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Das Buch Jona im Wandel der Geschichte – Religionswissenschaftler Dr. Daniel Vorpahl erforscht die Rezeptionsgeschichte biblischer Texte

Aus der Legende: Jona wird vom Fisch ausgespien | Abbildung: nach einem Druck von Cornelis Van Dalen (17. Jh.)
Religionswissenschaftler Dr. Daniel Vorpahl | Foto: privat
Foto : Nach einem Druck von Cornelis Van Dalen (17. Jh.)
Aus der Legende: Jona wird vom Fisch ausgespien
Foto : privat
Religionswissenschaftler Dr. Daniel Vorpahl
Haben biblische Texte einen historischen Kern? Welchen Einfluss hatten die damaligen gesellschaftlichen Umstände auf ihre Entstehung? Und wie wandelt sich die Rezeption biblischer Texte im Laufe von Jahrhunderten und in verschiedenen religiösen oder kulturellen Zusammenhängen? Dr. Daniel Vorpahl ist in seiner Dissertation diesen und weiteren Fragen nachgegangen – am Beispiel des bis heute in vielfältigen Formen rezipierten Buches „Jona“. Dabei hat er nicht nur den Wandel des Bibeltextes selbst untersucht, sondern sich vor allem der Herausforderung gestellt, eine vielseitig einsetzbare rezeptionswissenschaftliche Methodik zu entwickeln. Matthias Zimmermann sprach mit ihm über die spannende Dynamik der Rezeption von Texten im Laufe von Jahrhunderten, die Rückschlüsse, die man daraus auf religiöse und kulturelle Zusammenhänge ziehen kann, und natürlich das Buch Jona.

Eines Ihrer Forschungsfelder ist die Rezeption biblischer Texte. Was macht diese so spannend?

Bibelwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind angehalten, Ihren Untersuchungsgegenstand stets historisch-kritisch zu kontextualisieren. Um einen antiken Text zu verstehen, sollte ich mich mit dessen antiken Entstehungsumständen auskennen, auch wenn ich diese immer nur aus einer postmodernen Wissenschaftsperspektive (re)konstruiere. Der Hintergrund dieses Vorgehens ist, dass sich die Texten zugeschriebene Bedeutung mit dem Wandel der Zeit, des Kontextes und der Leserschaft verändert. Biblische Texte sind aber auch genau darauf angelegt, über einen solchen Bedeutungswandel hinaus zu funktionieren. Eine Hochzeitseinladung oder ein schriftlicher Impftermin beispielsweise verlieren relativ schnell an Aktualität. Aber eine Erzählung, ein poetischer Text oder eine Sammlung von Religionsgesetzen sollen nach Möglichkeit für einen sehr langen Zeitraum relevant bleiben oder es zumindest immer wieder werden. Diese fortdauernde Relevanz von Texten unter veränderten Bedingungen, aber auch ihre Irrelevanz und Wiederentdeckung, der Wandel der Bedürfnisse und Interessen, die mit biblischen Texten verbunden werden, schlagen sich in deren Rezeption nieder und entwickeln spannende Überlieferungsprozesse. Ich bezeichne das als Rezeptionsdynamik: wenn etwas erst weiterüberliefert, dann aber uninteressant und später ganz neu rezipiert wird usw. All das verrät weniger über den Gegenstand der Rezeption und dessen Bedeutungsvielfalt als vielmehr über die verschiedenen Kontexte deren Rezeptionsgeschichte. Das sind schon sehr spannende kulturgeschichtliche Prozesse.

In Ihrem Dissertationsprojekt haben Sie zum „Buch Jona“ geforscht. Worum geht es darin?

Das Buch Jona handelt von einem der bekanntesten und zugleich ungewöhnlichsten Propheten der Bibel. Gott schickt Jona nach Osten ins fremdländische Ninive, dieser aber flieht vor seinem Auftrag auf einem Schiff Richtung Westen. Erst nachdem er im Meer von einem großen Fisch verschlungen wird, bekehrt er sich, wird ausgespien und geht seinem Auftrag nach, beschwert sich dann aber doch wieder bei Gott und wird richtig zornig. All das geschieht in gerade mal vier Kapiteln. Während alle anderen prophetischen Bücher vor allem prophetische Reden enthalten, richtet Jona nur fünf Worte an Ninive. Es ist viel eher ein Buch über Prophetie als ein prophetisches Buch. Diese Besonderheit und die bis heute ungebrochene Popularität des Buches machten es für meine Rezeptionsforschung so reizvoll.

In welchen Zeiten, Religionen und Kulturen wurde es rezipiert?

Meine Untersuchungen decken in etwa einen Zeitraum vom 3./2. Jahrhundert vor unserer Zeit bis ins 9./10. Jahrhundert unserer Zeit ab. Dabei konzentriere ich mich aus methodologischen Gründen auf die innerjüdische Rezeption des Buches. Dies bedeutet aber auch eine notwendige Abgrenzung von der ebenfalls reichen Rezeption des Buches im Neuen Testament und dem Christentum, insbesondere auch der frühchristlichen Kunst, sowie im Koran und der islamischen Hadith-Literatur. Tatsächlich gab es keine Zeit, in der das Buch Jona nicht rezipiert wurde. Bis heute ist das so. Zum Beispiel vergeht seit den 1950er Jahren kein Jahr ohne mindestens eine wissenschaftliche Publikation zum Buch Jona. Es wandelt sich nur die Art der Auseinandersetzung mit dem Buch. Genau diesen Entwicklungen wollte ich auf den Grund gehen.

Warum lohnt es sich, diese Rezeption systematisch zu untersuchen?

In den letzten 20 bis 30 Jahren nahm die Anzahl der Publikationen zur Rezeptionsgeschichte biblischer Stoffe, Motive oder Figuren enorm zu. Dabei hat sich aber so gut wie niemand Gedanken darüber gemacht, was genau eigentlich Rezeptionsgeschichte ist, wo ihre Grenzen liegen und wie sie methodisch fundiert analysiert werden kann. Das fängt bei der undifferenzierten Gleichsetzung von Auslegungsgeschichte, Wirkungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte an und geht bis dahin, dass Rezeptionen nur dokumentiert und beschrieben, aber nicht zueinander ins Verhältnis gesetzt und vergleichend ausgewertet werden. Es reichte mir aber nicht, nur die vermeintlich wichtigsten oder bekanntesten Rezeptionen nachzuerzählen. Ich wollte eine Art Biografie des Buches Jona schreiben. Ich wollte den innerjüdischen Werdegang des Buches seit seiner Entstehung so umfassend wie möglich nachzeichnen. Um das zu leisten und zu bewältigen, bedarf es eines strukturierten methodischen Vorgehens, der Kontextualisierung von Quellentexten und Kategorien für den Vergleich deren Rezeptionen. Ich habe eine entsprechende Methodik entwickelt, und zwar nicht spezifisch für das Buch Jona. Sie lässt sich für weitere Rezeptionsforschungen übernehmen und anpassen.

Welche Unterschiede der Rezeption haben Sie identifizieren können?

Auf Unterschiede kommt es mir gar nicht so sehr an. Viele meinen leider immer noch, Vergleichen sei ein Feststellen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Aber das entspricht nur einer Gegenüberstellung. Ich will aber nicht herausfinden, welches das bessere oder leistungsstärkere Rezeptionsprodukt ist. Was mich interessiert hat, sind kulturelle Entwicklungs- und Aushandlungsprozesse. Und in dieser Hinsicht habe ich etliche aufschlussreiche Rezeptionsinteressen und -dynamiken ermitteln können. So lässt sich beispielsweise anhand der Textgeschichte des Buches Tobit nachvollziehen, wie aus vagen intertextuellen Anspielungen nach und nach handfeste Rezeptionstraditionen wurden. Auch in den frühjüdischen Prophetenviten gab es zunächst nur assoziative Anknüpfungen zwischen Traditionen der Propheten Jona und Elia. Im Laufe der jüdischen Rezeptionsgeschichte wurden daraus vielfältige Beziehungsgeflechte zwischen Jona, Elia und auch Elisa. Spannend ist zum Beispiel auch der Bedeutungswandel, der sich allein durch Übersetzungen bis in die Gegenwart hinein ergibt. So wurde aus dem hebräischen großen Fisch ein griechisch-mythologisches Seeungeheuer und dann über das Lateinische irgendwann im Deutschen ein Wal, während der Jona-Fisch im Türkischen heute ein Delfin ist.

Was lässt sich daraus über die religiösen und kulturellen Kontexte der Rezeption ableiten?

Die kulturhistorischen Schlussfolgerungen, die ich aus meiner Arbeit ableiten konnte, sind sehr diffizil und bedürfen zum Teil auch vertiefender fachlicher Einordnungen. So habe ich zum Beispiel Hinweise auf galiläische Lokaltraditionen ausgemacht, die Jona vermutlich in einen assoziativen Zusammenhang mit Jesus brachten.
Am gravierendsten erscheinen aber die nachvollziehbaren Auswirkungen der griechischen Jona-Übersetzungen. Durch diese verschwand der ursprüngliche Zorn des Propheten zusammen mit dem gesamten vierten Kapitel des Buches vollends aus dessen innerjüdischer Rezeptionsgeschichte, bis weit in die rabbinischen Überlieferungen hinein. Mitunter wird das rabbinische Judentum als isolierte Initiationsbewegung jüdischer Gelehrsamkeit dargestellt. Dabei – und das zeigt meine Arbeit – ist die rabbinische Hermeneutik und Traditionsbildung durch die frühjüdisch-hellenistische Literatur unmittelbar geprägt. Auch lässt sich anschaulich nachvollziehen, wie die Rabbanim die Jona-Erzählung erst dekonstruierten und dann in späteren narrativen Midraschim mit vielen Ergänzungen neu erzählten. Darin zeigt sich eine aufschlussreiche Machtrepräsentation rabbinischer Wissenshoheit.

Welcher Aufgabe wollen Sie sich als nächstes zuwenden?

Ich möchte meine Methodik der Rezeptionsforschung auch für weitere Arbeitsbereiche nutzbar machen. Mehr als sieben Jahre lang habe ich mich mit Antike und Mittelalter beschäftigt. Daher würde ich mich nun zur Abwechselung gern der Rezeption von biblischen Stoffen und Motiven, aber auch weiteren religiösen Themen in moderner und postmoderner Literatur und weiteren Medien zuwenden. Derzeit interessieren mich vor allem auffällig religionsaffine Aspekte in aktueller Kinder- und Jugendliteratur. Dort wimmelt es nur so von Anderswelten, magischen Wesen, Halbgottheiten, Erlöserinnen und Erlösern usw.
Außerdem beschäftige ich mich spätestens seit der Geburt meiner Kinder verstärkt mit der kulturellen Konstruktion von Geschlechtern. Während sich Gender und Queer Studies akademisch weiter etablieren, beobachte ich eine eher rückschrittliche Entwicklung hinsichtlich der geschlechtlichen Zuordnung von Kindern in der Alltagswelt. Es ist erschreckend, wie früh solche gesellschaftlichen Sozialisationsprozesse einsetzen und die Entwicklung von Kindern in stereotype Muster hineindrängen. In meinem neuen Forschungsprojekt führe ich diese Interessen zusammen und beschäftige mich mit der Geschlechtlichkeit innerhalb religionsaffiner Themen und Konzepte in Kinder- und Jugendliteratur.

Vielen Dank!

Zur Webseite von Dr. Daniel Vorpahl: https://www.juedischetheologie-unipotsdam.de/de/lehrstuehle/hebraeischebibel/dr-daniel-vorpahl