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Was den Dingen innewohnt – Kultursemiotikerin Marie Schröer deutet Zeichen unserer Zeit

Prof. Marie Schröer | Foto: Thomas Roese
Prof. Marie Schröer | Foto: Thomas Roese
Foto : Thomas Roese
Prof. Marie Schröer
Foto : Thomas Roese
Prof. Marie Schröer
Sie ist die Tochter einer französischen Mutter: Der kleine Nick, Tim und Struppi, Asterix und Obelix spazierten durch die Bildgeschichten ihrer Kindheit. Aufgewachsen in der fabelhaften Welt der franko-belgischen bandes dessinées hatte Marie Schröer nie das Problem, Stereotype überwinden zu müssen, die den Comic-Strips hierzulande wie Klebestreifen anhaften: Trivial und reißerisch seien sie, vor allem aber komisch – wie der Name schon sagt. „Und das, obwohl es inzwischen eine Vielzahl teils verfilmter Comics mit ernsten Inhalten gibt“, sagt die Literaturwissenschaftlerin und ergänzt, dass diese oftmals unter dem Label Graphic Novel laufen. Spätestens seit Art Spiegelmann in „Maus“ die Auschwitz-Erinnerungen seines Vaters dokumentierte und Marjane Satrapis mit „Persepolis“ vom Aufwachsen einer Iranerin vor dem Hintergrund der Islamischen Revolution erzählte, sei offensichtlich, welch künstlerische Vielfalt und Seriosität dem Genre innewohnen.

Mit offenem Blick und wissenschaftlicher Neugier hatte sich Marie Schröer bereits als Lehramtsstudentin für Französisch und Englisch an der Universität Potsdam intensiv mit Comics beschäftigt. Ihre Dozentin, die Kultursemiotikerin Eva Kimminich, unterstützte ihre Idee zu einer Examensarbeit über gezeichnete Autobiografien. Schon damals faszinierten Marie Schröer die fließenden Übergänge zweier verschiedener Zeichensysteme: des Textes und der Bilder. Sie befasste sich mit Graphic Memoires und erkundete die erweiterten Gestaltungsräume, die sich den zeichnend schreibenden Autoren für die künstlerische Darstellung ihres Selbst öffneten.

Einige Forschungsjahre später legte Marie Schröer ihre Doktorarbeit „Zum Wechselspiel zwischen Comic, Autobiografie und Bildungsroman“ vor und verteidigte mit Summa cum laude. „Die gängigen Erzählkonventionen des Comics einerseits und der Autobiografie andererseits wurden in der Verbindung der beiden außer Kraft gesetzt und Innovation geradewegs zum Formenprinzip dieser Liaison“, schreibt sie in einem Aufsatz. Statt der stereotypen Helden und Abenteurer stünden nun Antihelden im Mittelpunkt, stark und schwach, hoffend und zweifelnd in ihrer Sicht auf die Welt und der Art, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Marie Schröer nennt das Beispiel des stotternden, in Fantasiewelten fliehenden und leidenschaftlich Tischtennis spielenden Mirko Watzke. Der 13-Jährige ist Protagonist des preisgekrönten Comics „Kinderland“, in dem Autor Markus Witzel, Künstlername Mawil, autofiktional an das eigene Kindsein in der DDR erinnert.

Wenn Marie Schröer heute ihren Studierenden davon erzählt, wird sie ihnen vielleicht die persönliche Widmung zeigen, die Mawil für sie gezeichnet hat. Darauf kniet die Wissenschaftlerin in einem Antiquariat vor einer Kiste mit alten Comics, 50 Cent das Stück. Als sie zu erkennen gibt, eine Rarität gefunden zu haben, verlangt der Verkäufer spontan 20 Euro. Die Lacher hat sie dann sicher auf ihrer Seite – und auch den Beweis, dass Comics noch immer komisch sein dürfen.

Von Fake News und Verschwörungsmythen

Nach Stationen in Koblenz-Landau und Valenciennes ist Marie Schröer inzwischen als Juniorprofessorin für Kultursemiotik und Kulturen romanischer Länder an die Universität Potsdam zurückgekehrt. Eines ihrer Herzensprojekte hier ist eine fachspezifische Online- Bibliografie. Gemeinsam mit Eva Kimminich baut sie am Institut für Romanistik ein virtuelles Zentrum für Kultursemiotik auf, das neueste Erkenntnisse aus der semiotischen Forschung so aufbereitet, dass sie allgemeinverständlich für die Breite der Gesellschaft nützlich sein können. Was zum Beispiel verbirgt sich hinter Verschwörungsmythen, die sich in Krisenzeiten wie ein Lauffeuer ausbreiten? Wie werden Welt- und Menschenbilder tradiert? Wie entstehen Stereotype?

Ausstellungen, Erklärvideos und Lernmaterialien, die von Studierenden mitgestaltet werden, sollen künftig auch in Schulen und Bildungseinrichtungen zur kritischen Auseinandersetzung anregen. Den Studierenden wird das Zentrum zudem als Übungsfeld für unterschiedliche Kommunikationsformen dienen, etwa im Marketing, in Kultur und Bildung oder im Journalismus. In der jährlich veranstalteten „Semiotischen Woche“, die Marie Schröer mitorganisiert, geht es 2021 ganz aktuell um Fake News. Wie erkenne ich, ob eine Nachricht echt ist? Welche Metaphern werden benutzt, welche rhetorischen Kniffe eingesetzt und welche ästhetischen Vorlieben bedient, um „Theorien“ von Verschwörungen zu verbreiten? Auch Comics gehören zu den „Zeichen unserer Zeit“, die in der gleichlautenden Semiotikwoche auf ihre Wirkweise hin analysiert und diskutiert werden. So befasst sich ein Online-Workshop mit dem florierenden Genre der Sachcomics, die Wissen vermitteln, aufklären und politisieren wollen.

Im Herbst plant Marie Schröer mit Kolleginnen anderer Universitäten ein Symposium zum Thema „Race, Class, Gender & Beyond“, in dem es um intersektionale Ansätze der Comicforschung geht. Für das internationale Treffen im Xplanatorium Schloss Herrenhausen in Hannover hat die VW-Stiftung gerade die Förderung zugesagt. Für die Juniorprofessorin ein Motivationsschub.
In der kurzen, von der Pandemie beherrschten Zeit, die sie jetzt in Potsdam forscht und lehrt, hat Marie Schröer trotz oder auch wegen der Online-Formate nur hochmotivierte Studierende erlebt, vor allem was die praktischen und kreativen Anteile der Seminare betrifft. Natürlich seien Podcasts, Videos, Poster und Comics reizvolle Ausdrucksmittel, weiß die Professorin, deren eigene Studienzeit noch nicht allzu lang zurückliegt. Grundlage all dessen aber bleibe das intensive Lesen und Schreiben, das sie wieder mehr fördern will. Zum Beispiel in einem seminarübergreifenden Projekt, das sich mit der kultursemiotischen Deutung von Masken befasst – vom Identitätswechsel im Karneval über den Ausdruck von Protest bis zum derzeit allgegenwärtigen Schutz vor Infektionen. Bevor die Studierenden hierzu Erklärvideos produzieren und sogar ganz reale Masken bauen werden, sollen sie in verschiedene Epochen und Kulturen eintauchen, Inszenierungen von Göttern, Heiligen und Dämonen in religiösen Zeremonien kennenlernen, von der Schandmaske erfahren und natürlich auch die Charaktere hinter den traditionellen Theatermasken studieren.

Was kommt danach? Berufsbilder für die Absolventen

Um den Studierenden bei ihren nächsten Schritten in den Beruf zu helfen, gestaltet Marie Schröer ein Seminar zur Anwendungspraxis, in dem Absolventen kulturwissenschaftlicher Studiengänge und bald auch des Studiengangs Kultursemiotik von ihrer Arbeit in Museen, Theatern oder Redaktionen berichten. Ebenso soll das virtuelle Zentrum für Kultursemiotik einen Raum bieten, in dem sich Alumni mit ihrem Profil, ihren Masterarbeiten und ihren besonderen Kompetenzen vorstellen und mit Firmen und Institutionen in Kontakt treten können. Möglicherweise finden sich darunter ja auch Gastronomiebetriebe oder ein Kochbuchverlag. Denn wer bei Marie Schröer studiert, wird immer auch etwas über Kulinaristik erfahren, besonders über das als Foodporn bezeichnete Phänomen der millionenfach im Netz geteilten Fotografien von Speisen. Wie in der Barockmalerei kenne die opulente Inszenierung kulinarischer Stillleben derzeit keine Grenzen, so die Wissenschaftlerin, die ihre französischen Wurzeln auch hier nicht leugnen kann. Auf jeden Fall ist dies ein Thema, das Appetit macht.

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr. Marie Schröer studierte Französisch und Englisch auf Lehramt und promovierte an der Universität Potsdam, wo sie seit 2020 Juniorprofessorin für Kultursemiotik und Kulturen romanischer Länder ist.
E-Mail: marie.schroeer.1uni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2021 „Wandel“.