„Die Diabelli-Variationen sind, als würde man einen VW-Käfer zerlegen und die Vision eines Bentleys entwickeln“, sagte einmal der österreichische Pianist Rudolf Buchbinder. Sein Vergleich lässt die Dimension und Komplexität der „33 Veränderungen“ erahnen, die Ludwig van Beethoven 1823 zu einem Walzer des Wiener Komponisten und Musikverlegers Anton Diabelli schuf. „Fast eine Stunde Klaviermusik, Variation an Variation gereiht, Wiederholung an Wiederholung und doch überall Differenz, Eigensinn, Poesie und noch nie Gehörtes“, hieß es in der Einführung zu der Konzertausstellung, die der Musikwissenschaftler Professor Dr. Christian Thorau in seinem Projektseminar mit Studierenden entwickelt hatte. Darin war es um die Visualisierung der Musik auf der Basis wissenschaftlicher Analysen gegangen. Dass das Seminar im Corona-Semester online stattfinden musste, schien nicht zu stören. Im Gegenteil. Hatten die Studierenden doch alle Register der ihnen zur Verfügung stehenden digitalen Instrumente gezogen, um für die Ausstellung virtuelle Klangräume zu erschaffen und musikalische Strukturen sichtbar zu machen.
Bilder einer Komposition
Die erste Visualisierung der Musik Beethovens sind die vor 200 Jahren geschriebenen Noten. In einem gemütlichen Sessel sitzend konnten die Besucher der Konzertausstellung ein Faksimile des Autographs gedruckt oder digital durchblättern und dabei die originalen Anmerkungen und Streichungen des Komponisten studieren. Überklebungen, Einlegeblätter, mit roter Tinte geschriebene Korrekturen geben bis heute Einblick in Beethovens Arbeitsweise und seine künstlerischen Intentionen.
Alle weiteren Bilder zu den Diabelli-Variationen entstehen in den Köpfen derer, die sich das Werk aneignen. Für ihr Projekt hatten die Studierenden deshalb die sehr verschiedenen Assoziationen berühmter Interpreten in einer Tabelle gegenübergestellt und schließlich ihren Klavierdozenten Detlef Pauligk gebeten, seine eigenen hinzuzufügen. Variation IV zum Beispiel nennt er „widerborstig, stur und stolz“, während der österreichische Pianist Alfred Brendel ihr einmal den Titel „Fleißiger Nussknacker“ gab. Aber auch jene Bilder, die die Zuhörenden in den Variationen „sehen“, wurden von den Studierenden erfragt und neben der Tabelle als Wortsammlung an die Wand projiziert. Ergänzend konnten die Besucher vor Ort ein reales Bild zeichnen und aushängen. Ein in jeder Hinsicht interaktives Kunstprojekt, in dem die Rezipienten selbst zu Akteuren wurden.
Neue „Noten“
Eine ganz andere Ästhetik entfaltete eine Bildcollage, für die die Studierenden Diabellis Thema und Beethovens Variationen in einer mit MIDI generierten Grafik darstellten. MIDI steht für Musical Instrument Digital Interface und ermöglicht, die am Keyboard gespielten Töne mit ihren unterschiedlichen Höhen und Längen als kleine schwarze Blöcke sichtbar zu machen. So entstanden Chiffren, die entfernt noch an Noten erinnern. Am Computer verschiedenfarbig unterlegt, ließen die Bilder musikalische Strukturen erkennen – eine andere, eine neue Form, Musik in Zeichen zu setzen.
Doch lässt sich der Computer tatsächlich für die Musikanalyse nutzen? Was kann durch Algorithmen zuverlässig erfasst werden? Oder obliegt es allein dem Zuhörenden, zum Herz eines Musikstücks vorzudringen. Student Florian Reuß zeigte in der Ausstellung, mit welchen informationswissenschaftlichen Methoden Wissen über Musik aus Audiosignalen gewonnen werden kann und wie die Daten analysiert, visualisiert und gedeutet werden. Sein Kommilitone Oktavian Wojciechowski lud zu einem Rundgang durch sein digitales „Museums der Diabelli-Variationen“ ein, das er mit der von Gamedesignern und Architekten genutzten Software Unreal Engine geschaffen hatte. Darin fanden sich verschiedene Hörbeispiele und all die Analyse- und Darstellungsformen, die im Projektseminar entwickelt worden waren. Ein Ausflug in virtuelle Klangräume.
Konzert mit Zwischentönen
Als sich der Pianist des Abends, Detlef Pauligk, inmitten der Ausstellung ans Klavier setzte, konzentrierten sich die Sinne wieder auf das Hier und Jetzt. Obwohl Projektleiter Christan Thorau die Gäste dazu eingeladen hatte, auch während des Konzerts umher zu wandeln, saßen viele plötzlich still, versunken in das inspirierende und hoch virtuose Spiel Detlef Pauligks. Mit den Augen konnten sie einem Lichtstrahl folgen, der parallel zur Musik über die an die Wand gepinnten Variationsbezeichnungen wanderte und anzeigte, an welcher Stelle des Stücks sich der Pianist gerade befand. Gleichzeitig wechselten die Visualisierungen nun koordiniert mit der live erklingenden Musik – die Ausstellung spielte also die Musik mit.
Aufsehen erregten die Transformationen, mit denen Studierende im Konzert an einem zweiten Flügel kontrastierende Zwischentöne setzten, unter anderem mit einer Variation des Komponisten Gösta Neuwirth für präpariertes Klavier.
Das wegen der Hygienemaßnahmen notwendigerweise kleine Publikum zeigte sich begeistert. Im Projekt, so Christian Thorau, sei eine „Annäherung an die Beethovensche Kreativität“ gelungen. Die Studierenden hätten ihr theoretisches Wissen, Experimente zum Musikhören und zur Musikanalyse mit der Aufführung des Werkes verknüpft. So sei ein inszenierter Wissens-, Bild- und Klangraum entstanden, der sich in Echtzeit mit der Musik verwandelte und durch neue Variationen angereichert wurde. Schon bald sollen Ausstellung und Konzert ein Da capo erleben. Immerhin ist das Beethovenjahr bis 2021 verlängert worden.
Video zur Konzertausstellung Beethovens Diabelli-Variationen
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2020 „Digitalisierung“ (PDF).