Heute wollen wir uns Gesteinsformationen im nördlichen Calchaquí-Tal ansehen, die durch die Anden-Gebirgsbildung schräggestellt wurden – mehr als sieben Kilometer mächtige Sedimentlagen sind hier aufgeschlossen. Wir verlassen die asphaltierten Straßen von Cafayate und fahren weiter in Richtung Cachi – Kakteen, dornige Sträucher sowie ab und zu eine wunderschöne grüne Oase mit Weinbergen begleiten uns. Die Waschbrettstruktur der Strasse zwingt uns allerdings, extrem langsam zu fahren; wir werden dennoch kräftig durchgerüttelt und die coronabedingt offenen Fenster im Bus lassen die 35°C warmen Fallwinde sowie den Staub der Piste ungehindert hinein. „No importa. Nos mantenemos y laburamos juntos“ – „Macht nichts, wir helfen einander und arbeiten weiter“. Denn wir sind Geologinnen und Geologen und von unseren Geländearbeiten einiges gewohnt.
Wir kennen die tektonische Entwicklung der Region bereits durch unsere Beobachtungen der letzten Tage. Auf diesem Abschnitt unserer Reise liegt das Augenmerk auf den Sedimentgesteinen, die die Hebung der Anden widerspiegeln und Informationen zu den Paläoumweltbedingungen preisgeben. Diese geologischen Archive sind für uns wie ein Fenster in die Erdgeschichte. Hier findet man Fossilien von Kaimanen und Säugetieren sowie Reste von Akazien-Baumstämmen, die auf ein feuchtes Klima in der Zeit vor fünf bis neun Millionen Jahren hindeuten. Wie kommt das, und warum ist die Region mit etwa 200 Millimetern Jahresniederschlag heute das genaue Gegenteil der damaligen Bedingungen? Die Antwort liegt in den tektonischen Vertikalbewegungen und dem Aufbau einer topografischen Barriere östlich von uns, die feuchte Luftmassen am Eindringen in das Innere des Gebirges hindert. Ähnliche klimatische Bedingungen, wie sie damals am Ostrand des Andenplateaus herrschten, sind nun im Vorland des Gebirges etwa 150 Kilometer östlich von uns zu finden. Die topografische Barriere hat sich also vor etwa neun Millionen Jahren in Richtung Vorland verschoben, denn diese feuchten Bedingungen existieren auch an den Osthängen der jetzt über 3.000 Meter hohen Gebirgsbarriere, wo sich aufgrund dieses Zusammenspiels tektonischer und klimatischer Prozesse die andentypische Yungas-Vegetation etablieren konnte – ein fast undurchdringlicher, teilweise immergrüner subtropischer Wald, der sich durch eine hohe Biodiversität auszeichnet.
Wir sind in einer Halbwüste, umrandet von 3.000 bis 6.000 Meter hohen ariden Gebirgsketten, die immer wieder von extremen konvektiven Niederschlagsereignissen erfasst werden, mit teilweise ähnlichen Auswirkungen hinsichtlich der Regenmenge und des Abflusses wie bei den großen Hochwassern in Deutschland während des vergangenen Sommers. Allerdings sind hier im Nordwesten von Argentinien die Bevölkerungsdichte und entsprechend die mediale Aufmerksamkeit viel geringer. Es gibt auch einen weiteren großen Unterschied zu den Überschwemmungen in Mitteleuropa: Aufgrund der anderen Klimabedingungen ist die Pflanzendecke sehr spärlich, das Relief ist mit 4.000 Metern zwischen Talboden und Berggipfeln extrem, die Gebirgshänge sind instabil und die transportierten Gerölle haben die Größe von Kleinlastwagen. Anfang dieses Jahres fielen innerhalb einer Stunde 50 Millimeter Niederschlag in der Nähe der Estancia La Paya, einem idyllisch gelegenen Bauernhof, der von Virginia Ruíz und ihrer Mutter gemeinsam bewirtschaftet wird. Virginia zeigte uns Videoaufnahmen dieses Ereignisses, und bei einer Begehung des jetzt trockenen Flussbetts konnten wir uns selbst ein Bild von der Größe der transportierten Gesteine und der Zerstörungskraft des Hochwassers machen. Begleitet von den freundlichen Schäferhunden Arturo und Kaiser analysieren wir die Sedimentablagerungen und vergleichen unsere Beobachtungen mit Satellitendaten und Drohnenaufnahmen, die vor und nach dem Ereignis gemacht wurden.
Nach diesem ereignisreichen Tag mit einer Reise durch die Erdgeschichte der letzten neun Millionen Jahre sind wir erschöpft, aber wir freuen uns über diese besonderen Eindrücke und die Tatsache, dass Quinoa-Salat, Ziegenkäse oder Lama-Gulasch auf uns warten.
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