Berichte über Schulen, in denen Kinder und Jugendliche aus verschiedenen kulturellen Kontexten gemeinsam lernen, drehen sich häufig um die Herausforderungen für Schüler und Lehrer, die sich aus der Verschiedenheit im Klassenzimmer ergeben. Das dabei vermittelte Bild vergisst, dass sie den Schülerinnen und Schülern auch vielerlei Chancen eröffnet. Davon war Psychologin Miriam Schwarzenthal überzeugt, als sie sich entschied, zur interkulturellen Kompetenz von Heranwachsenden in kulturell-diversen Schulen in Deutschland zu promovieren. Forschung dazu gab es vergleichsweise wenig, anders als beispielsweise zur Mobilität und interkulturellen Kompetenz von Studierenden. „Das hat mich gewundert“, sagt sie. „Ich war selbst mehrfach im Ausland und die interkulturellen Begegnungen haben meine Perspektive sehr bereichert. Warum sollte das nicht auch für Schülerinnen und Schüler in einer kulturell vielfältigen Schule in Deutschland gelten?“
Umfangreiche Befragungen
In ihrer Forschung greift die junge Wissenschaftlerin auf Theorien aus der Entwicklungs- und Sozialpsychologie zurück und verbindet diese miteinander. Wie wirkt sich das Alter auf die interkulturelle Kompetenz von Schülerinnen und Schülern aus? Welchen Einfluss hat der Kontakt zu anderen Kulturen, zum Beispiel in Freundschaften? Hierzu hat Miriam Schwarzenthal umfassende Daten erhoben – in über 95 kulturell heterogenen Schulklassen mit Heranwachsenden im Alter von elf bis 16 Jahren in Nordrhein-Westfalen und Berlin. Außerdem nutzte sie schon vorhandene Datensätze zu weiteren 88 Schulen aus Baden-Württemberg. Da es für die Messung der sogenannten kulturellen Intelligenz bei Jugendlichen noch keine erprobten Methoden gab, hat sie diese kurzerhand selbst entwickelt. „Ich wollte einen Fragebogen erarbeiten, der interkulturelle Kompetenz unter Schülerinnen und Schülern und ihre Bedingungen wirklich messen kann. Dafür musste ich erst einmal Interviews führen.“ In dem daraus entstandenen Fragebogen wollte sie von ihren Probanden zum Beispiel wissen, welcher kulturellen Gruppe sie sich zugehörig fühlen. „Das ist wichtig, wenn jemand offiziell einen Migrationshintergrund hat. In meiner Befragung, wollte ich herausfinden, welche kulturelle Identität die Schülerinnen und Schüler selbst erleben und ihnen nichts überstülpen. Außerdem konnte ich so erfassen, ob die kulturelle Identität der Kinder und Jugendlichen Auswirkungen auf den Zusammenhang von Lernbedingungen und interkultureller Kompetenz hat.“ Die Forscherin entwarf auch Tests, bei denen sie den Jugendlichen Situationsbeschreibungen zur Bewertung vorlegte. Anschließend schrieben diese in einem Kurzessay, wie sie mit der Situation umgehen würden. Die so entstandenen Texte wurden dann anhand eines Kodierbuches, das Miriam Schwarzenthal mit ihren Supervisoren entwickelt hatte, von zwei unabhängigen Forschenden kodiert.
Für die Befragung in den Berliner Schulen war ein langer Antragsprozess notwendig: Ethikrat, Senatsverwaltung, Schulleiter und teilweise Eltern mussten ihre Einwilligung geben. Und auch die Forschung selbst war nicht ganz einfach, denn beispielsweise die Frage nach den Herkunftsländern der Eltern ist ein sensibles Thema. In anderen Projekten werden oft Leistungsunterschiede in den Blick genommen, so junge Wissenschaftlerin. „Und da haben Eltern vielleicht Bedenken gegen die Wissenschaft und wollen nicht, dass sie Forschung unterstützen, die dann das Ergebnis publiziert, dass ihre kulturelle Gruppe in der Schule schlechter abschneidet“, sagt sie. Ihr hingegen war eine ressourcenorientierte Perspektive wichtig: „Die Schüler wachsen in mehreren Kulturen gleichzeitig auf und sprechen verschiedene Sprachen. Sie können und müssen sich in verschiedenen Kontexten zurechtfinden und können verschiedene Verhaltensweisen adaptieren. Das sind alles große Stärken.“ Besonders beeindruckt war sie bei ihren qualitativen Interviews davon, über welches Expertenwissen die Schülerinnen und Schüler verfügten und wie reflektiert sie waren. „Sie wussten viel über die kulturellen Hintergründe ihrer Mitschüler. Wussten zum Beispiel, warum einer gerade fehlt, wenn ein bestimmtes Fest war.“
Herausragende Dissertation
Das umfangreiche Datenmaterial hat die Psychologin analysiert und die Ergebnisse in insgesamt fünf empirischen Studien ausgewertet und veröffentlicht. Im Sommer 2020 erhielt sie für ihre Arbeit den Preis der Potsdamer Universitätsgesellschaft für die „herausragende Dissertation des Jahres 2019“. „Es bestärkt mich, dass meine Forschung als wichtig angesehen wird. Aber ich leide auch etwas am Imposter-Syndrom, zweifele manchmal daran, ob ich das wirklich verdient habe“, sagt die kürzlich promovierte Psychologin. Zu Unrecht, denn die Doktorarbeit schließt Forschungslücken und wirft zugleich neue wichtige Fragen auf. So konnte Miriam Schwarzenthal herausarbeiten, dass interkulturelle Freundschaften, das Klassenklima und die Selbstreflexion der Schüler positiv mit ihrer interkulturellen Kompetenz zusammenhängen. Wichtiger, als sich einem kulturellen Hintergrund verbunden zu fühlen, sei es, dass sich die Schüler aktiv mit ihrer eigenen Identität auseinandersetzen – etwa damit, welchen Einfluss ihre Sozialisation auf ihre Weltsicht und Einstellungen haben. Auch konnte die Forscherin belegen, dass die Förderung von Kontakten und Kooperationen zwischen Schülerinnen und Schülern verschiedener Herkunft durch die Lehrkräfte einen positiven Effekt auf die interkulturelle Kompetenz der Heranwachsenden hat. Ebenfalls positiv ist ein multikultureller Ansatz in der Schule, der Unterschiede anerkennt und wertschätzt und die Kinder und Jugendlichen ermuntert, ihre eigenen kulturellen Hintergründe kennenzulernen und sich darüber auszutauschen. Die Forschungsbefunde sind besonders wertvoll vor dem Hintergrund, dass u.a. die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und das Council of Europe fordern, interkulturelle Kompetenz zu fördern, weil sie in der globalisierten Einwanderungsgesellschaft immer wichtiger wird. „Ich hoffe, dass meine Dissertation einen Beitrag dazu leisten kann, dass sich das Bild von kulturell vielfältigen Schulen in der Öffentlichkeit verbessert. Und dass die Ressourcen von Schülerinnen und Schülern dieser Schulen gesehen werden“, sagt Miriam Schwarzenthal, die mit ihrer Arbeit auch Aspekte der Frage beantwortet, wie Lehrerinnen und Lehrer agieren müssen, um die kulturelle Vielfalt in ihren Schulen positiv zu nutzen.
Auf zu neuen Ufern
Im Zuge ihrer Forschung hat die Psychologin nicht nur wichtige Erkenntnisse, sondern auch zahlreiche neue Fragen gefunden, auf die sie nun als Postdoc an der Universität Potsdam Antworten suchen will. So habe ein zu enger Fokus auf Kultur auch Schattenseiten. „Es wird oft vernachlässigt, dass Chancen und Ressourcen in kulturell vielfältigen Gesellschaften nicht gleich verteilt sind.“ Auch das kann in der Schule zum Problem werden, so Miriam Schwarzenthal: „Vielleicht wird jemanden wegen seines Nachnamens keine Empfehlung fürs Gymnasium gegeben, obwohl er dort gut mithalten könnte.“ Deshalb möchte sie nun zu Critical Consciousness, also kritischem Bewusstsein forschen. Gemeint ist damit die Fähigkeit, kritisch darüber zu reflektieren, wie soziale Ungerechtigkeit entsteht und wie sie sich abbauen lässt. Das Konzept wurde in den 1970er Jahren von dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire entwickelt und anschließend auch in Deutschland rezipiert. „Mir sind aber wenig empirische Studien zum kritischen Bewusstsein bekannt. Erst in jüngerer Zeit wenden US-Wissenschaftler es auf Jugendliche an. Ich denke, es ist Zeit, damit einen empirischen bildungswissenschaftlichen Beitrag für den deutschen Kontext zu leisten.“ In einem ersten Schritt möchte sie dafür Interviews führen, um herauszufinden, ob und unter welchen Bedingungen Jugendliche in Deutschland, kritisches Bewusstsein entwickeln und in welchem Alter sie das tun. Die kleinangelegte Studie mit Interviews, soll in einem zweiten Schritt durch statistische Daten ergänzt werden, um ein umfassenderes Bild über Critical Consciousness unter Jugendlichen in Deutschland zu erhalten. Dies ist aus bildungswissenschaftlicher Perspektive besonders interessant, da wissenschaftliche Studien darauf hindeuten, dass ein kritisches Bewusstsein schulisches Engagement und Leistungen ebenso befördert wie die Bereitschaft ein Hochschulstudium zu beginnen. Wenn man also Jugendliche in der Schule dabei unterstützt, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, ließe sich möglicherweise erreichen, so Miriam Schwarzenthals Überlegung, dass mehr Jugendliche aus stigmatisierten Gruppen ein Studium aufnehmen. Ein lohnendes Ziel, findet die Psychologin.
Die Forscherin
Dr. Miriam Schwarzenthal studierte Psychologie an der Universität Köln und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit Mai 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Inklusionspädagogik-Heterogenität in institutionalisierten Bildungsprozessen der Universität Potsdam.
E-Mail: miriam.schwarzenthaluuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2020 „Gesundheit“.