Sie leiten die Forschungsstelle Europäische Strafrechtsgeschichte. Wie hat man sich diese Forschung konkret vorzustellen?
Rechtsgeschichte, also auch Strafrechtsgeschichte, gehört methodisch nicht zur Rechts-, sondern zur Geschichtswissenschaft. Es geht also darum, Zugänge zur Beschreibung, zum Verständnis und zur Deutung der Vergangenheit zu erarbeiten. Vergangene Rechtszustände – als Gegenstand der rechtsgeschichtlichen Forschung – erschließen sich aus den verfügbaren Quellen, zumeist Textquellen: Gesetzestexten, Gerichtsentscheidungen, der rechtswissenschaftlichen Literatur etc. Konkret läuft die Forschung also so ab, dass wir zu einer bestimmten Fragestellung das existierende (oft sehr umfangreiche) Quellenmaterial beschaffen, auswählen, auswerten und deuten.
Welche Forschungsprojekte laufen aktuell?
Mit meinen Kollegen Arnd Koch (Augsburg) und Andreas Popp (Konstanz) habe ich 2019 eine Tagung zum „Strafrecht in der alten Bundesrepublik“ organisiert, hier zu den sogenannten allgemeinen (strafrechtsdogmatischen) Lehren; die Untersuchung des besonderen Teils des Strafrechts – also der einzelnen Delikte – soll im Rahmen einer Tagung 2022 folgen. Es geht uns darum, die Zeitspanne 1949–1990 als strafrechtsgeschichtlichen Gegenstand zu erschließen, denn das ist bisher kaum passiert. Auch wollen wir wegkommen von der traditionellen Strafrechtsgeschichtsschreibung, die sich zu sehr aufs Dogmengeschichtliche – also die Wissenschaft und Gesetzesentwicklung – beschränkt hat, und stattdessen die sozial- und politikgeschichtlichen Interaktionen herausarbeiten. Das Strafrecht kennzeichnet oftmals sehr scharf die politischen und sozialen Verhältnisse und deren Wandel; das gilt zum Beispiel für die Debatten um das Sexualstrafrecht und dessen Modernisierung seit den 1970er Jahren.
Sie haben im Rahmen der Forschungsstelle auch zum Strafrecht in der DDR gearbeitet?
Ja. 2017 haben wir in Potsdam eine Tagung zur „Sozialistischen Straftheorie- und Praxis“ ausgerichtet; dabei ist mir klargeworden, dass das Strafrecht der DDR viel intensiver untersucht werden sollte, als das bisher geschehen ist. Derzeit betreue ich vier Doktorandinnen und Doktoranden in diesem Bereich. Auch habe ich selbst zwischenzeitlich eine Untersuchung zum Jugendstrafrecht in der DDR verfasst – als Vorarbeit für eine Tagung, die ich für 2023 plane zum Thema „Staatliche und gesellschaftliche Sanktionen gegen Jugendliche in der DDR“: Das Jugendstrafrecht soll dann in den größeren Kontext der Sanktionsmechanismen gestellt werden, mittels derer Kinder und Jugendliche – im spezifisch sozialistischen Sinn – „erzogen“ und gegebenenfalls „umerzogen“ wurden; zu diesem Komplex gehören nicht nur das Jugendstrafrecht und der Jugendstrafvollzug, sondern etwa auch schulische Sanktionen, wobei die Freie Deutsche Jugend eine wichtige Rolle spielte sowie Maßnahmen der Jugendhilfe, insbesondere die Einweisung in Jugendwerkhöfe. Es geht darum, die allgemeine „Theorie“ der „Erziehung“ in kritischen Bezug zur Praxis zu setzen, unter der Tausende Kinder und Jugendliche gelitten haben.
Das wird dann also auch ins Politische gehen?
Auf jeden Fall: Die Erforschung des Strafrechts der DDR gehört zur „Aufarbeitung“. Die heutige Studierendengeneration weiß, ich sage das mal so offen, im Grunde nichts über die Rechtszustände in der DDR. Im Strafrecht zeigt der Staat aber sein Gesicht! Was es hieß, dass die SED ernst machte mit dem Anspruch, „alle Bürger zu Sozialisten zu erziehen“ (ich zitiere hier Margot Honecker), lässt sich in den damaligen Strafgesetzen, den Urteilen und auch der wissenschaftlichen Literatur schwarz auf weiß nachlesen. Nach dieser Lektüre weiß man, was das Wort Diktatur bedeutet, und wer das gelesen hat, wird – wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf – von dem Unfug geheilt sein, von einer „Corona-Diktatur“ zu sprechen.
Übrigens ist vielen Jurastudierenden auch nicht bekannt, dass der Vorläufer der Universität Potsdam, die Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, die juristische SED-Kaderschmiede war (einer meiner Doktoranden arbeitet hierzu). Gerade am Standort Potsdam sollte die Erforschung des Rechts der DDR einen festen Platz haben.
Die Forschungsstelle soll dem Namen nach die „Europäische Strafrechtsgeschichte“ erforschen. Wie ist das gemeint? Wie unterscheidet sich diese von derjenigen in anderen Teilen der Erde?
Die bisherigen Projekte haben sich in der Tat (die in Ihrer Frage mitschwingende Kritik ist berechtigt) vorwiegend mit deutscher Strafrechtsgeschichte befasst. Ich plane längerfristig aber auch länderübergreifende Projekte, nämlich zu früheren Epochen. Erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sind die entstehenden Nationalstaaten jeweils klar abgegrenzte eigene strafrechtliche Wege gegangen, zuvor galt im ganzen Heiligen Römischen Reich die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, und davor, im Mittelalter, war die Geistes- und Rechtsgeschichte ohnehin im Wesentlichen ein gesamteuropäischer Vorgang. Mit den außereuropäischen Strafrechtsgeschichten bin ich, offen gestanden, nicht näher vertraut. Sagen lässt sich sicherlich: Gemeinsamkeiten resultieren aus der menschlichen Natur, Unterschiede aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen und jeweils eigenen philosophischen Traditionen.
Gibt es wichtige Lehren für das aktuelle Straf- und Strafprozessrecht, die Sie aus Ihrer historischen Perspektive ableiten können?
Zum Politischen habe ich mich bereits geäußert. Das 20. Jahrhundert hält neben dem erziehungsdiktatorischen Strafrecht der DDR das unvergleichlich schlimmere Negativbeispiel des NS-Strafrechts bereit: Strafrecht als Mittel zur totalen Gleichschaltung und zur gesellschaftlichen Ausgrenzung, Ausbeutung und Ermordung derer, die nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehören. Wie Strafrecht nicht aussehen sollte, lässt sich aus unserer Geschichte also leicht ersehen. Das bezieht sich übrigens auch aufs Rechtstechnische, also darauf, welche rechtlichen Figuren bzw. Begrifflichkeiten anfällig für ein Strafrecht sind, das die individuelle Freiheit zu sehr beschränkt. Positiv ist es, meine ich, wichtig, die Herkunft der Vorschriften zu kennen, die heute gelten (viele der heutigen Normen des Strafgesetzbuchs wurden seit seinem Inkrafttreten 1872 nicht oder kaum verändert); sonst können aktuelle Diskussionen leicht in der Luft hängen.
Eine letzte Frage: Können Sie Ihre Forschungsergebnisse auch in die Lehre einbringen?
Ja! Es freut mich ganz besonders, dass in unserem sogenannten Grundlagen-Schwerpunkt die Strafrechtsgeschichte einen festen Platz hat und ich sicher sein kann, hier mit klugen und interessierten Studierenden in intensive Diskussionen zu geraten.
Die Forschungsstelle europäische Strafrechtsgeschichte
Die Forschungsstelle Europäische Strafrechtsgeschichte gibt mittels international besetzter Tagungen Impulse zur Erforschung der deutschen als Ausschnitt der europäischen Strafrechtsgeschichte und trägt zum Ausbau eines Netzwerks hierzu arbeitender europäischer Forscherinnen und Forscher bei.
https://www.uni-potsdam.de/de/strafprozessrecht/ forschungsstelle-europaeische-strafrechtsgeschichte.html
Der Forscher
Prof. Dr. Georg Steinberg studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg, Genf und München, wurde an der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg promoviert und an der Universität Hannover habilitiert. Nach Professuren an der Universität zu Köln (2009–2012) und der EBS Universität Wiesbaden (2012–2016) ist er seit 2016 Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Potsdam und leitet die Forschungsstelle Europäische Strafrechtsgeschichte.
E-Mail: georg.steinberguuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2021 „Aufbruch“ (PDF).