Wenn Verena Adamik über das Thema ihrer Promotionsarbeit spricht, erwacht bei ihrem Gegenüber meist Neugier. „Es ist ein Thema, zu dem eigentlich jeder irgendeine Meinung hat“, sagt die Literaturwissenschaftlerin. „Die Leute erzählen dann, wie sie sich das alles vorstellen und warum das letzten Endes sowieso nicht klappen würde“, sagt sie und lacht. In ihrem Dissertationsprojekt ist sie der Frage nachgegangen, wie eine ideale Gemeinschaft aussehen könnte, woran sie scheitert und wann sie erfolgreich ist. Und welche Rolle das Selbstverständnis der USA als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ dabei spielt. Die Wissenschaftlerin hat diese Forschungsfragen anhand fünf historischer Romane aus der US-amerikanischen Geschichte untersucht. „In Search of the Utopian States of America“ – Auf der Suche nach den utopischen Staaten von Amerika – hat sie ihre Arbeit genannt, die sie 2020 auch als englischsprachiges Fachbuch publiziert hat.
Kommunen gab es schon lange vor den Hippies
Die Hippiebewegung der 1960er Jahre ist wohl das prominenteste Beispiel für eine Gemeinschaft, die sich gegen gängige Lebens- und Moralvorstellungen ihrer Zeit auflehnte. Von Grund auf US-amerikanisch und zugleich ablehnend gegenüber fest verankerten amerikanischen Werten wie Wohlstand, Kapitalismus und Konsum. „Aber schon lange vor den Hippies gab es in den USA Menschen, die sehr radikale Ideen von Reformen hatten und auch versuchten, diese umzusetzen“, erklärt Verena Adamik, die über eine Literaturrecherche tiefer in die Welt der Amischen, Mennoniten, Quaker, Owenites oder Shaker eintauchte. Gerade in der Mitte des 19. Jahrhunderts blühten in den USA zahlreiche Kommunen mit alternativen Lebensvorstellungen auf. Die Unterdrückung der Arbeiterklasse beenden, die Sklaverei abschaffen, in Harmonie mit der Natur leben, Bäuerin und gleichzeitig Intellektuelle sein, sich selbst versorgen oder alles gemeinschaftlich teilen, schlicht in einer besseren Gesellschaft leben – das waren häufig die Ziele dieser Gemeinschaften.
Die Autorin Marie Howland erzählt davon in ihrem Roman „Papa´s Own Girl“ aus dem Jahr 1874. „Heute ist der Roman fast vergessen, damals hat er aber über tausend Menschen dazu bewegt, sich einer Kommune anzuschließen“, erzählt Verena Adamik. Marie Howland selbst stammte aus sehr armen Verhältnissen, fing früh an, in einer Fabrik zu arbeiten, profitierte von den ersten Arbeiterbildungsprogrammen und war schließlich in den Intellektuellenkreisen New Yorks als Schriftstellerin, Feministin und Reformerin unterwegs. Sie schloss sich den Fourieristen an – einer Gemeinschaft, die auf den französischen Gesellschaftstheoretiker und Frühsozialisten Charles Fourier zurückging. Ihre Mitglieder wollten in einer Art landwirtschaftlichen Produktions- und Wohngenossenschaft zusammenleben und arbeiten. Die freie Liebe war ein wichtiges Konzept dieser Gemeinschaft.
Den Inhalt des Romans fasst Verena Adamik in einem Satz zusammen: „Frau muss sich scheiden lassen, trifft auf reichen, europäischen Grafen, gründet Gemeinde, Happy End.“ Ganz so einfach verlief Marie Howlands eigenes Leben scheinbar nicht: Sie war Mitbegründerin einer Kommune in Mexiko, die aber rasch scheiterte, da die wirtschaftlichen Grundlagen fehlten. Für die Amerikanistin Adamik ist Howland nicht nur eine faszinierende Persönlichkeit, sondern auch eine typische Vertreterin ihrer Zeit – inklusive hochgradig problematischer Überzeugungen. Die Befreiung versklavter Menschen etwa war ihr nicht so wichtig, ebenso wenig die Gleichstellung Schwarzer Menschen. „Der Roman hat auch Stellen, die richtig wehtun“, sagt Verena Adamik. Etwa wenn darüber diskutiert wird, ob für die Abschaffung der Sklaverei wirklich ein Bürgerkrieg notwendig gewesen wäre. „Aber auch das zeigt, was solche Gemeinschaften ausgemacht hat: Sie versuchen, ein, zwei Probleme zu lösen, wollen sich mit anderen aber nicht auseinandersetzen.“
Realität und Illusion
Neben „Papa´s Own Girl“ hat Verena Adamik vier weitere Bücher wissenschaftlich untersucht und analysiert. Mit der Lektüre der Bücher und einigen Notizen dazu ist die Arbeit der Forscherin freilich nicht getan. Im Gegenteil: Danach geht sie erst richtig los. Die Amerikanistin sucht nach Sekundärliteratur zu geschichtlichen Hintergründen und Fragen, die die Romane aufwerfen, liest Fachliteratur zu den Texten, Autorinnen und Autoren sowie zur Epoche. Anschließend nimmt sie sich die Bücher ein zweites Mal vor. Und ein drittes. Und viele weitere Male. „Jedes Buch, über das ich schreibe, habe ich mindestens zehn Mal angefasst“, sagt die Wissenschaftlerin. Etwa ein halbes Jahr Arbeit hat sie in jedes Buch gesteckt, um sich wirklich ein vollständiges Bild davon zu machen.
Am Ende dieses Prozesses, der in Fachkreisen „Close Reading“ genannt wird, ist das Buch mit zahlreichen Notizen und Unterstreichungen versehen, auf jeder dritten Seite stecken Klebezettel in unterschiedlichen Farben. „Orange steht für Landschaftsbeschreibungen, Grün für alles, was die utopische Gemeinschaft betrifft, Pink für die Liebe und Gelb für alles andere, das wichtig ist“, erklärt Adamik die Farbwahl ihres Arbeitsexemplars von „The Emigrants“ des Autors Gilbert Imlay. Der Roman erschien 1793 und wurde einst als der erste amerikanische Roman überhaupt gehandelt. „Hier kommt alles zusammen“, beschreibt Adamik das Buch: „Der perfekte Held, die perfekte Heldin, die perfekte Landschaft und das perfekte Land.“ Vor dieser Kulisse gründen die Protagonisten eine Gemeinschaft, in der ebenfalls alles perfekt ist und alle glücklich sind. Der Autor zeichnete das Bild dieser idealen Gemeinschaft allerdings nicht ganz uneigennützig: „Er wollte damit Land verkaufen“, erklärt Adamik. „Und bediente mit seiner Geschichte natürlich das Klischee des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten.“
Was an diesem Versprechen Realität und was Illusion ist, zeigt die Analyse der Romane, die auch viel darüber verrät, worin die Menschen dieser Zeit die Vor- und Nachteile der USA sahen. Literaturwissenschaft mischt sich hier mit Geschichts- und Kulturwissenschaft. In den Büchern, aber auch in der Geschichte zeige sich: „Je besser die Strukturen geplant und durchdacht waren, desto erfolgreicher waren die Kommunen.“ Eine solide wirtschaftliche Basis, handwerkliches Können, faire Güterverteilung und gemeinsame, verbindliche Werte waren – und sind – gute Garanten für ein erfolgreiches Zusammenleben. „Religiöse Gemeinschaften sind dabei oft erfolgreicher, weil sie ein ähnliches Weltbild haben“, sagt Adamik.
Ein Weg aus der Unterdrückung
Über das Motiv der Kommune wird in den untersuchten Büchern immer wieder verhandelt, ob die Menschen die USA und die Welt verbessern können. Schließlich sei es auch der Anspruch einer jeden Kommune, sofort und im Hier und Jetzt ein besseres Leben zu führen. „Der Utopie-Gedanke war gerade auch für Afro-Amerikanerinnen und -Amerikaner sehr attraktiv“, erklärt Verena Adamik. Nach dem Bürgerkrieg habe es ein kurzes Zeitfenster gegeben, in dem für sie Chancen bestanden, ihre Lebenssituation zu verbessern. Schwarze besaßen etwa Wahlrecht oder konnten wichtige politische Ämter bekleiden. „Als sich dieses Zeitfenster wieder schloss“, sagt die Forscherin, „begann für Schwarze in den USA eine unglaublich schlimme Zeit.“ Lynchmorde waren an der Tagesordnung, Schwarze erhielten die niedrigsten Löhne, wurden benachteiligt, wo es nur ging. „In dieser Zeit fragten sich viele Schwarze Intellektuelle, wo der Ausweg liegen könnte.“ Auch in der Schwarzen Community erlebten utopische Gemeinschaften daraufhin einen Aufschwung. „Bis heute findet man diesen Gedanken beispielsweise in Urban Gardening- Projekten, die in den USA überwiegend von Afro- Amerikanerinnen und -Amerikanern betrieben werden, um die Nachbarschaft mit frischem Gemüse zu versorgen“, so die Amerikanistin.
Während Verena Adamik mit ihrem Thema in Deutschland neues Land betritt, gibt es in den USA mit den „Communal Studies“ bereits eine ganz eigene Fachrichtung, die Geschichte und Gegenwart der Kommunen erforscht. Im Netzwerk „Society of Utopian Studies“ finden sich Forscherinnen und Forscher verschiedener Disziplinen zusammen, die sich dabei ganz dem utopischen Aspekt widmen. Auch für ihr Folgeprojekt steht Verena Adamik, die mit „Talking American Studies“ einen eigenen Podcast ins Leben gerufen hat, in dem sie aktuelle Forschung aus der Amerikanistik vorstellt, in engem Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen dieses Netzwerks. Diesmal geht es ins 20. Jahrhundert, zu Romanen, in denen große Verschwörungen zur Weltverbesserung angezettelt werden. „Schattenstaaten und andere Formen von groß organisiertem Widerstand gegen Rassismus sind hier das Thema, das literaturwissenschaftlich noch nicht bearbeitet wurde“, erklärt Adamik, die daraus –„wenn alles klappt“ – ihr Habilitationsprojekt machen wird.
Die Forscherin
Dr. Verena Adamik studierte Englische Literaturwissenschaften, Amerikanistik und Psychologie an der Universität Würzburg. Seit 2013 forscht sie an der Universität Potsdam und promovierte 2018.
E-Mail: verena.adamikuuni-potsdampde
Das Buch
„In Search of the Utopian States of America“ ergründet anhand fünf historischer Romane aus der US-Amerikanischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, wie das Selbstverständnis der USA als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ mit der Gründung von utopischen Kommunen zusammenhängt. Erschienen ist das englischsprachige Fachbuch im Dezember 2020 beim Verlag Palgrave Macmillan.
ISBN: 978-3-030-60279-6
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2021 „Aufbruch“ (PDF).