In der Schule hatte ich keine Lieblingsfächer. Ich konnte mich für viele Dinge begeistern, schrieb gute Noten und bin mit dem Mantra aufgewachsen: „Wenn du gut in der Schule bist, dann stehen dir alle Türen offen.“ Wenn man jedoch in vielen Dingen gut ist, wie entscheidet man dann, was man später machen will? In meinem Fall: abwägen, informieren und auf die Mutter hören. Diese prägte nämlich ein weiteres Mantra: „Kind, du kannst alles studieren, nur bitte nicht Kunst – studier was Vernünftiges!“
Vernünftig wie ich war, entschied ich mich für ein naturwissenschaftliches Studium. Die Wahl fiel auf Ernährungswissenschaften in Potsdam. Naturwissenschaften allgemein lagen mir, bis auf Mathe. Aber wer braucht schon Mathe im Studium?! Doch dann, gleich im ersten Semester: Mathevorlesung! Es sollte eine harte Studienzeit werden. Ein voller Vorlesungsplan, wenig Freizeit und die Sommersemester waren von Prüfungen und Praktika durchzogen. Ich lernte zu lernen und das war auch gut so. Es wurde nicht leichter, aber interessanter und auch der Stolz, jede neue Etappe geschafft zu haben, wuchs.
Mit dem Abschluss „Dipl.-Ernähr.“ wusste der Arbeitsmarkt allerdings nichts anzufangen. Selbst die Agentur für Arbeit hat für diese Berufsbezeichnung noch immer kein Feld in ihrer Maske! Ich musste mich oft erklären und entschied, wie so viele meiner Kommilitonen, zu promovieren. Der Laborkittel stand mir ausgezeichnet und ich entdeckte meine Begeisterung für die wissenschaftliche Lehre. Praktika und Seminare zu betreuen, Vorlesungen auszuarbeiten, Wissen zu kommunizieren – das gefiel mir. Künstlerisch wirksam werden durfte ich auch. Gäbe es Preise für schöne Power Points, Flipcharts und Labornotizen – ich hätte sie bekommen. Das Zeichnen ergänzte meine Lehrmethoden und ich ging darin auf. Ganz nebenbei nahm meine Laufbahnplanung Formen an: Nach dem Doktor in die Industrie oder die wissenschaftliche Lehre. Ich begann mich zu bewerben, doch dem Arbeitsmarkt war das egal. Laut Statistik hatte ich zu lange promoviert. Und die Promotion zählte nicht als Arbeitserfahrung. Und nun?
Mit Workshopnotizen Geld verdienen?
Dank meines Interesses an der Lehre hatte ich über die Promotionsphase hinweg immer Kontakt zur Universität gehalten. Ich arbeitete mich durch das Seminarprogramm der Potsdam Graduate School, einer Institution für Doktoranden. Angebote und Dozenten waren gut und so nahm ich alles mit, was mir praktisch und hilfreich erschien. Auch wenn das bedeutete, die Zeit im Labor ausgleichen oder Urlaubstage einsetzen zu müssen. Mantra Nr. 1 wurde angewandt: Statt Labornotizen entstanden illustrierte Workshopnotizen. Die Zeichnungen, die mir als Lern- und Strukturhilfe dienten, fanden schnell Fans unter den anderen Teilnehmern und Dozenten. Die Situation wiederholte sich vielfältig und es wurde nach einem Namen und einem Preis gefragt. Das brach mit der Logik all dessen, was ich bis dahin gemacht hatte. Kann man mit Workshop-notizen Geld verdienen? Es kam mir vor, als hätte ich umsonst studiert. Wozu der Doktortitel? Mantra Nr. 2 hämmerte in meinem Kopf: „Mach was Vernünftiges!“ Ich hatte große Zweifel. Doch offensichtlich gab es Personen im wissenschaftlichen Feld, die mich für meine Zeichnungen bezahlen wollten ...
Ich wurde zum Gründungsservice der Uni geschickt. Und tatsächlich: Die Geschäftsidee hatte Potenzial. Die Beratung, die ich erhielt, wurde gefördert. Skeptisch blieb ich trotzdem, bewarb mich parallel in der Wirtschaft und zählte die Tage rückwärts, die mir bis zum Ende meiner Anstellung blieben. Erst nach und nach verstand ich, worin das Potenzial meiner Idee bestand: Meine visuellen Notizen offenbarten die Fähigkeit, mit ein wenig künstlerischem Aufwand strukturiert und repräsentativ hochkomplexe Sachverhalte darzustellen.
Die Gründungsidee wurde gefördert
Ich versuchte, mich von alten Mustern zu lösen und Arbeit neu zu denken. Wirklich vernünftig schien mir die berufliche Selbstständigkeit immer noch nicht. Aber arbeitslos zu sein, ist keine schöne Alternative. Ich wartete also auf Post: Entweder die Zusage eines neuen Arbeitgebers oder die Bewilligung von Fördergeldern. Es wurden die Fördergelder. Beängstigend, aber das Rüstzeug für mein Gründungsprojekt hatte ich nun.
Und heute, fünf Jahre später? Ich zeichne. Ob digital oder auf Papier, in Form von Illustrationen, Infografiken, Prozessvisualisierungen oder in Kursen. Bei Kongressen nutze ich die Methode des Graphic Recording, um das Wesentliche zu erfassen und darzustellen. Die Visualisierung des Gesagten dient der Reflexion, als Anknüpfungspunkt und als Brücke, um Verständnisprobleme zu lösen. Man verbindet die Information mit einem positiven Gefühl und erinnert sich gern, auch weil es optisch anzieht. Manchmal sind es auch nur Sketchnotes – kleiner, kompakter und individueller. Meine Stärke liegt in der Darstellung komplexer Inhalte aus der Forschung, weil ich deren Sprache beherrsche, übersetzen und verbildlichen kann. Damit verdiene ich mein Geld. Das ist mein Beruf.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Transfer 2020/21 (PDF).