Eigentlich liegt es nahe: Wer immer krank ist, ist auch für psychosoziale Belastungen anfälliger. Aber stimmt das überhaupt? „Tatsächlich müssen wir davon ausgehen, dass zwischen zehn und 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen auch psychische Störungen entwickeln“, sagt Petra Warschburger. Das Problem sei: Es falle oft nicht auf. Viel zu sehr sei der Fokus bei ihnen auf die somatischen Erkrankungen gerichtet. Insulin spritzen, Schmerzen lindern, Arzttermine wahrnehmen. Ob sie mit dem Stress, den die Krankheit auslöst und all dem, was zum Erwachsenwerden dazugehört, angemessen umgehen können oder nicht, gerät dabei schnell aus dem Blick. Und das obwohl die meisten von ihnen ein Leben lang medizinisch betreut werden. „Am häufigsten entwickeln die Patienten internalisierende Störungen wie Ängste oder Depressionen, die erst auffallen, wenn man genauer hinschaut oder danach sucht. Nur wenige fallen durch externalisierende psychische Störungen wie aggressives Verhalten auf“, erklärt Petra Warschburger. „Daher bleiben die meisten dieser Störungen unentdeckt – und unbehandelt.“
Wie lässt sich doppelter Stress bewältigen?
Auf der anderen Seite gebe es offenbar viele Kinder und Jugendliche, die gelernt haben, die besondere Belastung erfolgreich zu bewältigen. Wie schaffen sie es, Krankheit, Alltagsstress und die Probleme des Erwachsenwerdens zu meistern? Auch das ist bislang noch nicht wirklich klar. Beides möchte Petra Warschburger besser verstehen. Dafür hat sie mit Partnern an der Charité Berlin, dem Universitätsklinikum Düsseldorf und der Universität Ulm das Projekt COACH auf den Weg gebracht. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, welche besonderen Ressourcen Jugendliche mit einer körperlichen chronischen Erkrankung haben oder entwickeln, die ihnen den Umgang mit der Krankheit, aber auch anderen Problemen erleichtern – und sie „quasi“ vor psychischen Störungen schützen.
Gleichzeitig zielt COACH – in einem ersten Schritt – darauf ab, den Blick der Mediziner dafür zu öffnen, welchen Stressbelastungen die Heranwachsenden ausgesetzt sind. „Chronische Erkrankungen können die Lebensqualität der Betroffenen erheblich einschränken“, so Warschburger. Außerdem müssten sie ihrem Alter entsprechende Entwicklungsaufgaben bewältigen, die nicht immer mit der Krankheit vereinbar sind, z.B. die Akzeptanz des eigenen Körpers, Identitätsentwicklung und die Vorbereitung auf das Arbeits- und Familienleben. „Um herauszufinden, ob sie damit Probleme haben, muss man schon genau nachfragen. Sonst bekommt man das nicht heraus.“ Deshalb hofft die Psychologin, dass als ein Ergebnis ihres Projekts die psychologische Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit einer chronischen Erkrankung verbessert wird. Wenn also entsprechende Befragungen und Untersuchungen in die medizinische Regelversorgung integriert würden, wäre schon viel gewonnen. „Wenn ein Kind, das sein Leben lang Medikamente nehmen muss, diese nicht nehmen will, kann das auch damit zu tun haben, dass die Tabletten es ständig daran erinnern, dass es anders ist, krank ist. Dann muss man dem Kind auch auf dieser Ebene helfen.“ Tatsächlich haben die klinischen Projektpartner, um Teilnehmer für die COACH-Studie zu rekrutieren, Aufklärungen und Befragungen in die Versorgung infrage kommender Patienten aufgenommen. Hat das Projekt Erfolg, so die Hoffnung, könnte sich diese erweiterte psychologische Betreuung durchsetzen.
Wichtige Ressourcen finden
Wie chronisch kranken Heranwachsenden, die auch psychische Störungen entwickeln, am besten geholfen werden kann, das soll die groß angelegte COACH-Studie zeigen. Die Forschenden wollen von jenen Heranwachsenden lernen, die besser mit ihrer Erkrankung zurechtzukommen. „Uns interessieren dabei vor allem die Stärken, Eigenschaften und Fähigkeiten, welche den Umgang mit der Erkrankung insbesondere in dieser Lebensphase erleichtern“, erklärt Warschburger. Zu diesen „heilsamen“ Ressourcen zählen etwa Optimismus, Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung, schwierige Situationen meistern zu können, soziale Ressourcen wie ein stützendes Umfeld, Sinnhaftigkeit, Empathie und Selbstwert. Während sie bezüglich ihrer Lebensqualität aufgrund ihrer Erkrankung natürlich oft schlechter abschneiden als andere Kinder und Jugendliche, würden nicht wenige eine hilfreiche Erkenntnis – ein sogenanntes „benefit finding“ – aus ihrer Lage ziehen: Durch ihre Erkrankung sind sie sich ihrer eigenen Stärken bewusst geworden und erkennen positive Aspekte. „Wir wollen erkennen, welche Ressourcen besonders hilfreich sind. Darauf aufbauend lassen sich möglicherweise Therapieansätze für andere Heranwachsende entwickeln“, so die Psychologin.
Dafür haben die Forschenden zunächst in der Literatur, aber auch in vielen Gesprächen – sogenannten qualitativen Interviews – mit Jugendlichen, die chronische Krankheiten haben, mögliche Ressourcen identifiziert. „Wir wollten von ihnen wissen, was ihre Stärken sind, was ihnen in schwierigen Situationen hilft – was ihr Schatzkästchen ist.“ Daraus entwickelte das Team um Petra Warschburger anschließend einen Fragebogen, den rund 200 Testpersonen ausprobieren, kritisieren, ergänzen und beurteilen durften. „Wir wollten sichergehen, dass wir nichts vergessen und die richtigen Fragen stellen.“ Inzwischen hat die Hauptstudie begonnen. Diese konzentriert sich auf drei chronische Erkrankungen: Diabetes, Mukoviszidose und Rheuma. Drei sehr unterschiedliche Krankheiten, die jedoch alle den Alltag der Betroffenen sehr stark beeinträchtigen können. Ausgangsfaktoren, die versprechen, dass die Ergebnisse der Studie sich gut auf andere chronische Krankheiten übertragen lassen. Zudem gebe es für alle drei etablierte Patientenregister was die Arbeit der Forschenden enorm erleichtere. Mithilfe der klinischen Partner werden derzeit Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewonnen. 400 sollen es am Ende sein. Sie alle werden umfangreich aufgeklärt und befragt: zu ihren Ängsten, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen, was ihnen dabei hilft und vieles mehr. Nach einem Jahr folgt eine weitere Befragung. „Dann werden wir sehen, wie ihre Ressourcen sich entwickelt haben, ob sie stabil sind oder nicht, wie es ihnen psychisch geht – und welchen Einfluss dies auf ihre chronische Erkrankung hat“, erklärt Warschburger. Eine zusätzliche Dynamik erlebt das Projekt durch die Corona-Pandemie, die chronisch Kranke, aber auch Menschen mit psychischen Störungen doppelt trifft. Die Psychologen haben deshalb den Fragebogen um entsprechende Abschnitte ergänzt. „Denn wir gehen davon aus, dass sich die Corona-Krise auch niederschlägt“, sagt sie.
Nach dem Abschluss der Befragungen werden die Daten analysiert und Therapieansätze erarbeitet. „Je nachdem, welche Ressourcen sich als besonders relevant erweisen, können wir uns entsprechend fokussieren“, so die Forscherin. „Sollten wir an der sozialen Unterstützung durch Familie und Freunde ansetzen oder auf Optimismus und Selbstwirksamkeit aufbauen?“ In zwei der fünf Teilprojekte von COACH werden die Interventionsformen dann erprobt. Hat das Konsortium Erfolg, könnten – so das Fernziel von Petra Warschburger – die neuen psychotherapeutischen Instrumente Eingang in die Regelversorgung von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen finden.
Die Forscherin
Prof. Dr. Petra Warschburger studierte Psychologie an der Universität Trier. Seit 2003 ist sie Professorin für Beratungspsychologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: warschbuuni-potsdampde
Das Projekt
COACH – Chronic Conditions in Adolescents: Implementation and Evaluation of Patient-centered Collaborative Healthcare
Beteiligt: Universität Potsdam, Charité Berlin, Universitätsklinikum Düsseldorf und Universität Ulm
Förderung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Laufzeit: 2017–2021
https://www.uni-potsdam.de/de/ptz/coach-projekt.html
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2020 „Gesundheit“.