2015/16, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, kam in Deutschland vielerorts Angst auf: Mit den Geflüchteten könnten Kriminalität und Gewalt zunehmen. Zahlreiche Menschen fürchteten, ihr Dorf, ihre Stadt, ihr Kiez sei nicht mehr sicher, auch wenn es meist keine greifbaren Gründe dafür gab. Die Dresdner Pegida-Bewegung wurde Symbol dieses vagen Gefühls. Quartiere und Nachbarschaften sind die zentralen Orte, in denen Menschen zusammenleben, wo sie miteinander in Kontakt kommen, gemeinsame Probleme haben – und im besten Fall lösen. Durch Migrationsbewegungen ändert sich dort die Zusammensetzung der Bevölkerung. Mitunter beeinträchtigt dieser Wandel das subjektive Sicherheitsempfinden und stellt die Verantwortlichen vor ungekannte Herausforderungen. Ein deutschlandweites Projekt sollte erforschen, wie sich diese Dynamik so begleiten lässt, dass sie in ein neues „Miteinander“ mündet. „Ursprünglich wollten wir vor allem untersuchen, welchen Effekt Migrationsbewegungen auf das Sicherheitsgefühl der Menschen haben“, sagt Manfred Rolfes, der das Potsdamer Projektteam mit Julia Burgold, Jan Lorenz Wilhelm und Katharina Mohring leitet. „Doch als wir dann 2018 endlich starten konnten, war der Höhepunkt der Flüchtlingsmigration bereits überschritten – und ganz andere Fragen beschäftigten die Menschen viel stärker. Also mussten wir die Zielstellung anpassen.“
Sicherheit ist das Gefühl, dass nichts passiert
Auch wenn es seltsam klingen mag, aber dem Ansatz des Teams um Manfred Rolfes kam das letztlich sogar entgegen. „Das Gefühl von Sicherheit bedeutet letztlich nichts anderes, als dass die Menschen darauf vertrauen, dass ihnen nichts passiert“, erklärt Julia Burgold. Ursachen für den Verlust dieses Vertrauens gibt es viele. Ohne den durchaus auch einengenden Fokus auf Migration konnten die Forschenden den sehr unterschiedlichen Problemlagen in den einzelnen Kiezen nachgehen. „Wir erforschen jetzt viel umfassender, welche Wandlungsprozesse das Zusammenleben in den Quartieren verändern“, so Manfred Rolfes. „In Workshops mit der Bevölkerung und Verantwortlichen vor Ort suchen wir nach Wegen, den nachbarschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, um damit die Lebensbedingungen in den Quartieren zu verbessern.“
SiQua, wie das Projekt für „Sicherheitsanalysen und -vernetzung für Stadtquartiere im Wandel“ kurz heißt, nimmt dafür neun Wohngebiete genauer unter die Lupe – in Essen, Dresden und Berlin. An allen drei Orten sind sowohl Forschungseinrichtungen als auch Fachleute von Stadtteilmanagement und -planung, Sozialarbeit und Prävention sowie Polizei und Schulen beteiligt. „In unserem Projekt arbeiten Wissenschaft und Praxis Hand in Hand“, so Rolfes. Das bedeutet aber vor allem, dass auch die Menschen, die in den Quartieren leben, einbezogen werden. Mithilfe von vergleichenden Analysen, Fallstudien, Workshops und einer Befragung zu Sicherheitsbelangen wollen die Forschenden herausfinden, welche Probleme die Menschen in den Kiezen jeweils sehen: Wer fühlt sich wo nicht sicher – und warum? Welchen Handlungsbedarf sehen die Bewohner und die für Sicherheit zuständigen Institutionen? Wer ist dafür verantwortlich, die Lebensbedingungen in den Quartieren so zu gestalten, dass ein gutes Miteinander möglich wird? Was tun die Kommunen bereits dafür und was nicht? Ziel ist es, Weiterbildungen und Qualifizierungen zu entwickeln, die den kommunalen Akteuren helfen, mit unterschiedlichsten Wandlungsprozessen in Stadtquartieren besser umzugehen.
Unsicherheit hat viele Ursachen
Die Strategien im Projekt sollten und mussten dabei so vielfältig sein wie die untersuchten Quartiere und deren Problemlagen. Der Neuköllner Ortsteil Buckow beispielsweise war ursprünglich klar mit Blick auf einen Wandel durch Migration ausgewählt worden. Immerhin gab es hier 2017 eine Flüchtlingsunterkunft, und als es hieß, dass zwei weitere hinzukommen sollten, regte sich heftiger Protest. Im Unterschied zu den anderen acht Quartieren hat das Potsdamer Team in Buckow die Daten selbst erhoben. Die Forschenden begleiteten ein ganzes Jahr lang zwei wichtige Quartiersgremien – eine Kiez AG, in der sich Kinder- und Jugendeinrichtungen austauschen und koordinieren, sowie einen Runden Tisch, der sich mit dem Thema Flucht und Integration beschäftigt. Außerdem wurden Experten, aber auch Einwohner befragt. „Dabei hat sich gezeigt: Die Geflüchteten waren nicht mehr das Thema“, so Julia Burgold. „Es war Ruhe eingekehrt. Die Menschen hatten Zeit gehabt, sich zu beruhigen und kennenzulernen.“ Ein Befund, der sich in vielen Kiezen wiederholte, wie ihre Kollegin Katharina Mohring ergänzt. „Gerade in jenen Quartieren, die Erfahrung mit Migration und Geflüchteten hatten, etwa auch in Essen, war dieses Thema nie beherrschend, wenn es um das Sicherheitsempfinden ging. Ein schönes und wichtiges Ergebnis, das zeigt, dass dort besonnen und gut auf die Flüchtlingskrise reagiert wurde.“ Das Sicherheitsempfinden habe aber dennoch gelitten, hat Julia Burgold in Buckow festgestellt: „2016/17 waren es die Geflüchteten, 2018 wurde die Clankriminalität als Bedrohung wahrgenommen. Dinge, auf die sich das Unsicherheitsempfinden bezieht, hängen häufig vom Tagesgeschehen ab. Möglicherweise würde man aktuell viel über das Coronavirus hören.“ Nicht selten sei dies auch davon abhängig, wie Probleme medial aufbereitet und zum Teil verstärkt würden, fügt Katharina Mohring hinzu. Unabhängig von regionalen Eigenheiten habe sich ein Ergebnis gezeigt, das sich verallgemeinern lasse: „Sehr viele Unsicherheiten gehen auf sogenannte Incivilities zurück“, erklärt Julia Burgold. Dies seien Verstöße gegen Normen, die mal mehr, mal weniger fixiert sind. Das reicht von Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr über die Vermüllung des öffentlichen Raumes bis hin zu Ruhestörung und die als bedrohlich empfundene Präsenz größerer Menschengruppen an öffentlichen Plätzen. „Diese Unsicherheitsgefühle werden aktuell eingebettet in einen Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Auch der nachbarschaftliche Zusammenhalt wurde in vielen Quartieren als schwächer werdend empfunden“, sagt Jan Lorenz Wilhelm. „Es wäre spannend zu untersuchen, wie sich dies jetzt während der Corona-Pandemie darstellt, wo beides – das große Vertrauen und der starke Zusammenhalt – besonders gelobt wurde.“
Nur miteinander lassen sich die Probleme lösen
Staatliches Handeln steht bei SiQua in Dresden im Mittelpunkt. Hier haben die Forschenden geschaut, wie bei der Analyse und Bewertung von Sicherheitslagen auch dann noch alle Akteure beteiligt werden können, wenn es schnell gehen muss oder komplex wird. „Ein aktuelles Problem in Dresden ist das ‚Cornern‘, wo plötzlich viele meist junge Menschen an einem Ort zusammenkommen“, erklärt Jan Lorenz Wilhelm. „Wenn dann nur das Ordnungsamt oder nur die Polizei eingreifen würden, wäre das Problem nicht gelöst, sondern allenfalls verschoben – an eine andere Ecke.“ Daher liege der Fokus des Projekts darauf, für die sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen unter Einbindung aller wichtigen lokalen Akteure die bestmöglichen Lösungen zu finden. So hätten sich im Neuköllner Ortsteil Buckow etliche Akteure eine bessere und engere Kommunikation zwischen den Gremien, aber auch in die bezirkliche Verwaltung gewünscht. In Essen wiederum sei es vor allem darum gegangen, Vereine, Quartiersmanagement, Polizei, Jugendhilfe und Projekte, die seit Jahren Erfahrung in ihren Bereichen sammeln, zu einem offenen Austausch zusammenzuholen. „Wir haben sie – natürlich freiwillig – gezwungen, sich einmal anders ins Gesicht zu schauen“, sagt Katharina Mohring. „Dabei haben sie selbst festgestellt: ‚Wenn wir hier über diese und jene Probleme sprechen wollen, fehlen noch etliche am Tisch, die es auch betrifft.‘“ Und in Dresden erproben Polizei und lokale Akteure derzeit ein neues Verfahren, um zwischen den zuständigen Ebenen und darüber hinaus besser und schneller zu kommunizieren, um Sicherheitslagen gut zu analysieren und angemessen zu reagieren. Moderiert werden diese Prozesse vom Team um Manfred Rolfes und seinen Partnern. Denn auch wenn viele Engagierte durchaus bereit seien, etablierte Verfahren zu ändern und Neues auszuprobieren, sei dies ohne Hilfe von außen schwer. „Zuerst wollen alle Netzwerke bilden und reden“, sagt Jan Lorenz Wilhelm. „Doch dann fehlen ihnen schnell Zeit, Ressourcen oder das Durchhaltevermögen.“ Daher sei für den Erfolg eine ganze Menge Detailarbeit wichtig: Wie agieren die Menschen miteinander? Wie werden Infos weitergegeben? „Und ganz wichtig ist eine externe Koordination“, so Julia Burgold. „Wenn diese strukturellen Fragen geklärt sind, ist es möglich, ohne Reibungsverluste über die inhaltlichen Fragen zu sprechen.“
Das Ziel: aufeinander zugehen
In Essen, Berlin und Dresden erarbeiten die Forschenden Lösungen für sehr unterschiedliche Fallbeispiele. Auf lange Sicht sollen die Erkenntnisse des Vorhabens aber auch in Materialien einfließen, die auf andere Quartiere übertragen werden können. So sollen sich später die beteiligten, aber auch weitere interessierte Kommunen auf einer Internetplattform über erfolgreiche Maßnahmen zur Prävention und Quartiersentwicklung informieren und austauschen können. Immerhin sollen Essen, Berlin und Dresden nur der Anfang sein. Der langfristige Erfolg von SiQua hängt, da ist sich Manfred Rolfes sicher, nicht nur von den passenden wissenschaftlichen Werkzeugen ab. „Viel wichtiger ist die richtige Haltung, mit der die Menschen aufeinander zugehen – und die müssen wir etablieren. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen: Wie wollen wir jetzt und in Zukunft miteinander umgehen, einander zuhören, miteinander arbeiten? Wer bereit ist, mit anderen in Kontakt zu kommen, ist auch in der Lage, seine Perspektive zu wechseln – und Dinge zu ändern. Ich hoffe, dass wir das mit diesem Projekt vermitteln können. Dann wäre viel gewonnen.“
Die Forschenden
Prof. Dr. Manfred Rolfes studierte Geographie und Deutsch auf Lehramt an der Universität Osnabrück. Seit 2004 ist er Professor für Regionalwissenschaften (Angewandte Humangeographie) an der Universität Potsdam.
E-Mail: mrolfesuuni-potsdampde
Julia Burgold studierte Anthropogeographie, physische Geographie und Altamerikanistik an der Universität Potsdam und an der Freien Universität Berlin. Seit 2010 ist sie Mitarbeiterin am Institut für Umweltwissenschaften und Geographie der Universität Potsdam.
E-Mail: julia.burgolduuni-potsdampde
Dr. Jan Lorenz Wilhelm studierte Sozial- und Wirtschaftsgeographie, Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaften und Soziologie an den Universitäten Hannover und Osnabrück. Seit 2004 arbeitet er am Institut für Umweltwissenschaften und Geographie der Universität Potsdam.
E-Mail: jwilhelmuuni-potsdampde
Dr. Katharina Mohring studierte Geographie und Soziologie an der Universität Potsdam. Seit 2006 ist sie Mitarbeiterin am Institut für Umweltwissenschaften und Geographie der Universität Potsdam
E-Mail: kmohringuuni-potsdampde
Das Projekt
Sicherheitsanalysen und -vernetzung für Stadtquartiere im Wandel (SiQua)
Beteiligt: Julia Burgold, Dr. Katharina Mohring, Prof. Dr. Manfred Rolfes, Dr. Jan Lorenz Wilhelm (alle Universität Potsdam), Deutsche Hochschule der Polizei in Münster, Technische Universität Dresden, Technische Universität Berlin, Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin
Förderung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Laufzeit: 7/2018–6/2021
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2020 „Gesundheit“.