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„Der Sound einer Generation“ – Die Romanistin Prof. Dr. Annette Gerstenberg untersucht die Sprache im Alter

Auf dem Foto ist Frau Prof. Dr. Annette Gerstenberg zu sehen. | Foto: Tobias Hopfgarten
Zwei Personen unterhalten sich an einem Holztisch | Foto: AdobeStock/Comeback Images
Foto : Tobias Hopfgarten
Prof. Dr. Annette Gerstenberg
Foto : AdobeStock/Comeback Images
Die Romanistin Prof. Dr. Annette Gerstenberg untersucht die Sprache im Alter.

Annette Gerstenberg hat ein ungewöhnliches Steckenpferd. Sie interessiert sich für Sprache. Als Professorin für Romanische Sprachwissenschaft für Französisch und Italienisch an der Universität Potsdam ist das freilich ganz normal. Doch ihre Leidenschaft gilt seit Langem einem eher vernachlässigten linguistischen Feld: der Sprache des Alters. Nach über 15 Jahren Forschungsarbeit überrascht ihr wissenschaftliches Urteil: Die Sprache des Alters gibt es gar nicht. Dafür sei Sprechen im Alter umso spannender und zeige, dass Menschen ein Leben lang lernen und dass man den Wert von Erfahrung nicht unterschätzen sollte.

Wie Menschen sprechen lernen, vom frühesten Brabbeln bis zur komplexen Grammatik, wird seit Jahren breit erforscht. Zu welchen Höchstleistungen das menschliche Hirn dafür schon in frühen Kindheitsphasen aufläuft, begeistert Forschende, Eltern und Öffentlichkeit. Aber was passiert eigentlich mit unserer Sprache, wenn wir älter werden? Was lernen wir noch und was nicht (mehr)? Was verlieren, was gewinnen wir? Wie fangen wir Defizite auf, setzen wir erworbene sprachliche Fertigkeiten ausgleichend ein? „Wie sich Sprache im Alter verändert – und was gleich bleibt –, ist bislang noch wenig erforscht“, erklärt Annette Gerstenberg. Im 20. Jahrhundert hätten Stereotype und pauschale Urteile das Feld beherrscht. „Sprachentwicklung über ein Menschenleben wurde wie ein umgedrehtes U beschrieben – mit dem Höhepunkt zur Mitte und einem anschließenden kontinuierlichen Verfall.“ Mitunter habe man sich gefragt, ob ältere Menschen überhaupt in linguistische Studien einbezogen werden dürften oder doch eher ein Fall für medizinische Untersuchungen seien.

Die eine Sprache des Alters gibt es nicht

Annette Gerstenberg hat diese Frage für sich längst beantwortet. Sie forscht seit über 15 Jahren zur Sprache im Alter. Und die Ergebnisse ihrer bisherigen Arbeit geben ihr Recht: „Im Alter wird weiter wirkungsvoll kommuniziert“, sagt sie. Dabei ist eine der zentralen Erkenntnisse ihrer Untersuchungen: Die eine – typische – Sprache des Alters gibt es gar nicht. Zu verschieden seien die grammatikalischen Strategien, prosodischen Muster, lexikalischen Repertoires. Immerhin ließen sich Gemeinsamkeiten bei Sprecherinnen und Sprechern einer Generation feststellen. „Alter Anist – neben den körperlichen und kognitiven Voraussetzungen – das Produkt von Performance, Sozialisation, bewussten Entscheidungen, Anlagen und Selbstbeschreibungen“, erklärt Gerstenberg. „Alles in allem ist Alter ein ziemlich aktiv gemanagter Prozess. Das gilt auch für die Sprache.“ Um dieser Vielschichtigkeit gerecht zu werden, hat die Linguistin gemeinsam mit einer belgischen Kollegin ein interdisziplinäres Netzwerk gegründet: Corpora for Language and Aging Research. „Pragma-, Psycho- und Soziolinguistik, computerlinguistische Modellierungen, praxisrelevante Forschung – der Blick über den Tellerrand drängt sich geradezu auf.“

Mit ihren eigenen Untersuchungen begann die Romanistin nach der Promotion. Für ihr Habilitationsprojekt war sie auf der Suche nach einem Feld, das noch nicht „auserforscht“ war – wie die Sprache im Alter. Ein geeignetes Untersuchungsgebiet fand sie im französischen Orléans. Dort erhob eine Arbeitsgruppe bereits seit den 1960er Jahren linguistische Daten, an die Annette Gerstenberg anknüpfen und die sie für Vergleiche heranziehen konnte. 2005 begann die Linguistin damit, Freiwillige für Interviews zu gewinnen. „Ich stellte mich in die Fußgängerzone und fragte Leute, ob sie bereit seien, mir von ihrem Leben zu erzählen. Dabei musste ich lernen, dass alte Menschen sehr beschäftigt sind.“ Auch über Kollegen und in Senioreneinrichtungen fand sie Menschen, die bereit waren, an ihrem Projekt teilzunehmen. Insgesamt 56 Interviews hat sie in der ersten Runde geführt, die meisten der Befragten waren zwischen 70 und 90 Jahren alt, einige – als Kontrollgruppe – jünger. Die Interviews waren an die Methoden der Oral History angelehnt, mit der Annette Gerstenberg schon während ihres Magisterstudiums Erfahrungen gesammelt hatte. „Dass Orléans in den 1940er Jahren unter deutscher Besetzung stand, ist ein wichtiges Interesse der Interviews.“ Die Form des stark monologischen Erzählens eignete sich gut für die Untersuchung: „Um vergleichbares Sprachmaterial zu erhalten, habe ich eine immer gleiche Serie von Themen angesprochen und abgefragt“, erklärt sie. „Dabei musste ich meine Interviewpartner natürlich ins Sprechen bringen – und gegen den Dialog steuern.“ Gerade bei Jüngeren sei dies keine leichte Aufgabe gewesen, während Ältere häufig bereitwillig größere, eingespielte Erzählungen aus ihrem Lebensbericht wiedergaben. Die Sprachproben dienten dazu, spontan und zusammenhängend entstandene Daten zu sammeln, die sich linguistisch auswerten lassen. „Ich wollte bestimmte Sprachdaten erheben, die aussagekräftig für den Sprachgebrauch sind – etwa für die Negation, der Satzlänge, Pausen und Lexik, zum Verhältnis zur Standardsprache und vieles mehr.“
Die anschließende Analyse zeigte: „Es gibt so etwas wie einen Sound einer Generation“, sagt Annette Gerstenberg. Dieser speise sich aus dem gemeinsamen Bildungshorizont, der etwa das Verhältnis zu Spracherwerb und -gebrauch ein Leben lang prägt und geteilten Erfahrungen. „Meine Gesprächspartner waren stark auf die schulisch vermittelte Schriftsprache, das Standardfranzösisch, bedacht, was sich in der Wortwahl, der Satzplanung und vielem mehr zeigt.“ Auch Geschlechter- und Rollenbilder, die sich im Sprachgebrauch widerspiegeln, lassen sich bestimmten Generationen zuordnen.

Pausen beim Sprechen besser nutzen

Einige Eigenheiten, die das Sprechen im Alter charakterisieren und von der Sprache jüngerer Menschen unterscheiden, hat die Linguistin aber doch ausgemacht. „Wenn im Laufe des Lebens die Kraft – auch zum Sprechen – nachlässt, hat das Auswirkungen auf Dinge wie Pausenlänge und -art oder Prosodie“, erklärt sie. An den Interviews lässt sich erkennen, dass sogenannte gefüllte Pausen, also solche, in denen Menschen ‚äh‘ oder ‚öh‘ sagen, während sie nach passenden Worten suchen, im Alter weniger werden. Denn für diese braucht man Kraft. „Dadurch können sie das Sprechtempo aufrechterhalten und setzen die wenigen noch vorhandenen Pausen im Erzählen gezielt ein. Daran zeigt sich die Erfahrung im Sprechen bzw. Erzählen, die Ältere haben – und die sie nutzen, um Defizite, wie abnehmende Kraft oder nachlassendes Gedächtnis zu kompensieren.“ So zeigten die Satzplanung sowie die Struktur längerer Erzählabschnitte, dass ältere Menschen gezielt auf erprobte Muster und eingespielte Sprechhandlungen setzten. „Dieses Verhältnis von Konstanz und Dynamik interessiert mich bei der Sprache im Alter besonders: Was bleibt stabil? Was ändert sich?“, erklärt Annette Gerstenberg. „Wie finden Erzählungen ihre Festigkeit, wie werden sie immer wieder eingesetzt? Wie entwickeln sich Erzählpraktiken über die Lebensspanne? Und an welchen Stellen lässt sich dies an der Sprache zeigen?“

Andere Unterschiede hätten soziale Ursachen. So würden viele Menschen ihre Sprache im Laufe des Lebens aktiv ändern. „Wer jung ist, will cool sprechen“, erklärt die Linguistin. Später arbeiteten die meisten Menschen auf eine Karriere hin, bemühten sich seriös zu werden – und passten ihre Sprache daran an. Hier ist die Sprache des Älterwerdens ein bewusst gewähltes Mittel. Ähnlich funktioniert der Einsatz von sprachlichen Mitteln, die kommunikativ Alter „herstellen“. Im Gespräch mit Jüngeren wählten ältere Menschen beispielsweise häufig, so die Linguistin, Formulierungen, in denen sie sich selbst alt „machen“ („trotz meines Alters“).

2011 veröffentliche Annette Gerstenberg ihre Habilitation zu „Generation und Sprachprofilen im höheren Lebensalter“. Abgeschlossen hatte sie damit aber keineswegs. Schon ein Jahr später kehrte die Romanistin nach Orléans zurück mit dem Ziel, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen. Immerhin 34 der Interviewpartnerinnen und -partner konnte sie abermals ausfindig machen und erneut befragen. Dasselbe wiederholte sie 2015 und konnte weitere 23 Interviews führen; zusätzlich zu den Wiederaufnahmen wurden neue Personen einbezogen, um eine gleichmäßige Zusammensetzung zu erhalten. Eine vierte Runde, die sie 2020 geplant hatte, wurde durch die Corona-Pandemie ausgebremst. Dennoch ist so nicht nur ein Quer-, sondern auch ein Längsschnitt entstanden, mit dessen Hilfe weitere Analysen dazu möglich sind, wie sich die Sprache im Alter verändert. So war unter den Befragten eine Frau, bei der sich nach einiger Zeit Anzeichen von Demenz zeigten. Annette Gerstenberg begann, sie jährlich zu interviewen, um zu untersuchen, wie die Krankheit sich auf ihre Sprache auswirkt. „Es ist erstaunlich: Bestimmte sprachliche Strukturen erweisen sich als überaus stabile Ressource, die sogar der Demenz widersteht.“ Vor allem die fester gefügten (Selbst-)Erzählungen blieben verfügbar. „Während ihr einfacher Smalltalk zunehmend schwerer fiel, gab es einen regelrechten Kippeffekt, wenn sie in die wiedererzählte Geschichte ihres Lebens wechselte“, erklärt die Linguistin. „Bestimmte Erinnerungen, aber auch erprobte Sprechhandlungen, die geradezu melodiös wirkten, als würden sie gesungen, erwiesen sich als weitgehend resistent.“

Ein Korpus für viele Forschende

Mit den Sprachdaten ihrer Interviews arbeitet Annette Gerstenberg bis heute. Immer tiefer dringt sie in das Material ein und erschließt neue Facetten. „Wir nutzen verschiedene computerlinguistische Auswertungsverfahren – Spracherkennung, lexikalische Statistik, maschinelles Auslesen des Wortschatzes“, sagt sie. „Aber ganz ohne Handarbeit geht es bis heute nicht. Sprechpausen lassen sich schon ganz gut computergestützt erfassen, aber ob es in diesen Phonation, also Stimmbildung, gibt, müssen wir nach wie vor nachhören und annotieren.“ Mehr als 120 Aufnahmen sind vollständig transkribiert und zusammen mit der Audioaufnahme verfügbar, größtenteils in einer Datenbank, wo Text und Ton zusammen abgefragt werden können. Aus dieser Datenbank werden für die jeweiligen Zwecke gezielt Teilkorpora zusammengestellt, in denen sprachliche Merkmale ermittelt werden: Prosodie und Lexik, Grammatik wie die im Französischen sehr interessanten Formen der Verneinung – oder die eingestreuten Erzählungen. Die Linguistin hat die Datenbank für die Forschungscommunity geöffnet, soweit dafür eine Autorisierung der Beteiligten vorliegt. „LangAge“ soll Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen linguistischen Teil- und verwandten Disziplinen Material bieten, die sich mit der Sprache des Alters beschäftigen. Annette Gerstenberg selbst interessiert aktuell besonders die Auswertung der Längsschnittstudie. Wie verändert sich das Erzählen selbst, aber auch die Einbindung der Erzählungen in das Interviewgespräch? Und in einem weiteren Schritt kann die Forschung vom Alter lernen: „Gibt es Sprechhandlungen, die an bestimmte Lebensphasen gebunden sind und wie lassen sie sich erkennen?“ Die Frage, die sie sich damit stellt, ist also weniger wie die Sprache des Alters aussieht, als: Wie wird Sprache in unterschiedlichen Altersgruppen genutzt?
Die Möglichkeiten des LangAge-Korpus sind damit allerdings nicht erschöpft. Da die Gespräche in der Tradition der Oral History konzipiert und geführt wurden, hat Annette Gerstenberg bereits damit begonnen, sie auch aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft auszuwerten. Tatsächlich verwendeten einige Interviewpartnerinnen und -partner ganz unbefangen einstige Propagandabegriffe wie „in Deutschland arbeiten gehen“ für Zwangsarbeit („service du travail obligatoire“). Menschen, die selbst Zwangsarbeit erfahren hatten, vermieden diese hingegen und verwendeten typische Selbstbezeichnungen, das ergab der Vergleich mit Interviews des Zwangsarbeit-Archivs der Freien Universität Berlin. Um weitere Analysen dieser Art zu ermöglichen, kooperiert die Linguistin mit den Forschenden von der Freien Universität Berlin in der Nutzung der digitalisierten Archivbestände. „Die Arbeit an übergreifenden Fragestellungen bringt einen richtigen Mehrwert.“

Das „Corpora for Language and Aging Research“ (CLARe) ist ein Netzwerk, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt zusammenbringt, die zur Sprache des Alters forschen. Das CLARe wurde 2014 gegründet und soll eine Arena für empirische Ansätze und innovative Methoden zur Erhebung von Sprachdaten älterer Erwachsener bieten. Im kommenden Jahr findet an der Universität Alaska Anchorage die fünfte Netzwerkkonferenz statt, frühere Treffen gab es in Belgien, Berlin und Helsinki.

www.clare-corpora.org

Das Korpus

Das LangAge-Korpus ist ein Längsschnitt-Korpus (2005 – 2015). Es besteht aus narrativen biografischen Interviews mit älteren Französischsprechern (meist über 70 Jahre alt) aus der Stadt Orléans.

www.langage-corpora.org

Die Forscherin

Prof. Dr. Annette Gerstenberg studierte Mittlere und neuere Geschichte, Romanistik/Italienisch sowie Geographie in Bonn, Perugia und Jena. Seit 2017 ist sie Professorin für Romanische Sprachwissenschaft (Französisch/Italienisch) an der Universität Potsdam.
E-Mail: annette.gerstenberguni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2021 „Aufbruch“ (PDF).