„Qualitativer Wandel durch neue Kulturen des Stadtmachens“ klingt gut, aber heißt eigentlich was jetzt genau?
Kuhlmann: In dem Kolleg sind im Grunde zwei Komponenten angesprochen: Zum einen soll Stadtentwicklung inhaltlich verbessert werden, indem Doktorandinnen und Doktoranden in ihren Forschungsprojekten neue Konzepte der Stadtplanung und Fragen nachhaltiger Stadtentwicklung, etwa in der Mobilitätspolitik oder der Verkehrswende, untersuchen. Das zweite ist das „Mitmach-Element“, bei dem es wesentlich um die Art und Weise des „Stadtmachens“ geht. Der Gedanke der Partizipation, der Bürgerbeteiligung und auch der Koproduktion zwischen Bürgern, Verwaltung und weiteren Stakeholdern ist ganz entscheidend.
Vellani: Städte sind Heimat und bieten Identifikationspotenzial, sie ermöglichen Bürgern Lebensqualität und Mitbestimmung bei lokal demokratischen Prozessen. Somit spielen sie eine Schlüsselrolle in der Gesellschaft als Orte des Lebens. Sie stehen im Zentrum vieler Megatrends wie gesellschaftlichem und technologischem Wandel, sich verändernder Lebensstile, zunehmender Digitalisierung oder der Energiewende. Insofern ist die Idee unseres interdisziplinären Forschungsteams, diese Trends zu untersuchen und selbst Agenten des Wandels zu sein. So beobachtet und gestaltet das Kolleg die neue Kultur des Stadtmachens gleichermaßen.
Im Logo des Graduiertenkollegs findet sich das Wort „Lebensqualität“. Was verbirgt sich dahinter?
Vellani: Lebensqualität ist ein mehrdimensionales Konzept – durch das die unterschiedlichen Aspekte, Dissertationen und Disziplinen miteinander verbunden sind. Alle genannten Megatrends haben einen Einfluss auf die Lebensqualität. Wir blicken aus unterschiedlichen Perspektiven auf sie, in Potsdam konzentrieren wir uns insbesondere auf die Verwaltung.
Kuhlmann: Thomas hat es auf den Punkt gebracht. Im Begriff der Lebensqualität fließen verschiedene Stränge zusammen, die man aus Forschungssicht nur interdisziplinär bearbeiten kann. Das ist eine der Grundideen dieses Kollegs! Wenn man Lebensqualität steigern will, bedarf es einer breiteren, multidisziplinären Sicht und wir an der Uni Potsdam sind eben verantwortliche für das institutionelle Setting aus (kommunal)politischer und verwaltungswissenschaftlicher Sicht. Also: „Wie kann ich die Verwaltung aufstellen, damit sie zur besseren Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger beitragen kann?“ Aber wir haben von der Uni Stuttgart auch Soziologen dabei, die sich soziale Strukturen und Problemlagen in Mittelstädten, bspw. Fragen der Migration, anschauen. Hier gibt es aus (stadt)soziologischer Perspektive eine Dissertation über „Urbane Narrative“, also wie Städte nach außen bzw. den Bürgern gegenüber kommunizieren, was schon fast Richtung Stadtmarketing geht. Dann gibt es noch ein Projekt, das sich mit Mobilitätsmanagement, mit der Verkehrswende, also nachhaltigen Mobilitätskonzepten befasst. Die Uni Aachen wiederum bringt stadt- und raumplanerische sowie architektonische Perspektiven ein. Wir haben also eine Vielzahl spannender Projekte an Bord!
Wie sieht das konkrete Teilprojekt für die Uni Potsdam aus?
Vellani: Es gibt insgesamt 13 Doktorandinnen und Doktoranden; ich bin für die Uni Potsdam im Projekt dabei und befasse mich mit dem Thema der digitalen Transformation von Mittelstädten. Ziel ist es, die Dynamiken von Städten dieser Größe zu analysieren: „Wann haben sie mit der Digitalisierung angefangen? Was ist ihr Fokus? Welche Faktoren beeinflussen das? Sind die einzelnen Akteure besonders wichtig?“ Es geht also darum, die Entwicklung des Digitalen in Mittelstädten zu verstehen – insbesondere derjenigen, die an der Spitze stehen. Das Ergebnis soll eine Typologie mit historischer Perspektive der Entwicklung der digitalen Politik in fünf Städten sein – Deggendorf, Soest, Geestland, Neuruppin und Coburg, die auch Teil unseres Netzwerks sind. Diese Typologie kann im Idealfall anderen Kommunen als Inspiration dienen. Gleichzeitig habe ich einen Arbeitskreis für den interkommunalen Austausch gegründet. Wir führen Interviews, organisieren Gespräche und Workshops zwischen Akteuren aus diesen fünf Städten. Insgesamt gibt es im Verbundprojekt 38 Mittelstädte. Ursprünglich wollten wir mit nur acht Städten zusammenarbeiten, aber der Bedarf und das Interesse waren so groß, dass wir alle Bewerberstädte ins Projekt aufgenommen haben!
Warum sehen Sie speziell in kleinen Mittelstädten Forschungsbedarf?
Kuhlmann: Die Idee ist in Zusammenarbeit dem Förderer, der Bosch Stiftung, entstanden, der direkt diese Frage stellte: „Gibt es diesen Bedarf?“ Das konnten wir bejahen. Denn bislang existierte ein starker Forschungsschwerpunkt auf Metropolen; auch ländliche Räume, die ganz Kleinen, wurden bereits viel beforscht, Stichwort „Schrumpfung“. Die Mittelstädte hingegen fielen immer aus dem Raster! Auch aus unserer Sicht der Potsdamer Verwaltungsforschung wissen wir viel über Reformprojekte und Digitalisierungstendenzen bspw. in Großstädten, aber Forschung zu Mittelstädten fehlt bisher. Diese Mittelstadtlücke wollen wir mit dem Kolleg nun füllen!
Ein Fokus „Mittelstadt“ kann nicht alle Städte in Deutschland einer Größe über den Kamm scheren. Wie wird regional differenziert?
Kuhlmann: Gerade in der Varianz in Deutschland liegt etwas Spannendes. Denn dadurch können wir schauen, wie Städte, die zwar in der Größenordnung ähnlich sind, sich aber in anderen Dimensionen und Strukturen unterscheiden, mit ähnlichen Herausforderungen umgehen. Alle haben bspw. den Druck, die Stadtverwaltung zu modernisieren, sprich: zu digitalisieren. Aber der Weg dorthin ist eben in Ost und West oder auch aufgrund unterschiedlicher sozioökonomischer bzw. politischer Voraussetzungen ganz verschieden. Dieser Städtevergleich ist uns sehr wichtig.
Vellani: Welche Faktoren diese Variation zwischen den Mittelstädten erklären, etwa Raum, Land, Mieten, Politik, demografische Strukturen usw., hängt auch von Trends ab. Auch Förderstrukturen in den unterschiedlichen Bundesländern spielen etwa bei Digitalisierungsprojekten eine entscheidende Rolle.
Im Dezember 2020 fand digital die erste Mittelstadtkonferenz des Graduiertenkollegs statt. Was waren die zentralen Erkenntnisse?
Kuhlmann: Ich würde sagen, dass es zunächst sehr wichtig war, mit den Städten überhaupt mal in Kontakt zu kommen. Bis dato bestand deren Interesse am Projekt nur auf Papier. Durch die Konferenz konnten wir uns kennenlernen, über Erwartungen sprechen, aber auch die Ideen der Doktoranden zusammentragen und schauen, welche Kommunen für konkrete Kooperation infrage kommen.
Vellani: Es war zudem wichtig zu sehen, dass ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten von „Mittelstädten“ besteht. Wir haben gemerkt, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt: Die Sorgen der Mittelstädte sind ähnlich gelagert und drehen sich bspw. um Klimawandel, Digitalisierung, Wohnungen, Revitalisierung der Innenstädte uvm. Gleichzeitig gibt es viel Optimismus und eine hohe Bereitschaft, sich zu beteiligen.
Der Ansatz ist partizipatorisch. Wie wird er umgesetzt und was erwarten Sie sich davon?
Vellani: Einer Umfrage zufolge betrachten 72 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer Partizipation als wichtiges Tool für die Gestaltung. Sie erwarten, dass sich mit ihrer Hilfe das Vertrauen in Institutionen stärken lässt. Gleichzeitig äußerten sie sich skeptisch bezüglich der Geschwindigkeit von Entscheidungsfindungsprozessen und der Frage, ob sich mit partizipativen Möglichkeiten wirklich alle Menschen in den Mittelstädten erreichen lassen. Beispiele für Methoden sind etwa Befragungen vor Ort sowie Online- Workshops, Roundtables, Planungsworkshops, Kinder- und Jugendbeteiligung, Real-Labore oder Bürgerkonferenzen und -foren.
Kuhlmann: Das Partizipative liegt im sogenannten agentenbasierten Ansatz. Die Forschenden treten mit dem Forschungsobjekt in Interaktion, man entwickelt etwas zusammen. Das geht bis hin zur Webseite des Kollegs, die unsere Doktoranden eigeninitiativ auf die Beine gestellt haben und die ein Alleinstellungsmerkmal des Kollegs ist. Diese hohe Initiative hat uns Professorinnen und Professoren sehr beeindruckt – und bislang ist da ein super Teamgeist in diesem Kolleg zu spüren!
Die Forschenden
Prof. Dr. Sabine Kuhlmann ist seit 2013 Professorin für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation und erforscht Verwaltungsreformen in international vergleichender Perspektive. Als Stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Normenkontrollrates berät sie die Bundesregierung in Fragen besserer Rechtsetzung und Bürokratieabbau.
E-Mail: sabine.kuhlmannuuni-potsdampde
Tomás Vellani studierte Politikwissenschaft an der Universität Buenos Aires und den Master National and International Administration in Potsdam. Seit 2020 ist er Doktorand des Graduiertenkollegs Mittelstadt als Mitmachstadt am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation der Universität Potsdam.
E-Mail: tomas.vellaniuuni-potsdampde
Das Projekt
Das inter- und transdisziplinär angelegte Graduiertenkolleg „Mittelstadt als Mitmachstadt – Qualitativer Wandel durch neue Kulturen des Stadtmachens“ zielt darauf ab, in ausgewählten Mittelstädten Zukunftsfragen und Transformationsanliegen zu untersuchen, um durch neue Formen des Stadtmachens und Mitmachens Veränderungen herbeizuführen. Das Graduiertenkolleg beleuchtet drei Arten von Transformationsprozessen, die einen qualitativen Wandel in Städten bewirken: Transformationen durch (physischen) Raum, Transformationen durch Prozesse und Dialog sowie Transformationen durch Governance und Institutionen. Alle von der Forschungsgruppe beobachteten Veränderungsprozesse beinhalten in gewissem Maße eine Kombination dieser Elemente. Das Interesse des Kollegs an Transformationen in kleinen Mittelstädten stellt lokale Verwaltungen als zentrale Akteure ins Zentrum ihrer Forschung. Diese verfügen über die Ressourcen, das Wissen und die Bereitschaft, den Wandel zu fördern. Außerdem sind sie wichtige Netzwerker, die die Tür zur Zivilgesellschaft, Firmen, Vereinen und anderen Gruppen öffnen.
http://www.mittelstadtalsmitmachstadt.de/
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2021 „Aufbruch“ (PDF).