„Wir brauchen Religion, auch im 21. Jahrhundert“, sagt Yehoyada Amir. „Wir haben den oberflächlichen Optimismus in Bezug auf Rationalismus und Fortschritt verloren. Und beginnen zu verstehen, dass ein Blick in die Vergangenheit dazu beitragen kann zu verhindern, kopfüber ins Verderben zu rennen. Dabei vermag auch Religion zu helfen, denn sie konfrontiert uns mit der Frage: Welchen Platz haben wir in der Welt, in der Schöpfung? “
Amir ist Theologe. Als solcher richtet er seinen Blick zurück – auf religiöse Texte, kulturelle Traditionen und Praktiken. „Theologie reflektiert Religion in all ihren Facetten“, fasst er zusammen. Als Wissenschaftler liegt sein Fokus auf der Gegenwart. Das zeigen auch die Seminare, die er in Potsdam gegeben hat: zum Feminismus im heutigen Judentum, der Frage, wie das Judentum selbst mit der Schoa umgeht, und einem Konzept, das er „konstruktive Theologie“ nennt. „Ich unternehme mit den Studierenden eine Reise durch die verschiedenen Ansätze jüdischer Theologie des 20. Jahrhunderts“, sagt er. „Vor allem aber lade ich sie ein, sich ein eigenes Bild davon zu machen, wie Glaube funktioniert und interpretiert werden kann.“
Diese fragende, durchaus philosophische Herangehensweise an Religion sieht Yehoyada Amir als Wesen und besondere Stärke jüdischer Theologie. „Ihr Ziel ist nicht Evidenz. Es geht darum, Verbindungen sichtbar zu machen – zu über Jahrhunderte gewachsenen Traditionen und kulturellen Eigenheiten –, aber auch darum aufzuzeigen, was noch offen ist. Ziel ist, beidem nachzuspüren: Was glaube ich und wo zweifle ich?“
Dies unterscheide die jüdische Theologie ein Stück weit von denen anderer Religionen, erklärt Amir. „Einerseits ähneln sich die verschiedenen Theologien: Sie sind der Versuch, den Konzeptualisierungen des Glaubens Ausdruck zu verleihen, die Begegnungen mit Gott in Worte zu fassen.“ Doch ähnlich sei nicht gleich: In den zurückliegenden 200 Jahren habe sich die christliche Theologie als systematische Wissenschaft etabliert – während jüdische und muslimische Theologen viel eher als Philosophen galten. Doch Amir will an die Gemeinsamkeiten anschließen: „Wir tun alle dasselbe, aber auf unterschiedliche Weise. Das macht es einfach, voneinander zu lernen. Martin Buber hat gesagt: ‚Dialog braucht die Differenz zwischen den Gesprächspartnern.“
Für diesen Dialog ist Yehoyada Amir, der selbst aus einer deutsch-jüdischen Familie entstammt, nach Potsdam gekommen. Als er in den 1980er Jahren zuletzt in Deutschland war, habe es nur noch wenig hier verwurzeltes jüdisches Leben gegeben. Gemeinden bestanden häufig zu großen Teilen aus osteuropäischen Zuwanderern. Doch wie konnte das Judentum in Deutschland wieder neue Wurzeln schlagen? „Die Wiederbelebung der Rabbinerausbildung durch das Abraham Geiger Kolleg war ein großer Schritt auf dem Weg dorthin“, sagt Amir. „Etwas, das ohne die Vorstellungs- und Tatkraft seines Gründers Walter Homolka nicht möglich gewesen wäre.“ 2013 wurde die Jüdische Theologie an der Universität Potsdam als eigenes Institut und Studienfach etabliert. Hätte ihm jemand diese Entwicklung vor 20 Jahren angekündigt, er hätte ihn ausgelacht, meint Amir. „Jetzt bin ich gern Teil davon – und bringe mich in einen christlich-jüdischen Dialog ein.“
Besonders wichtig ist dem Wissenschaftler die Begegnung mit den Studierenden aus aller Welt am Potsdamer Institut. Denn während in Jerusalem zumeist israelische oder US-amerikanische jüdische Studierende vor ihm sitzen, seien hier verschiedenste Nationalitäten und Konfessionen vertreten. „Dass ich hier auch Studierende mit christlichem Hintergrund habe, ist eine sehr positive Erfahrung. Zwar brauchen viele von ihnen dadurch mehr thematische Einführung in jüdische Traditionen. Aber am Ende des Tages sind wir alle in derselben Mission unterwegs und die unterschiedlichen Perspektiven bereichern unser Gespräch.“
Wie für die meisten Lehrenden der Universität Potsdam war auch für Amir digitale Lehre via Zoom Neuland und er vermisst den direkten Kontakt sowie das persönliche Gespräch. „Aber so konnten auch Studierende aus Potsdam und der Ukraine gleichzeitig teilnehmen.“ Er hofft, wenn die Einschränkungen wieder verschwinden, das Beste aus beiden Welten zusammenführen zu können. Immerhin könne er dank Zoom auch dann noch am christlich-jüdischen Dialog in Potsdam teilnehmen, wenn er wieder zurück in Jerusalem ist.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2020 „Digitalisierung“ (PDF).