier Schulen im Großstadtmilieu mit einem Anteil muslimischer Schülerinnen und Schüler von 80 Prozent und mehr. Dort sprachen die Forschenden mit Schulleitungen, Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern der neunten Klassenstufe. „Im Gespräch ging es uns erst einmal darum, welche Themen mit Körperbezug an den Schulen überhaupt gesehen werden“, erklärt Annika Koch, die im Projekt promoviert. Die Interviewten konnten frei wählen, über welche Konflikte oder Probleme sie sprechen wollten und welche Aspekte ihnen dabei besonders wichtig sind. Welche offiziellen Regeln gelten an der Schule? Welche unausgesprochenen inoffiziellen Normen kommen hinzu? Wie werden die Regeln aus den verschiedenen Perspektiven interpretiert? Und was geschieht bei Regelverstößen?
An den Schulen kristallisierten sich zwei Themen heraus, die besonders häufig zu Missverständnissen und Unmut führen: das Fasten im Ramadan und die Kleidung von Schülerinnen. Im Fastenmonat soll zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang nichts gegessen und getrunken werden. In der Schule hat das Konsequenzen für die Belastbarkeit der Schülerinnen und Schüler: Einige sind müde und schlapp, sie können sich schlechter konzentrieren und ihre Leistungen schwerer abrufen.
Fastende Schülerinnen und Schüler auf der einen Seite und Lehrkräfte, denen dies fremd ist, auf der anderen – während des Ramadans zeigt sich, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen aus der jeweiligen Perspektive sein können. Einige Lehrerinnen und Lehrer empfanden das Fasten als Provokation. Sie vermuteten, dass ihre Schülerinnen und Schüler das Fasten als Vorwand nutzten. „Nach dem Motto: ,Sie wollen nicht lernen und deshalb fasten sie‘“, erklärt Maja Apelt. „Diese Einstellung hat mich schon überrascht.“ Die muslimischen Jugendlichen wiederum wünschten sich mehr Verständnis. Für sie ist der Ramadan eine besondere Zeit im Jahr, vergleichbar mit der Advents- und Weihnachtszeit für christliche Mitschüler. Annika Koch sieht in diesem Beispiel eine generelle Herausforderung für das deutsche Bildungssystem in einer pluralistischen Gesellschaft. Einerseits besteht ein Anspruch auf Gleichberechtigung der Lebensformen, andererseits bevorzugen Zeitstrukturen wie Feiertage oft unbewusst christliche Traditionen.
Diskriminierung geschieht oft unbewusst
Auch die Bekleidung der Schülerinnen birgt Potenzial für Konflikte. Offiziell gelten in den Schulen keine Bekleidungsregeln – jede und jeder kann in einem als selbstverständlich geltenden Rahmen anziehen, was ihr oder ihm gefällt, solange es keine gesetzwidrigen Symbole enthält. Im Schulalltag beobachteten die Forschenden aber etwas anderes: Häufig werde Druck von Gleichaltrigen ausgeübt, wenn Schülerinnen enge oder bauchfreie Kleidung tragen. Maja Apelt und Annika Koch befürchten, dass dadurch unbewusst Diskriminierung entsteht: etwa wenn Lehrerinnen und Lehrer gerade bei muslimischen Mädchen den Druck der Peer-Group billigen. „In unseren Interviews haben einige muslimische Mädchen sexistische Kommentare zur Kleidung problematisiert und waren der Meinung, dass Lehrkräfte zu wenig dagegen tun“, erzählt Annika Koch. „Für Lehrkräfte ist es oft schwer, einzuschreiten, insbesondere wenn die Kommentare außerhalb des Unterrichts fallen und mit Verweis auf die Religion begründet werden. Außerdem lehnt auch ein Teil der Lehrkräfte bauchfreie Kleidung ab.“ Halten sich Lehrkräfte beim Thema Kleidung raus, können sie jedoch den inoffiziellen Kleidungsregeln und damit einhergehenden Gruppendynamiken Vorschub leisten.
„Das ganze Thema hat einen Genderbezug“, betont Maja Apelt. „In erster Linie sind davon die Mädchen und Frauen betroffen, die eingeschränkt werden.“ In den Gesprächen zeigte sich, dass jedoch auch die Lehrerinnen davon nicht frei sind: Sie kleiden sich – meist unbewusst – ebenfalls nach einer inoffiziell geltenden Schulnorm und schränken sich ein. In den Klassen und auch in den Lehrerzimmern werde darüber aber kaum gesprochen. Das macht es schwierig, Probleme gemeinsam anzugehen.
Können offizielle Regeln helfen, die Konflikte besser zu bewältigen? Ob Schule, Krankenhaus oder Schwimmbad – in allen drei Organisationsformen habe sich gezeigt, dass es nicht einfach ist, Regelungen vorzuschreiben. „Dann macht man den Konflikt öffentlich“, erklärt Maja Apelt. „Und eingeführte Regeln muss man auch durchsetzen.“ Oft sei es einfacher, Lösungen abseits offizieller Regeln über Gespräche zu suchen. Manchmal werde auch einfach weggeguckt. Immerhin haben Lehrkräfte im Alltag genug andere Probleme zu bewältigen.
Was das in der Praxis bedeutet, zeigt sich etwa in den Schwimmbädern. Hier sind Ganzkörperbadeanzüge – sogenannte Burkinis – in der Regel erlaubt. Dennoch gibt es, wie die Wissenschaftlerinnen um Prof. Dr. Ines Michalowski und Dr. Oliver Schmidt vom WZB herausgefunden haben, einige Anstalten in Deutschland, in denen das Schwimmen mit Burkini nicht möglich ist. Manche Bademeister verwiesen burkinitragende Frauen auf das Nichtschwimmerbecken. Einige Frauen fühlten sich durch Reaktionen anderer Badegäste so unsicher, dass sie ganz auf einen Schwimmbadbesuch verzichteten. „Die Beispiele zeigen: Auch wenn es offiziell erlaubt ist, mit Burkini ins Schwimmbad zu gehen, gibt es unter den Menschen doch Normen auf einer anderen Ebene, die dieses Recht einschränken“, erklärt Maja Apelt.
„In allen drei Organisationstypen gibt es Regeln, die die Vielfalt erst einmal berücksichtigen“, hält die Wissenschaftlerin fest. „Wir haben aber überall eine Ressourcenknappheit und eine zusätzliche Belastung des Personals.“ Kulturelle Vielfalt bedeutet eben auch, dass Lehrerinnen und Lehrer oder medizinisches Personal sich auf andere Bedürfnisse einstellen müssen und einen höheren Arbeitsaufwand haben. Zwischen allen Beteiligten wird – oft unbewusst – ausgehandelt, wie damit umzugehen ist. Konflikte werden dabei häufig nicht offen ausgetragen. Entstehen daraus Nachteile und Diskriminierung? Etwa, weil daraus unterschiedliche Bildungschancen für Schülerinnen und Schüler erwachsen? Dem wollen die Forscherinnen nun weiter nachgehen.
Die Suche nach der richtigen Strategie
Derzeit sichten die Forschenden die Interviews und Antworten aus den Umfragen, analysieren die Situationen in den Schulen und listen auf, welche Konflikte die Befragten an sie herangetragen haben. Annika Koch dämpft jedoch die Erwartung, ihre Forschungsergebnisse könnten einfache Lösungen liefern: „Eine Strategie, die in einer Schule gut funktioniert, kann in der nächsten Schule schon wieder problematisch sein.“ Es komme auf die jeweiligen Umstände an – das Personal, die Schülerinnen und Schüler, die individuellen Konflikte und Probleme.
Doch die Ergebnisse des Forschungsprojekts können den Schulen dabei helfen, trotz unterschiedlicher Bedürfnisse zu einem besseren Miteinander zu finden: Annika Koch besucht die Schulen erneut und bringt ihre Analysen mit. Wenn sie vorstellt, welche Konflikte an den Schulen auftreten und welche Auswirkungen sie auf Schülerinnen und Schüler, aber auch auf die Lehrkräfte haben, kann die Situation von der Schulgemeinschaft besser reflektiert und wahrgenommen werden. „Wir stellen Reflexionswissen zur Verfügung“, sagt sie und hofft, dass die Schulen darüber einen Weg finden, offener über ihre Konflikte zu kommunizieren und auch sensibler dafür zu werden. Das Ziel müsse es sein, gemeinsame Regeln des Umgangs zu finden.
Ein Beispiel für derartige kollektive Aushandlungen ist die sogenannte „Neuköllner Empfehlung“, die 2017 auf Initiative des Berliner Bezirksamtes Neukölln, der regionalen Schulaufsicht und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie erschien. Gemeinsam mit Eltern sowie Moscheen und Vereinen der Familienberatung hatten die Behörden hinterfragt, wie muslimische Schülerinnen und Schüler während des Ramadans so unterstützt werden können, dass sie ihre schulischen und religiösen Pflichten besser miteinander vereinbaren können. Das Ergebnis der Gespräche sind zwölf Hinweise für Lehrkräfte und Eltern, die im gegenseitigen Austausch entstanden sind. Darin wird etwa festgehalten, dass das Fasten eine Säule des Islams ist, gleichzeitig aber kein Freischein dafür, schulische Pflichten zu umgehen. Das Fasten könne außerdem verschoben werden, wenn wichtige Prüfungen oder Klassenarbeiten anstehen. Doch dieser Auslegung islamischer Regeln stimmen nicht alle Muslime zu. Für die Forschenden zeigt sich bei der „Neuköllner Empfehlung“ daher ein spannendes Verhältnis von Staat und Religion: Staatliche Akteure erkennen die Religion an und legen sie gleichzeitig auf eine spezifische Weise aus. Das wirft neue Fragen und Probleme auf.
Damit Lösungen für Konflikte ausgehandelt werden können, muss miteinander gesprochen werden. „Es gibt keine einfachen Lösungen“, betont Maja Apelt. Diversität werde jedoch zunehmend anerkannt – politisch, in der Gesellschaft, in Einrichtungen und von Behörden. „Die Unsicherheiten darüber, wie man dieser Vielfalt am besten gerecht wird, sind aber immer noch groß.“
Das Projekt
Bodyrules – Organisationsregeln zum Umgang mit dem Körper im Spannungsfeld von Organisation und Zuwanderung untersucht, wie Organisationen in einer durch Zuwanderung diverser werdenden Gesellschaft auf sich ändernde soziale Normen reagieren.
Beteiligt: Universität Potsdam, Professur für Organisations- und Verwaltungssoziologie (Teilprojekt Schule) Charité Berlin, Institut für Medizinsoziologie und Rehabilitationswissenschaften (Teilprojekt Krankenhaus) Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung (Teilprojekt Schwimmbäder)
Laufzeit: 2018 bis 2020
Förderung: Bundesministerium für Bildung und Forschung, Forschungsprogramm „Migration und gesellschaftlicher Wandel“ Themenfeld II: „Diversität und institutioneller Wandel durch Zuwanderung“
www.uni-potsdam.de/de/ls-apelt/forschungsprojekte/bodyrules
Die Forscherinnen
Prof. Dr. Maja Apelt studierte Soziologie und Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte an der Universität Lüneburg. Seit 2010 ist sie Professorin für Organisations- und Verwaltungssoziologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: maja.apeltuuni-potsdampde
Annika Koch studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2018 Doktorandin an der Universität Potsdam.
E-Mail: annika.koch.ivuuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2022 „Zusammen“.