Das Kürzel ReDICo steht für „Researching Digital Interculturality Co-operatively“ – das klingt spannend. Was ist „Digitale Interkulturalität“ überhaupt?
In Anlehnung an den deutschen Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Jürgen Bolten verstehen wir unter Interkulturalität eine Situation, in der die vermeintliche Vertrautheit der eigenen Kultur fehlt. Durch die Digitalisierung hat die Verflechtung und Komplexität der Lebenswelten deutlich zugenommen, befeuert durch eine Vielzahl neuer Kommunikationsplattformen, wie z.B. Social Media aller Art, WhatsApp und Online-Nachrichten. Wir verwenden daher den Begriff „digitale Interkulturalität“ für diese gestiegene Komplexität des Alltags in verschiedenen digitalen Kommunikationszusammenhängen. Das ist unser Thema und kooperative Forschung die Essenz unserer Zusammenarbeit.
Was hat Sie bewogen, am Bewerbungsprozess teilzunehmen?
Meine Motivation, diesen Antrag einzureichen, war der spannende wissenschaftliche Austausch, den ich mit Luisa Conti, Roman Lietz und Fergal Lenehan vor der Erstellung der Projektskizze von ReDICo hatte. Der Schreibprozess, der von November 2019 bis Januar 2020 dauerte, war lang, aber sehr demokratisch, wobei wir alle gleichermaßen zum Produkt beitrugen. Eine meiner Erkenntnisse aus dem Prozess war, dass es per se auch eine Art der interkulturellen Kommunikation ist, aus der eigenen wissenschaftlichen Community -
in meinem Fall die angewandte/kulturelle Linguistik - herauszukommen und mit Forschenden anderer Disziplinen zu sprechen. Wir alle haben ein Interesse an Kultur als Thema wissenschaftlicher Untersuchung und vertrauen auf unterschiedliche theoretische und methodologische Rahmen. Was anfangs ziemlich schwierig zusammenzubringen schien, stellte sich in vielerlei Hinsicht als komplementär heraus.
Zum Auftakt des Forschungsprojekts wurde ein Beitrag mit dem Titel „Digital Interculturality: A Digital Turn for Intercultural Communication Studies“ in einer Konferenz der International Association for Languages and Intercutural Communication (IALIC) im November gehalten. Ist da von einem Paradigmenwechsel in großem Stil die Rede?
Einerseits können wir bereits jetzt sagen, dass die Digitalisierung die interkulturelle Kommunikation in einer Weise beeinflusst hat, die in naher Zukunft zu einer teilweisen Neuausrichtung der Disziplin führen könnte. Andererseits sind wir auch der Meinung, dass das Studium der Online-Kommunikation aus der Perspektive der interkulturellen Kommunikationstheorie ein wertvoller Ansatz sein kann. Auf diese Weise ließen sich kommunikative Muster verstehen, die in den vergangenen Jahren relevant geworden sind, von kooperativem und synergetischem Austausch bis hin zu Radikalisierung und Polarisierung. Unser Projekt umfasst vier empirische Studien und eine Phase der Theoriebildung im letzten Jahr. Zunächst wollen wir verschiedene Ströme digitaler interkultureller Kommunikation - z.B. Tweets, Facebook und Kommunikation über Videokonferenz-Tools - untersuchen, indem wir sowohl etablierte als auch innovative Analysemodelle interkultureller Kommunikation verwenden und dabei neue Perspektiven, insbesondere aus dem interdisziplinären Feld der Internet Studies, einbringen.
Worin sehen Sie den größten Mehrwert von ReDICo für die Universität Potsdam?
Von dem an der Universität Potsdam laufenden Teilprojekt „Digitale Communities und interkulturelle Online-Kompetenz“ erwarte ich, dass die Themen Interkulturelle Kommunikation, Interkulturelle Spiele und Englisch als Lingua franca besonders bei den Studierenden des Instituts für Anglistik und Amerikanistik präsenter werden. Viele von ihnen werden in Zukunft Englisch unterrichten, und es erscheint mir äußerst wichtig, sie dazu anzuregen, über den Gebrauch der englischen Sprache als Mittel zur interkulturellen Kommunikation in der digitalen Welt nachzudenken.
Was ist Ihr konkretes Vorhaben als Linguistin der Universität Potsdam?
Meine erste ReDICo-Studie dreht sich um interkulturelle Planspiele in Online-Umgebungen. Dafür entwickle ich BA- und MA-Kurse, die im Sommer- und Wintersemester online angeboten werden. Darin können die Studierenden ein interkulturelles Simulationsspiel mit einem Team einer anderen Universität spielen und dabei ihre interkulturellen Kommunikationsfähigkeiten üben, diskutieren und bewerten. In diesem Kurs werden unter Einhaltung aller notwendigen ethischen Verfahren Daten gesammelt, die ich für meine Studie verwenden kann. Das Spiel wird in den Kursen natürlich durch theoretische Diskussionen ergänzt, insbesondere über die Rolle und Funktion von Englisch als Lingua franca sowie über die Säulen der Interkulturellen Kompetenz. Solche Diskussionen sind wichtig für unsere mit digitalen Medien aufgewachsenen Studierenden, die wahrscheinlich täglich digitale interkulturelle Kommunikation erleben.
Wie läuft die Arbeit im interdisziplinären Projektverbund ab – sowohl organisatorisch als auch zeitlich?
Unsere Teamarbeit ist hervorragend, was wohl daran liegen könnte, dass wir von Anfang an gemeinsam über den Begriff „Teamarbeit“ reflektiert haben. Wir haben uns die Zeit genommen, uns gegenseitig kennenzulernen, und zwar nicht nur die Kernteams, sondern auch alle HiWis, die am Projekt teilnehmen. Diese Nähe und das Vertrauen zueinander haben uns durch die Anfangsphase des Projekts geholfen. Wir sind traurig, dass wir uns als Team bislang nur ein einziges Mal in persona getroffen haben. Das war im Januar 2020, als wir noch unseren Antrag schrieben. Zugleich sind wir glücklich zu erleben, dass die digitale Kommunikation auch Synergien fördern kann.
Die ReDICo-Kooperationspartnerschaften sind grenzübergreifend. Wie stellen Sie sich hierbei einen idealen wissenschaftlichen Austausch vor?
Wir freuen uns, als Projektpartner unser internationales Netzwerk zu haben, zu dem Forschende der Universitäten von Minas Gerais (Brasilien), Limerick (Irland) und Tel Aviv (Israel) gehören. Mit ihnen werden wir während des gesamten Projekts intensiv zusammenarbeiten.
Die Forscherin
Die Linguistin Dr. Milene Mendes de Oliveira von der Universität Potsdam untersucht im Projekt ReDICo die Verwendung von Englisch als Lingua franca und die Entwicklung interkultureller Kompetenz in virtuellen Räumen. Ihr Ziel ist es, Aufschluss über neue Methoden für den Fremdsprachenunterricht in interkulturellen digitalen Räumen zu geben.
Neben Dr. Milene Mendes de Oliveira gehören Dr. Luisa Conti und PD Dr. Fergal Lenehan von der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Dr. Roman Lietz von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zum Kernteam des Verbundprojekts, die u.a. Themen wie Neo-Nationalismus und Neo-Kosmopolitismus in Internetforen untersuchen.
Finanziert wird das vierjährige Forschungsprojekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit einer Summe von ca. 2,1 Millionen Euro. Das Fördervolumen in Potsdam beträgt rund 500.000 Euro.
Darüber hinaus kooperiert ReDICo mit Partnerinnen und Partnern der Universidade Federal de Minas Gerais in Brasilien, der University of Limerick in Irland sowie mit dem Kibbutzim College of Education, Technology and the Arts in Israel. Um die Zusammenarbeit mit ihnen aufrechtzuerhalten und neue Partnerschaften aufzubauen, errichtet die Forschungsgruppe eine zukunftsfähige, frei zugängliche virtuelle Plattform, auf der sich Wissenschaftlerinnen wie Wissenschaftler vernetzen und Publikationen, Call-for-Papers und andere relevante Informationen über digitale Interkulturalität austauschen können. Außerdem organisiert die Forschungsgruppe drei internationale digitale Konferenzen zusammen mit ihren Partnerinnen und Partnern in aller Welt.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2021 „30 Jahre Uni Potsdam“ (PDF).