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Innehalten und hinterfragen – Schule und Demokratie in der (Corona)Krise

Zur Corona-Pandemie – Beiträge aus der Universität Potsdam

Bildungsforscher Wilfried Schubarth macht klar: Schule sollte mehr tun als nur Wissen vermitteln. | Foto: AdobeStock/Kzenon
Foto : AdobeStock/Kzenon
Bildungsforscher Wilfried Schubarth macht klar: Schule sollte mehr tun als nur Wissen vermitteln.
Die Corona-Krise fördert lange bestehende Probleme der Gesellschaft mit besonderer Wucht zutage – so auch in der Bildung. Der Potsdamer Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Wilfried Schubarth sieht in der Krise die Chance, zentrale Fragen neu zu stellen: Sind die Ziele und Inhalte heutiger Bildung und Erziehung den Herausforderungen zum Überleben der Menschheit noch angemessen? Im Interview spricht er über Demokratiebildung, soziale Gerechtigkeit und Wertewandel.

Herr Prof. Schubarth, ohnehin schon sozial benachteiligte Kinder trifft es derzeit besonders hart, wenn sie bei geschlossenen Schulen zu Hause nicht genug Förderung erfahren. Welche Folgen wird das haben?

Ja, auch wenn wir alle von der Corona-Krise betroffen sind, so sind doch die Folgen für einzelne Gruppen ganz unterschiedlich. Die sozial benachteiligten Kinder und Jugendliche betrifft es besonders, weil schulische Lern- und Erziehungsprozesse quasi wegfallen und durch deren Familien nicht aufgefangen werden können. Bildungsferne oder andere benachteiligte Milieus haben dafür einfach nicht die Ressourcen: weder die materiell-technischen noch die ökonomischen oder sozial-kulturellen. Deshalb sind gerade diese Milieus, neben den materiellen, auf erzieherische, vor allem motivationale, pädagogisch-didaktische Unterstützungsleistungen durch Lehrkräfte und andere pädagogische Fachkräfte angewiesen. Wenn diese wegfallen, können Lern- und Entwicklungsfortschritte stagnieren oder gar problembehaftet werden. Ich denke da an problematisches Medien-, Freizeit- und Essverhalten oder an vermehrte Konfliktlagen in Familien. Hieran zeigt sich auch die große Bedeutung der Ganztagsangebote oder der außerschulischen Jugend(sozial)arbeit, auf die diese Kinder und deren Familien besonders angewiesen sind. Hier rächt sich, dass Deutschland die Frage der sozialen Gerechtigkeit im Schulsystem bisher vernachlässigt hat und der Bildungserfolg der Kinder immer noch stark von der sozialen Herkunft der Eltern abhängt – und das 20 Jahre nach der ersten PISA-Studie. Auch die kürzlich gestartete Initiative des Bundes und der Länder „Schule macht stark“ zur Unterstützung von Schulen in sozial schwierigen Lagen ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein und kommt viel zu spät.

Welche Probleme sehen Sie außerdem aufbrechen?

Im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Bemühungen, nicht nur der Pädagoginnen und Pädagogen, sollten das Kindeswohl und das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen stehen. In Krisenzeiten gilt das besonders. Zu einer gelingenden Sozialisation gehören Eltern, Großeltern, Freunde und das soziokulturelle Umfeld. Wenn Teile davon wegbrechen, kann es bei vielen zu Stress und Überforderung oder auch zu Hilflosigkeit und Angstreaktionen kommen. Die Folge können vermehrte Aggressionen, sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet, sein oder auch eine gesteigerte Anfälligkeit für autoritäre Angebote, beispielsweise Verschwörungstheorien. So gibt es bereits Anzeichen für eine erhöhte Gewalt in den Familien, die sich dann gegen die Schwächsten richtet. Auch die aktuelle HBSC-Gesundheitsstudie verweist auf psychosomatische Belastungen und mangelnde Bewegungsaktivitäten bei einem beachtlichen Teil von Kindern und Jugendlichen, und das bereits vor Corona. Auf gesellschaftlicher Ebene verschärft die Corona-Krise, ähnlich wie die Migrationskrise, schon bestehende Probleme einer Gesellschaft. So werden Probleme der sozialen Ungleichheit, die Folgen von Spaltungs- und Polarisierungsprozessen in vielen Bereichen augenfällig und harren der Bearbeitung. Wichtig ist, dass die Schwächeren, die keine Lobby haben, wie Armutsgefährdete, Kinder mit besonderem Förderbedarf, Migrantenkinder, chronisch Kranke oder Geflüchtete, nicht durch das Raster der öffentlichen Wahrnehmung fallen. Denn hier ist die pädagogische Unterstützung wichtiger denn je.

Sehen Sie in der Krise eine Chance, Unzulängliches zu hinterfragen und Grundsätzliches zu ändern? Was vor allem?

Die Corona-Krise, diese bisher unvorstellbare plötzliche Entschleunigung, was Erinnerungen an die relative Langsamkeit der 1950er, 1960er Jahre weckt, birgt die Chance zum Innehalten und zum Hinterfragen des bisher Selbstverständlichen oder als alternativlos Dargestellten, im Privaten wie im Gesellschaftlichen. Eine solche kritische Reflexion der Werte führt dann zu Fragen wie: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Was hält eine Gesellschaft zusammen, was treibt sie auseinander? Oder: Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein? Auch für den Bildungsbereich stellen sich viele Fragen neu: Sind die Ziele und Inhalte heutiger Bildung und Erziehung den Herausforderungen zum Überleben der Menschheit noch angemessen? Wie lange können wir die Gerechtigkeitsfrage vernachlässigen und es uns leisten, einen Teil der Schülerschaft von ausreichender Bildung und Erziehung auszuschließen? Wie sieht ein inklusives Bildungssystem aus? Oder wann wird endlich in die frühkindliche Bildung und Erziehung aller Kinder mehr investiert?
Wenn beispielsweise Erziehungsziele wie Solidaritätsfähigkeit, Gemeinwohlorientierung, Empathie oder soziales und demokratisches Engagement für das Überleben der Menschheit wichtiger werden, sollte das auch stärker seinen Niederschlag in den Bildungs- und Erziehungszielen und in der Schul- und Erziehungspraxis finden. Dazu gehört auch, Schule neu zu denken und sie nicht nur als Ort der Wissensvermittlung anzusehen, sondern auch als sozial-kommunikativen Raum, an dem sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen, ihre Freunde treffen und soziales Miteinander üben können. Wer hätte gedacht, dass Schülerinnen und Schüler nach einer gewissen Zeit die Schule so vermissen und zwar vor allem als sozialkommunikativen Ort? Viele dieser Fragen sind nicht neu. So hat der bekannte Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki schon in den 1980er Jahren solche „Schlüsselprobleme der modernen Welt“ als wesentliche Inhalte einer Allgemeinbildung begründet, vor allem Frieden, Umwelt, Leben in der einen Welt, Technikfolgen, Demokratisierung, gerechte Verteilung in der Welt, Gleichberechtigung, Menschenrechte und Glücksfähigkeit. Mittlerweile haben viele Schulen solche Konzepte in ihr Schulprogramm aufgenommen. Übrigens führt der Verein Kreidestaub e.V. für Potsdamer Lehramtsstudierende Lernreisen zu „guten Schulen“ durch, die ich mitbetreue.

Als Erziehungswissenschaftler befassen Sie sich seit Langem mit der Demokratiebildung an Schulen. Worauf kommt es jetzt besonders an?

Nicht erst seit der Corona-Krise steht die Demokratie in Deutschland vor allem durch Rechtsextremismus, Rechtspopulismus oder Hate Speech unter Druck. Die Anfälligkeit vieler Jugendlicher für rechtspopulistische Parolen gerade in Ostdeutschland, und das 30 Jahre nach der deutschen Einheit, wirft kein gutes Licht auf die Demokratiebildung. Auch im internationalen Vergleich ist Deutschland nur Mittelmaß. Deshalb kommt es jetzt darauf an, die kürzlich gefassten Beschlüsse der Kultuskonferenz (KMK) zur Demokratieerziehung und Menschenrechtsbildung in die Praxis umsetzen und, wie es dort heißt, Schule zu einem „Ort gelebter Demokratie“ zu machen. Damit dies nicht Utopie bleibt, bedarf es einer ganzen Reihe von Maßnahmen, zum Beispiel alle Lehrkräfte für Demokratiebildung sensibilisieren, Demokratiebildung als obligatorischen Bestandteil der Lehrkräftebildung in allen drei Phasen etablieren, Demokratiebildung als ganzheitliche Aufgabe in allen Fächern umsetzen, eine demokratische Schulkultur fördern und die politische und historische Bildung sowie die Medienbildung mit Blick auf das digitale Zeitalter ausbauen.

Gerade die Corona-Krise mit der Kontroverse um die Einschränkung der Grundrechte schärft unser Bewusstsein für den Wert einer funktionierenden Demokratie und ihren Prinzipien wie Menschenrechte, Gewaltenteilung, Pluralismus oder politische Partizipation. Hier können Kinder und Jugendliche erleben, dass Demokratie nicht etwas Abstraktes ist, sondern etwas, das sie unmittelbar betrifft. So ist die Krise zugleich eine Lerngelegenheit, nicht Fake News oder Verschwörungstheorien blind zu folgen, sondern sich selbst sachkundig zu informieren und eine eigene kritische Urteilsfähigkeit zu entwickeln. Da ist auch die Schule mehr gefordert. Nicht umsonst fordert der kürzlich verstorbene Nestor der Demokratiepädagogik und Mitbegründer des Potsdamer Modells der Lehrerbildung, Wolfgang Edelstein, dass Demokratie im Zentrum der Aufgabe steht, die Schule zu erfüllen hat. Praktische Ansätze wie Dilemmata-Diskussionen oder auch Klassenrat, Schulparlament, Peer Mediation und Engagement-Lernen, zeigen vielerorts, was möglich ist. Nicht zuletzt braucht es mehr Forschung zur Demokratiebildung; mit unserer Hate Speech-Forschung wollen wir dazu einen kleinen Beitrag leisten.

Mit der „Fridays for Future“-Bewegung wurden vielen Schülerinnen und Schülern die existenziellen Menschheitsprobleme bewusst. Was wird die Bedrohung durch das Corona-Virus auslösen?

Die Corona-Krise schärft uns aller Krisenbewusstsein, auch für die Fragilität des Lebens überhaupt. Das Gesundheitsbewusstsein, das bei Jugendlichen, insbesondere bei Mädchen laut den Jugendstudien ohnehin schon recht hoch ist, wird weiter zunehmen. Ausdruck dessen ist die Grußformel „Bleiben Sie gesund“, mit der auch unsere Studierenden ihre Mails abschicken. Die Diagnose einer „Risikogesellschaft“ des Soziologen Ulrich Beck aus den 1980er Jahren bekommt jetzt eine ganz neue Bedeutung. Und auch Kinder und Jugendliche müssen mit der „neuen Realität“ leben lernen, in unsicheren Zeiten handlungsfähig bleiben und widersprüchliche Erwartungen und Bedürfnisse ertragen, die sogenannte Ambiguitätstoleranz üben. Eine Schlüsselkompetenz heute, die in Schule erlernt werden sollte. Und die Anhänger der „Fridays for Future“-Bewegung werden sich fragen, warum bei Corona geht, was bei der Klimadiskussion nicht geht. Da kommen spannende Zeiten auf uns zu.

Kann die Corona-Krise einen Wertewandel hervorrufen. Wenn ja, in welche Richtung? Und was bedeutet das für das Lehren und Lernen an Schulen?

Der Ausgang des Live-Experiments namens „Corona“ ist offen. Niemand weiß, was wird, oder wie der bekannteste deutsche Philosoph Jürgen Habermas treffend bemerkte, „so viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“. Die Corona-Krise kann einen Wertewandel in unterschiedliche Richtungen bedeuten. Ob die Anfangseuphorie in Richtung mehr Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig sein wird, muss man abwarten. Vorstellbar ist auch ein Zurück zum business as usual oder gar eine verschärfte „Ellenbogenmentalität“. Für die Schulen lassen sich Prognosen ableiten in Richtung eines längst überfälligen Digitalisierungsschubs und eines enormen Fortbildungsbedarfes bei Lehrkräften nicht nur zum technischen Know-how, sondern auch zur Mediendidaktik. Außerdem besteht die Gefahr, dass durch die Digitalisierung neue Heterogenitäten entstehen und sich die ohnehin schon vorhandenen sozialen Ungleichheiten vergrößern werden. Dem muss sich Schule entgegenstellen. Darüber hinaus erwarte ich, dass dem selbstgesteuerten Lernen und der pädagogischen Interaktionsqualität mehr Bedeutung beigemessen wird, zumindest deuten erste Befunde des „Schulbarometers“ darauf hin. Und ich hoffe, dass auch das soziale Lernen, die Werteerziehung insgesamt und die Demokratiebildung an Wertschätzung gewinnen. Einen Anlass dafür bietet der für dieses Jahr angekündigte 16. Kinder und Jugendbericht der Bundesregierung zum Thema „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“.

Das Interview basiert auf dem Beitrag „Mehr Demokratie wagen? Demokratie(bildung) in der (Corona)Krise“, der in der Zeitschrift für Schulmanagement, Heft 3/2020 erscheint.

 

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