Frau Köster, Frau Vladova: Sie beide forschen zur Digitalisierung in Bildungskontexten. Wie fällt Ihr Fazit nach einem Dreivierteljahr aus: Hat die Digitalisierung funktioniert?
Köster: Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Schulschließungen im Frühjahr 2020 haben alle Schulen in Deutschland mit der Aufgabe konfrontiert, für die Schülerinnen und Schüler ein breit gefächertes Spektrum an digitalen Lernangeboten zu entwickeln, um Hybrid- und Distanzunterricht zu ermöglichen. Die Schulschließungen waren insbesondere für Grundschulen eine große Herausforderung, da nicht alle Lehrerinnen und Lehrer über die notwendigen (digitalen) Kompetenzen verfügten, noch entsprechende digitale Lernangebote in den Fächern bereitstanden. Zudem hatten einige Kinder keinen Zugang zu digitalen Endgeräten oder waren noch nicht geübt und eingearbeitet im Umgang mit diesen Geräten. Dort, wo es keine digitalen Endgeräte gab, haben die Lehrer während der Schulschließung auch Unterrichtsmaterial persönlich in die Haushalte gebracht oder per Post verschickt. Insbesondere hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, dass Kinder den Bezug zur Schule und ihrem sozialen Umfeld behalten sowie an einem regelmäßigen Schulalltag teilnehmen.
Vladova: Bei den Universitäten war der Übergang deutlich reibungsloser. Dozenten und Studierende haben diesen sehr gut gemanagt und sehr wichtige Erfahrungen gesammelt. In den Vordergrund sind zunehmend methodische und didaktische Kompetenzen gerückt und es wurde vieles angewendet und ausprobiert. Auch Chancen, Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Unterrichtraums sind direkt erkennbar geworden.
Wie hat diese Digitalisierung die Bildung in Zeiten von Corona verändert?
Köster: Am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Soziale Medien und Gesellschaft von Prof. Dr. Hanna Krasnova haben wir zwei empirische Studien zu dieser Frage durchgeführt. Zum einen haben wir Eltern von Schülerinnen und Schülern in den USA zu der aktuellen Situation befragt, zum anderen Schulleitungen und Lehrer von Grundschulen in Deutschland nach den Schulschließungen interviewt. Die Schulleitungen und Lehrenden haben zurückgemeldet, dass sich in den Grundschulen innerhalb des Kollegiums die Einstellungen zu digitalen Lernmethoden gewandelt haben. Lehrer haben in dieser besonderen Ausnahmesituation gemerkt, dass die eingetretenen Pfade nicht immer weiterverfolgt werden können, dass man flexibler agieren muss und auf die Digitalisierung und die digitalen Endgeräte angewiesen ist. In höheren Jahrgangsstufen ist der Einsatz von digitalen Lernangeboten oftmals reibungslos abgelaufen. Auch die Kommunikation unter den Lehrenden im Kollegium ist während der Schulschließungen größtenteils digital verlaufen und Erfahrungen mit Videokonferenzen sind durchaus positiv zurückgespiegelt worden. Demzufolge zeigen die Interviews, dass die Schulen der Digitalisierung positiver gegenüberstehen, da die heutige Zeit digitale Lernangebote braucht. Das ist nicht zuletzt ein Gewinn der Corona-Zeit.
Vladova: Die Lockdown-Situation hat schnelles und alternativloses Handeln notwendig gemacht und alle, die gehandelt haben, haben viel Erfahrungswissen gesammelt. Unsicherheiten und die Angst, Fehler zu machen, konnten dadurch minimiert und Kompetenzen bei Lehrenden und Lernenden aufgebaut werden.
Köster: Auch eine Online-Befragung von gut 300 Eltern in den USA im April 2020 hat gezeigt, dass die große Mehrheit digitale Bildung befürwortet und nur sehr wenige Eltern eine ablehnende Einstellung gegenüber digitaler Bildung äußerten.
Wie fällt das Fazit von Lehrenden sowie Schülerinnen und Schülern nach dem ersten Lockdown aus?
Köster: Insbesondere die Eltern von Grundschulkindern waren dankbar, dass die Zeit des Homeschooling bzw. Distanzunterrichts zu Ende gingen und die Familien wieder in einen halbwegs geregelten Alltag zurückkehren konnten, ohne Betreuungsprobleme. Die Eltern haben direkte Erfahrungen mit der Vermittlung von Lerninhalten gemacht und eine höhere Wertschätzung gegenüber der Arbeit der Lehrkräfte gezeigt. Diese Wertschätzung wurde lange vermisst und sehr positiv von den Schulen zurückgemeldet. Die Schülerinnen und Schüler haben sich gefreut, dass sie wieder in die Schule und zu ihren Freunden zurückzukehren konnten. Das für die Entwicklung so bedeutende soziale Lernen findet im digitalen Unterricht praktisch nicht statt. Fakt ist, dass der Hybrid- und Fernunterricht nicht die Qualität des Präsenzunterrichts in der Grundbildung erreicht, denn jüngere Schülerinnen und Schüler haben ohne Unterstützung durch Erwachsene nicht die gleiche Lernkompetenz.
Welche Inhalte und Lernformate lassen sich digital erfolgreich vermitteln und bei welchen ist das eher schwierig oder nicht möglich?
Köster: Die Grundschulen haben uns in den Interviews zurückgemeldet, dass die Vermittlung der Erstlesestrategien und die Alphabetisierung digital nur bedingt abbildbar sind. Inhalte wie Theater, Musik und Sport sind für den Distanzunterricht nicht wirklich geeignet. Künstlerische und naturwissenschaftliche Angebote wurden von den Grundschülern gerne bearbeitet und auch Deutsch- und Englischangebote eignen sich für den digitalen Distanzunterricht.
Vladova: Im universitären Kontext hat der Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, Prozesse und Systeme von Prof. Dr. Norbert Gronau eine Umfrage mit rund 900 Studierenden aus unterschiedlichen Universitäten durchgeführt. Diese haben sich grundsätzlich positiv aufgeschlossen in Bezug auf digitale Bildung geäußert. Jedoch bestehen Unterschiede bei den Erwartungen von Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen sowie bezüglich verschiedener Unterrichtsformate. Vorlesungen lassen sich unproblematisch in den digitalen Raum übertragen und das bringt verschiedene Vorteile mit sich (z.B. die Möglichkeit, Vorlesungsaufzeichnungen mehrmals oder flexibel zu sehen). Übungen, Projektarbeit oder Praktika dagegen sind mit größeren Herausforderungen für den digitalen Unterricht verbunden. Noch schwieriger ist es, spezielle Unterrichtsformen, z.B. kreative Studiengänge, Kunst-, Musik- oder Theaterunterricht, entsprechend zu gestalten. Diese sind sehr stark auf die soziale Komponente des Unterrichts angewiesen.
Was muss getan werden, um Schulen und Hochschulen noch besser für eine digitale Zukunft zu rüsten?
Köster: Schulen in Deutschland sind digital sehr unterschiedlich aufgestellt und je nach Unterrichtsgegenstand ist das digitale Angebot mehr oder weniger umfangreich. Zukünftig wird ein mit dem Lehrplan kompatibles Angebot für das digitale Lernen gewünscht und die technische Ausstattung der Schulen ist ja bereits auf den Weg gebracht. Schulinterne Fortbildungsangebote würden das gesamte Lehrerkollegium einheitlich auf den neusten Stand bringen.
Vladova: Unsere Umfragen unter Dozierenden und Studierenden lassen den Schluss zu, dass Herausforderungen insbesondere bei der (u.a. zentralen) Organisation und Koordination der Prozesse des digitalen Lernens sowie den passenden didaktischen Konzepten erkennbar sind. Hierzu wären z.B. Arbeitsgruppen oder Möglichkeiten zur Vernetzung und Erfahrungsaustausch eine Empfehlung. Des Weiteren sind Weiterbildungen für Lehrende notwendig. Hierzu gibt es diverse Angebote. Es wäre denkbar, eine zentrale Stelle einzurichten und damit zu beauftragen, diese gezielt zu empfehlen und darüber zu informieren. Insgesamt ist die Akzeptanz bei Lehrenden und Lernenden als die niedrigste Hürde gesehen. Auch die technischen Voraussetzungen werden im Vergleich zu Organisation als unkritischer eingestuft. Und dennoch lassen sich, wie bereits diskutiert, nicht alle Lehrveranstaltungsarten gleichermaßen digital gestalten. An dieser Stelle sind z.B. hybride Lernformen wichtig. Im Allgemeinen ist jedoch die Transformation zum digitalen Unterricht an Universitäten einfacher zu gestalten als in Schulen. Ein Grund dafür ist, dass Studierende als Lernende nicht so stark auf die soziale Interaktion im Unterricht angewiesen sind und sich in der Regel auch besser selbst organisieren können.
Trägt die digitale Transformation (von Bildung) dazu bei, bestehende Ungleichheiten zu verkleinern – oder sind sie gar größer geworden? Warum?
Köster: Unsere Befragung der Grundschulen hat gezeigt, dass die Bildungsschere während der Fernunterrichtsphase größer geworden ist. Aus den Erfahrungen des ersten Lockdowns sprechen vor allem die folgenden Gründe dafür, dass Hybrid- und Fernunterricht nicht die Qualität des Präsenzunterrichts erreichen konnten. Insbesondere Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien haben es schwerer, erfolgreich am Fernunterricht teilzuhaben. Auch Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund mit geringen deutschen Sprachkenntnissen fehlt die notwendige häusliche Unterstützung. Insofern hat die Corona-Zeit sogar dazu geführt, dass schwächere Schülerinnen und Schüler, die wenig Unterstützung im Elternhaus hatten, Bildungsziele, die sie schon vor dem Lockdown erreicht hatten, wieder aufgeben mussten, weil die Wiederholung und die ständige Konfrontation mit den Inhalten nicht mehr stattgefunden haben. Demgegenüber konnten insbesondere Schülerinnen und Schüler, die zu Hause unterstützt wurden, sogar größere Fortschritte machen. Auf die mit dem Fernunterricht einhergehenden Herausforderungen und der Offenlegung von Bildungsungleichheiten reagierte die Politik mit Maßnahmenpaketen und der Erkenntnis, dass Präsenzunterricht in den Grundschulen, aber auch generell in den Schulen, von besonderer Wichtigkeit in Zeiten der Corona-Krise ist.
Vladova: Im Kontext der COVID-19-Krise ist ein Unterschied auf globalem Niveau deutlich geworden. Berichte aus Entwicklungsländern zeigen, dass die Fortführung des Studiums dort nicht so einfach möglich war wie bei uns. Solche Ungleichheiten sind zu berücksichtigen, da – nicht nur in dieser Extremsituation – der Zugriff auf Wissen und Informationen ein entscheidender Wettbewerbs- und Bildungsvorteil in unserem Zeitalter ist. Auch bei uns gibt es ländliche Regionen mit schlechteren Heimnetzbedingungen. Kritisch für den Erfolg von digitalem Unterricht ist darüber hinaus das Vorhandensein eines ruhigen Arbeitsplatzes zu Hause bzw. außerhalb der Uni. Das klingt trivial, war aber nur für 64 Prozent der befragten Uni-Angehörigen gegeben. Ebenso viele gaben an, dass ihre Internetverbindung stabil genug gewesen sei.
Natürlich ist zudem die potenzielle soziale Isolation ein unerwünschter Effekt. Universitäten sind dafür da, um Wissen zu vermitteln, jedoch auch, um einen Rahmen für ein soziales Leben zu geben. Die klassischen universitären Lernprozesse sind organisiert, weshalb Selbstmotivation und -organisation nicht in so hohem Maße notwendig sind wie im digitalen Unterricht. Dabei können diese auch überfordern, vor allem am Anfang des Studiums. Darüber hinaus ist es viel einfacher möglich, sich abzulenken als in der klassischen Unterrichtsumgebung. Wie bereits diskutiert, ist der direkte Kontakt für uns als soziale Wesen wichtig, um eine gemeinsame soziale Realität zu konstruieren. Es ist noch fraglich, ob die technologische Entwicklung sowie die Technologieaffinität der nächsten Generationen das verändern werden. Studien belegen zurzeit, dass auch die Net-Generation soziale Kontakte als besonders wichtig im Lernkontext erachtet.
Glauben Sie, dass sich die Digitalisierung in der Bildung langfristig etablieren wird? Welche Entwicklungen sind abzusehen?
Köster: Auf alle Fälle wurden die Vorzüge der digitalen Bildung in der Zeit des Lockdowns deutlich und spürbar. Diese Erkenntnisse wird man in den Alltag zu integrieren versuchen. Langfristig sollte man bei digitalen Lernangeboten, die personalisiert zugeschnitten sind, beachten, dass Kinder, die ganz individuell arbeiten, zwar Lernfortschritte machen, ihnen aber das soziale Miteinander und der Zusammenhalt in der Gruppe dabei fehlen. Gerade jüngere Schüler lernen in der Schule, in einer größeren Gemeinschaft zu agieren. Wenn sich digitales Lernen generell etabliert und soziales Lernen im Miteinander gar nicht mehr real stattfindet, wissen wir noch gar nicht, wie sich das in der Zukunft auf die Gesellschaft auswirken wird.
Vladova: Im Hochschulkontext ist ein Trend in diese Richtung stark erkennbar. Auch die Nutzung digitaler Selbstlernangebote ist ein zunehmend fester Bestandteil des Studiums. Insbesondere hybride Unterrichtsmethoden werden sich nach der Covid-19-Krise verstärkt etablieren.
Welches Verhältnis von digital/analog halten Sie in Bildungszusammenhängen für gut?
Köster: Je jünger die Schülerinnen und Schüler sind, desto analoger müsste man Bildung anbieten, weil die Fertigkeiten bei Grundschülern stark an die Hilfestellung durch erwachsene Lehrende gekoppelt sind. Je älter die Schülerinnen und Schüler sind, desto höher kann der digitale Lernanteil sein.
Vladova: Es ist sehr wichtig, hier keine generellen Aussagen zu treffen. Auch die Antworten der Umfrageteilnehmer haben hier keine klare Linie aufgezeigt. Die Bedürfnisse der Lehrenden, ihre Kompetenzen sowie die Art des zu vermittelten Wissens sind bei der Entscheidung zu berücksichtigen.
Die Forscherinnen
Dr. Antonia Köster studierte Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2018 forscht sie am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Soziale Medien und Gesellschaft und leitet seitdem die Forschungsgruppe „Digitale Integration“ am Weizenbaum-Institut in Berlin.
E-Mail: antonia.koesteruuni-potsdampde
Dr. Gergana Vladova studierte Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität für Nationale und Weltwirtschaft in Sofia, Bulgarien sowie Kommunikationswissenschaften und VWL an der Freien Universität Berlin. Seit 2009 forscht sie am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, Prozesse und Systeme und leitet seit 2017 die Forschungsgruppe „Bildung und Weiterbildung in der digitalen Gesellschaft“ am Weizenbaum-Institut in Berlin.
E-Mail: gergana.vladovauwi.uni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2021 „Wandel“.