Eine Lehrerin meines Sohnes – 6. Klasse – hat sich im Zuge des ersten Lockdowns 2020 gezwungenermaßen eine E-Mail-Adresse einrichten lassen und lädt in die regelmäßig überlastete Brandenburger Schulcloud bis heute abfotografierte jpegs aus 20 Jahre alten Arbeitsbüchern hoch. Ist das in Ihren Augen Regel oder Ausnahme?
Solche Berichte waren im vergangenen Jahr sehr oft zu hören. In unserer Online-Befragung, die wir im Frühsommer 2020 durchgeführt haben und an der ca. 1.000 Lehrkräfte teilnahmen, gaben die meisten von ihnen an, sehr häufig per E-Mail mit den Lernenden zu kommunizieren. Andere Untersuchungen bestätigten diese Aussage. In einer Studie der TU Dortmund, für die zwischen April und Juni 2020 2.600 Eltern online befragt wurden, zeigte sich, dass die Lehrkräfte laut Elternbericht sehr häufig Aufgaben versendeten und eher seltener persönlich Kontakt aufnahmen.
Auf der anderen Seite offenbaren die aktuellen Online-Befragungen „Deutsches Schulbarometer“, dass sich die Möglichkeiten der Lehrkräfte seit dem letzten Jahr sehr verändert haben: So nutzen sie beispielsweise verstärkt digitale Lernplattformen, um sich mit ihren Schülerinnen und Schülern auszutauschen. Insgesamt ist die Situation also sehr dynamisch. Ich verstehe die Frustration vieler Eltern über die Situation sehr gut, aber ich denke, dass ein wertschätzendes Miteinander dabei wichtig ist, das auch einbezieht, dass alle Beteiligten – Eltern, Lehrkräfte, Schulleitungen und Bildungspolitik –im Rahmen ihrer Möglichkeiten wirklich sehr viel leisten, um mit den Herausforderungen der momentanen Situation möglichst gut umzugehen. Es verändert sich aktuell viel im Bildungssystem und Lehrkräfte brauchen zur Bewältigung dieser Veränderungen insbesondere die Unterstützung ihrer Schulen.
Sind die Lehrkräfte in Deutschland selbst digital kompetent genug, um Schülerinnen und Schüler auf die Zukunft einer digitalisierten Welt vorzubereiten – oder ist es nicht vielmehr so, dass sie vor einer Schulklasse von rund 25 „Digital Natives“ unterrichten?
Am Arbeitsbereich Schulpädagogik der Uni Potsdam befassen wir uns intensiv mit der Frage nach digitalen Kompetenzselbsteinschätzungen. Meine Kollegin Dr. Charlott Rubach, die aktuell an der University of California, Irvine tätig ist, und ich konnten beispielsweise zeigen, dass Lehramtsstudierende in Deutschland sich in Bereichen wie „Kommunikation und Kooperation“ sowie „Produzieren und Präsentieren“ mit digitalen Medien bereits sehr gut selbst einschätzen, aber dass im Bereich „Problemlösen und Handeln“ mit digitalen Medien noch Nachholbedarf besteht. Und auch Lehrkräfte stehen vor der Herausforderung, ihre Kompetenzen im digitalen Bereich weiterzuentwickeln – an der Universität Potsdam wurde am Zentrum für Lehrkräftebildung und Bildungsforschung (ZeLB) deshalb dieses Jahr auch das Graduiertenkolleg ‚DiCTaT‘ ins Leben gerufen, dass sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie digitale Technologien auch in und für Lehrkräftefortbildungen eingesetzt werden können.
Inwieweit können digitale Kompetenzen im Rahmen der Lehrkräftebildung ausgebildet und gefördert werden?
Es ist unser Ziel, einerseits Professionswissen zu vermitteln und andererseits die Anwendung des eigenen Wissens im Unterrichtskontext zu fördern. Die Frage ist vor allem, welche Lehr-Lernsettings und -prozesse in der Lehrkräftebildung besonders erfolgreich sind, wenn es darum geht, digitale Kompetenzen zu vermitteln. Wir haben das zusammen mit der Geografiedidaktikerin Prof. Dr. Nina Brendel in einem kleinen Projekt untersucht. Dabei konnten wir belegen, dass unterschiedliche Schwerpunkte in den Seminaren jeweils andere Kompetenzen förderten. Bei Seminaren, in denen digitale Medien direkt zur Unterrichtsplanung und -entwicklung eingesetzt wurden, gaben die Studierenden anschließend an, Kompetenzen im „Kommunizieren und Kooperieren“, „Problemlösen und Handeln“ sowie „Unterrichten und Implementieren“ erworben zu haben. Seminare, in denen die Studierenden die Perspektive von Lernenden einnahmen und digitale Medien eher zur Lösung von Aufgaben im Seminarkontext nutzten, sorgten am Ende des Semesters für höhere Einschätzungen beim „Kommunizieren und Kooperieren“, „Schützen und sicher Agieren“ sowie „Problemlösen und Handeln“ – nicht aber beim „Unterrichten und Implementieren“.
Wenn schon viele Schulen gar nicht über die notwendige IT- Ausstattung verfügen, lässt sich dann überhaupt eine Aussage zur Kompetenz der Lehrkräfte treffen?
Natürlich ist die technische Ausstattung der Schulen ein wichtiger Ausgangspunkt für die Herausbildung digitaler Kompetenzen bei Lehrkräften, aber eben nicht der einzige. Eine aktuelle Studie, die wir mit Prof. Dr. Dirk Richter vom Arbeitsbereich Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung ausgearbeitet haben, zeigt, dass die technische Schulausstattung für die Selbstwirksamkeit von Lehrkräften im Umgang mit digitalen Medien zwar wichtig ist. Gleichzeitig erweist sich aber die Kooperation im Kollegium, also der Austausch zu digitalen Medien und dem Umgang damit, ebenso als bedeutsam. Und natürlich spielen Fortbildungen in diesem Bereich eine wichtige Rolle. Kooperation war in unserer Studie ein besonders wesentlicher Faktor, weil sie auch direkt mit dem Kontaktverhalten der Lehrkräfte während des COVID-19-bedingten Fernunterrichts in Zusammenhang stand. Lehrkräfte, die sich im Kollegium viel über den Umgang mit digitalen Medien während des Fernunterrichts austauschten, nahmen während der Schulschließungen häufiger Kontakt zu Schülerinnen und Schülern auf und fühlten sich auch insgesamt besser auf die Situation vorbereitet. Zusammenfassend scheint es also sehr wichtig zu sein, dass Lehrkräfte sich untereinander austauschen, miteinander arbeiten und gezielt Kooperationen in der Schule etablieren, wenn es um den Einsatz digitaler Medien im Unterricht geht.
Woran wird diese Kompetenz festgemacht?
In der Studie, von der ich eben gesprochen habe, haben wir die Selbstwirksamkeit im Umgang mit digitalen Medien untersucht – also die Frage, wie stark sich Lehrkräfte zutrauen, künftig digitale Medien in ihren Unterricht einzubinden, auch wenn dabei Probleme oder schwierige Situationen auftauchen sollten. Insgesamt ist das, was wir unter digitalen Kompetenzen verstehen, aber sehr viel breiter angelegt und bezieht die erfolgreiche Meisterung von Tests zum Umgang mit digitalen Technologien (ICT literacy) genauso mit ein wie Kompetenzselbsteinschätzungen in verschiedenen Bereichen wie Suchen, Sichern, Verwahren oder Unterrichten, wie sie beispielsweise im EU-Rahmenmodell „DigCompEdu“ beschrieben werden.
Mitunter entsteht der Eindruck, fehlende digitale Kompetenz sei generationenübergreifend. Gibt es im Lehramtsstudium keine hinreichende Kompetenzvermittlung, die sich den digitalen Neuerungen anpasst?
In Einzelfälle mag das stimmen. Unsere Ergebnisse verweisen allerdings darauf, dass das Alter bzw. die Berufserfahrung der Lehrkräfte auch eine Bedeutung dafür haben, wie sie ihre digitalen Kompetenzen selbst einschätzen. Lehrkräfte, die schon länger im Beruf stehen und deren Ausbildung bereits länger zurückliegt, beschrieben sich – in unserer Befragung – als weniger digital kompetent. Das wird sicher auch daran liegen, dass die Lehrkräftebildung diese Themen gegenwärtig viel stärker aufgreift als früher.
Die Forscherin
Prof. Dr. Rebecca Lazarides studierte Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin und promovierte an der Technischen Universität Berlin zum Thema Unterricht und Interesse von Schülerinnen und Schülern im Fach Mathematik. Von 2016 bis 2021 war sie Juniorprofessorin, seit 2021 ist sie Professorin für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Schul- und Unterrichtsentwicklung an der Universität Potsdam.
E-Mail: rebecca.lazaridesuuni-potsdampde
Das Projekt
Digitales Lernen – Kompetenzen von Lehrkräften, Unterrichtsqualität und Fernunterricht während COVID
Erhebungszeitraum: Mai/Juni 2020
https://www.uni-potsdam.de/de/schulpaedagogik/projekte-in-forschung-und-lehre/forschungsprojekte/digikompel-einschaetzung-digitaler-kompetenzen-bei-lehramtsstudierenden-und-lehrkraeften
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2021 „Aufbruch“ (PDF).