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20 Jahre Rochow-Museum – Das Dorf Reckahn war einst ein Zentrum der Aufklärung. Heute ist es ein Mekka für Bildungswissenschaftlerinnen

Auf dem Foto ist das Schloss Reckahn zu sehen. Das Foto ist von Karl-Hermann Völker.
Foto : Karl-Hermann Völker
Schloss Reckahn

Der Weg nach Reckahn führt über eine Landstraße, durch eine hügelige Landschaft mit verschlafenen brandenburgischen Dörfern, Feldern und Wäldern. Einst fuhr das Gutsherrenpaar Friedrich Eberhard und Christiane Louise von Rochow hier mit seiner Kutsche durchs Planetal. In Reckahn erwartet die Ankommenden ein Ensemble aus Schloss, Gutspark, Barockkirche und einem Schulhaus. Hier lebten die von Rochows vor mehr als 200 Jahren. „Es ist ein historischer Ort und jedes Mal, wenn ich das Schulhaus betrete, spüre ich davon etwas. Die Kinder, die hier lernten, haben einen Unterricht erhalten, der für seine Zeit revolutionär war“, sagt Dr. Silke Siebrecht-Grabig. Sie leitet die Reckahner Museen, zu denen das Rochow-Museum im ehemaligen Wohnsitz des Adelspaares und das Schulmuseum im historischen Schulhaus gehören.

Die Geschichte der ersten modernen Volksschule Europas beginnt am 2. Januar 1773, als das Schulhaus in Reckahn erstmals seine Türen öffnete. Jedes Kind sollte hier Lesen und Schreiben lernen, egal aus welchem Elternhaus es stammte. Es gab keine Prügelstrafe, die Kinder wurden als eigenständige, denkende Wesen begriffen – so wollte es der Schulbegründer, Aufklärer und Agrarreformer Friedrich Eberhard von Rochow. „Das war damals sensationell“, erklärt der   Bildungshistoriker Professor Hanno Schmitt. Der inzwischen 78-Jährige sorgte dafür, dass auch heute noch etwas zu spüren ist vom einstigen Glanz und Esprit Reckahns. 2001 ergriff er die Gelegenheit und nutzte gemeinsam mit seinem Kollegen Professor Frank Tosch Fördermittel zum Preußenjahr, um im Gutshaus eine Ausstellung über das Wirken der von Rochows zu realisieren. Es folgte die Sanierung des gesamten Ensembles, das jetzt auch über ein Gästehaus verfügt und als internationaler Tagungsort dient.

Das einstige Zentrum der Volksbildung und Aufklärung ist ein Mekka für Historikerinnen und Historiker, aber auch für die Bildungsforscherinnen und -forscher der Gegenwart – etwa für Prof. Annedore Prengel. Ihren Ehemann Hanno Schmitt hat die Professorin für Erziehungswissenschaften schon nach Reckahn begleitet, als dieser das Projekt vor 20 Jahren aus der Taufe hob. Zu einem Ort des Schaffens wurde das Dorf für sie aber erst zehn Jahre später – nach ihrer Emeritierung. „Es war ein Glücksfall“, sagt sie heute.

Es sind Szenen wie diese, die ihr auch im Ruhestand keine Ruhe ließen: „Ein Mädchen steht im Sportunterricht vor der Klasse und die Lehrerin sagt zu ihm: ‚Steh nicht da wie ein Gartenzwerg!‘ Die Klasse lacht, das Mädchen weint. Eine andere Lehrerin sagt zu einer Schülerin: ‚Du bist dumm und faul.‘“ Annedore Prengel erforscht als Expertin für Grundschulpädagogik seit über 20 Jahren pädagogische Beziehungen. Ihre Studentinnen und Studenten haben bei Hospitationen in Kindergärten, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen diese und weitere Zehntausende Interaktionen zwischen Lernenden und Lehrenden auf Dokumentationsbögen festgehalten. Gemeinsam mit der Soziologin Antje Zapf analysierte Annedore Prengel diesen umfangreichen Datenschatz, den sie in jahrelanger Arbeit gesammelt hatte. Das Ergebnis: Die beschriebenen Szenen sind keine Einzelfälle – 20 Prozent der dokumentierten Interaktionen zwischen Lernenden und Lehrenden sind verletzend, fünf Prozent sogar sehr verletzend. „Das muss aufhören“, sagt Prengel.

Als sie 2010 emeritiert wurde, hatte sie umfangreiches Wissen und zahllose Beispiele über pädagogische Handlungen gesammelt, die verletzend sein können. „Ich wusste viel darüber, wie Kinder anerkannt werden und auch, wie sie verletzt werden“, erzählt die Bildungsforscherin. „Aber mir fehlte die Möglichkeit, konkret zu helfen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen.“ Was macht gute, anerkennende pädagogische Beziehungen aus und wie können sie in Schulen und Kitas selbstverständlich werden? Das Wissen darüber weiterzugeben und zu nutzen, machte sich die Erziehungswissenschaftlerin seitdem zur Aufgabe – und fand in Reckahn den dafür passenden Ort.

Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründete Annedore Prengel 2011 hier den Arbeitskreis Menschenrechtsbildung: ein Gremium aus Expertinnen und Experten aus der Politik, der Bildungspraxis, der Wissenschaft und der Schulverwaltung. Unterstützt von der Robert Bosch Stiftung schuf der Arbeitskreis 2016 die „Reckahner Reflexionen“. In zehn Leitlinien listen diese auf, was gute pädagogische Beziehungen ausmacht und wie man sie erreicht. Weitere Publikationen und Online-Kurse über unterstützende Bildungsarbeit folgten. Die Materialien werden von Schulen, Universitäten, Bildungsträgern und -organisationen stark nachgefragt. Der Arbeitskreis schreibt unterdessen bereits an einer weiteren Publikation, die das gesamte essenzielle Schulwissen in Kompetenzstufen für jedes Unterrichtsfach auflistet – und zwar aus Sicht der Schülerinnen und Schüler. „Ich kann alle Buchstaben lesen“ oder „Ich kann das kleine Einmaleins“, heißt es etwa in der Handreichung, die Lehrkräfte dabei unterstützen soll, den Lernstand der Kinder zu erkennen und passende individuelle Lernbausteine anzubieten.

Vielleicht hätte sich Friedrich Eberhard von Rochow gewundert, dass mehr als 200 Jahre nach seiner Schuleröffnung in Reckahn noch immer darum gerungen wird, wie ein wertschätzender Unterricht gestaltet werden kann. „Das Thema hat nach wie vor eine immense Bedeutung“, sagt Annedore Prengel. „Es ist eine Daueraufgabe und wir wissen aus der Geschichte, dass es keinen linearen Fortschritt gibt. Aber wir müssen die Gegenwart mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln gestalten, so gut wie wir es können. Und da zählt jede Schulstunde.“

Die Reckahner Reflexionen im Internet: https://paedagogische-beziehungen.eu

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2021 „Familie und Beruf“ (PDF).

Veröffentlicht

Online-Redaktion

Sabine Schwarz