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Strafe & Gesetz – Die Forschungsstelle Russisches Recht sorgt für regen Austausch zwischen Deutschland und dem postsowjetischen Raum

Prof. Uwe Hellmann (rechts) und Dr. Sargis Terzikyan. | Foto: Tobias Hopfgarten
Foto : Tobias Hopfgarten
Prof. Uwe Hellmann (rechts) und Dr. Sargis Terzikyan
Menschenwürde, Freiheit oder Eigentum zählen zu den elementaren Rechtsgütern. Wer sie verletzt, hat mit Sanktionen zu rechnen. Diese fallen aber nicht in jedem Land gleich aus. Die Strafrechtswissenschaftler Prof. Dr. Uwe Hellmann und Sargis Terzikyan, Ph.D., kennen die Rechtsnormen sowie die damit verknüpften Strafen in Deutschland und in den ehemals sowjetischen Staaten sehr gut. Sie sind in der Forschungsstelle Russisches Recht tätig, die es seit Juli 2018 an der Juristischen Fakultät gibt. Dr. Jana Scholz sprach mit ihnen darüber, warum der Rechtsvergleich für Juristinnen und Juristen so hilfreich ist.

Herr Hellmann, wie entstand die Idee zur Forschungsstelle?

Uwe Hellmann: Die Idee stammt von unserem ehemaligen Dekan Professor Götz Schulze. Die Forschungsstelle sollte die verschiedenen Kooperationen der Juristischen Fakultät mit Russland und anderen Staaten des postsowjetischen Raumes bündeln und verstetigen. Teilweise entstanden diese Beziehungen bereits zu DDR-Zeiten, aber auch später haben sich Kollegen wie Professor Detlev Belling um die Fortsetzung und den Aufbau von Partnerschaften bemüht: Ihm ist es zu verdanken, dass die Juristische Fakultät 2007 mit der Kutafin-Universität in Moskau eine Kooperationsvereinbarung abgeschlossen hat. Seitdem entwickelt sich die Zusammenarbeit mit einer von mir persönlich nie für möglich gehaltenen Dynamik. Wir organisieren seither eine ganze Reihe wissenschaftlicher Veranstaltungen in Potsdam, Russland und den ehemals sowjetischen Staaten, bauen eine eigene Bibliothek auf dem Campus Griebnitzsee auf und ermöglichen wechselseitig Forschungsaufenthalte.

Stellen Sie bei Ihrer Arbeit Unterschiede in der juristischen Theorie und Praxis fest?

Hellmann: Genau darum geht es: Jede Seite erläutert ihre Rechtslage und die Probleme, die sich daraus ergeben. Wenn man sich mit einem anderen Rechtssystem befasst, stellt man Denkgewohnheiten infrage, die man sich vielleicht schon im Studium angeeignet hat. Vor dem Hintergrund anderer Rechtsordnungen komme ich hin und wieder zu dem Ergebnis, dass mich das deutsche Strafrecht nicht immer unbedingt überzeugt. Recht gewinnt stets mit einem Vergleich. Dadurch kann man eine bessere Norm, ein besseres Rechtssystem gestalten. Die russischen Kolleginnen und Kollegen haben ein großes Interesse am deutschen Strafrecht, denn die deutsche Strafrechtswissenschaft ist nach wie vor weltweit mit führend. Sie hat eine lange Tradition.

Woran liegt das? Die russische Rechtsordnung ist im Vergleich zur deutschen ja relativ jung.

Hellmann: Jein. Sie hat vielmehr eine völlig andere Entwicklung als die deutsche. Einzelne Straftatbestände sind auf das preußische Strafgesetzbuch von 1851 zurückzuführen. Wir haben im Grunde eine 170-jährige Tradition. In Russland ist das anders. Es gab das zaristische Strafrecht, dann ab den 1920er Jahren mehrere sowjetische Strafcodizes und ab 1990 musste in kurzer Zeit ein neuer Strafcodex, das heißt ein Strafgesetzbuch, entwickelt werden. Umso größer ist das Interesse russischer Juristen am ausländischen Strafrecht.

Ist das Erbe der Zaren- und der Sowjetzeit im aktuellen Strafcodex denn noch präsent?

Hellmann: Es wurde ein ganz neuer Strafcodex entworfen, auch in den Begrifflichkeiten, da sich die wirtschaftlichen Verhältnisse völlig verändert hatten. Gewisse Prinzipien, wie die sehr stark an den eingetretenen Schäden orientierte Strafzumessung, stammen vermutlich aus der sowjetischen Tradition. Eine weitere Besonderheit ist, dass jeder Straftatbestand die besondere gesellschaftliche Gefährdung voraussetzt.

Sargis Terzikyan: In den späten 1990er Jahren wurde der Codex an die veränderten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen angepasst, zum Teil nach westlichem Vorbild. Und auch die aktuellen Änderungen orientieren sich eher am ausländischen Strafrecht. Das deutsche System wurde eine Grundlage für weitere Entwicklungen. Beispielsweise war im armenischen Recht die Gemeingefährlichkeit bislang ein Merkmal des Tatbestandes. Doch nun gibt es einen neuen Entwurf des Strafgesetzbuches der Republik Armenien, wonach die Rechtswidrigkeit und die individuelle Schuld maßgeblich sein sollen. Es wurden Straftatbestände mit einem niedrigen Grad der Gemeingefährlichkeit wie Beleidigung und üble Nachrede aus dem armenischen Strafgesetzbuch entfernt und als zivilrechtliche Delikte eingeordnet. Die Zufügung starker körperlicher Schmerzen und psychischer Leiden wird als Straftatbestand in das armenische Strafgesetzbuch nun allerdings wegen der hohen Gemeingefährlichkeit eingefügt. Dieser Straftatbestand soll zum Beispiel die häusliche Gewalt erfassen.

Ist der Straftatbestand der Gemeingefährlichkeit ein kommunistisches Relikt?

Hellmann: Es hat im westdeutschen Strafrecht nie eine solche Diskussion gegeben. Der Staat schafft einen Strafrechtsbestand, um bestimmte Rechtsgüter zu schützen, und das sind normalerweise Individualrechtsgüter. In der kommunistischen Konzeption spielte das Individuum eine geringere Rolle, ich vermute, dass die Idee der Gemeingefährlichkeit dieser früheren Ausrichtung entstammt. Denn wenn ein Individualrecht wie das Leben verletzt wird, braucht man keine besondere Gemeingefährlichkeit. Die Gefahr liegt im Angriff auf das Individualrecht.

Gibt es Unterschiede im Strafmaß zwischen der Europäischen Union und Russland?

Hellmann: Nicht nur in Russland, sondern im gesamten postsowjetischen Raum ist das Strafmaß höher als in Deutschland. In Deutschland kommen auf 100.000 Menschen ca. 70 Inhaftierte, während es in Russland 400 sind. Zum Vergleich: In den USA sind es 1.000. Und Wladimir Putin möchte, dass die Zahl der Inhaftierten in der Russischen Föderation halbiert wird. Die Humanisierung des Strafrechts ist ein politisch angestrebtes Ziel. Ein weiterer erheblicher Unterschied ist, dass es in Deutschland nur die Freiheits- und die Geldstrafe gibt. In Russland existieren neun oder zehn Formen der Strafe, wie zum Beispiel die Lagerhaft – mit oder ohne Arbeitspflicht.

Was interessiert deutsche Wissenschaftler am russischen Strafrecht?

Hellmann: Nur ein Beispiel: In Russland ist es so, dass alle Straftatbestände im russischen Strafcodex geregelt sind. In Deutschland ist nur ein Teil der Straftatbestände im Strafgesetzbuch festgehalten, ein großer Teil dagegen im sogenannten Nebenstrafrecht. Das deutsche Strafrecht ist völlig zerfleddert. Es gibt keine einzelne Quelle, die man als „das“ deutsche Strafrecht betrachten kann. Meiner Ansicht nach wäre es richtig, wie in Russland alle Straftatbestände im Strafgesetzbuch zusammenzufassen.

Terzikyan: Für die Bürgerinnen und Bürger wäre das ein großer Vorteil, um etwa herauszufinden, was im Wirtschafts- oder Steuerstrafrecht rechtmäßig ist. Dafür müssen sie in Deutschland – anders als in Russland – verschiedene Quellen prüfen.

Gibt es eine Vision, wie die Forschungsstelle in zehn Jahren aussehen könnte?

Hellmann: Wir hoffen, dass sich die Situation jedenfalls nicht zum Negativen verändert. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland haben sich ja in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert. Es existiert im Bereich Strafrecht kaum noch Zusammenarbeit. In dem Maße, in dem wir das tun, gibt es das in Deutschland nirgends.

Terzikyan: Außerdem kommt bisher jedes Jahr ein Land als Kooperationspartner hinzu, von Armenien über Mazedonien und Aserbaidschan bis Kirgisistan. Dieses Jahr nehmen wir an einer Konferenz in Usbekistan teil, das Land fehlte uns bis jetzt als Partner. Es wäre sehr gut, diesen Stand zu halten und uns auch über das Strafrecht hinaus zu erweitern. Wir werden Werbung für unsere eigene Bibliothek machen, die bisher vor allem strafrechtliche Bücher und Zeitschriften in russischer Sprache beinhaltet, aber zukünftig auch Publikationen zum Zivil- oder zum Öffentlichen Recht anbieten soll.

Was hindert denn Kolleginnen und Kollegen daran, nach Russland zu fahren und Kooperationen aufzubauen? Gehört dazu im Moment besonderes diplomatisches Geschick?

Hellmann: Wenn ich den russischen Kollegen erst einmal die Welt erkläre, dann kann ich gleich wieder nach Hause fahren. So funktioniert das nicht. Es benötigt gegenseitiges Vertrauen, um einander die Meinung sagen zu können. Zum Beispiel empfehle ich den Kolleginnen und Kollegen seit zehn Jahren, dass sie die Gefangenenzahlen reduzieren müssen. Die sind für eine Gesellschaft extrem schädlich. Je mehr gerade junge Männer Gefängniserfahrung haben, desto mehr Probleme hat eine Gesellschaft.
Früher war auch die Todesstrafe ein Thema, die seit Anfang der 2000er Jahre nicht mehr vollstreckt wird, aber noch immer im Strafcodex steht. Ich sage ständig: Streicht die Todesstrafe! Denn dadurch erhöht sich das gesamte Strafniveau. Meiner Ansicht nach muss der Staat das Leben seiner Bürger schützen. Auch bei Homosexualität gibt es oft eine andere Grundeinstellung. Dann sage ich: Die sexuelle Orientierung anderer Menschen interessiert mich nicht. Da stoße ich tatsächlich häufig auf offene Ohren. Bei unseren wissenschaftlichen Thesen spielt Politik aber keine Rolle.

Terzikyan: Vielleicht liegt es auch daran, dass unsere Kooperationen schon so lange laufen. Wir konzentrieren uns bei den Veranstaltungen auf unsere juristischen Fragestellungen.

Gibt es denn etwas im deutschen Recht, woran sich russische Juristinnen und Juristen stoßen?

Hellmann: Ja, das gibt es: die Sicherungsverwahrung. Es hat zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegeben, in denen die deutsche Sicherheitsverwahrung als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gewertet wurde. Das fand man in Russland richtig toll. Der Vollzug der Sicherungsverwahrung unterschied sich früher faktisch nicht vom Vollzug der Strafhaft. Da lag es nahe zu sagen, dass es sich im Grunde um eine Doppelbestrafung handelt. Es sind jetzt allerdings neue Regelungen getroffen worden, wovon wir uns bei einem Besuch mit russischen Kolleginnen und Kollegen in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg überzeugt haben. Exkursionen gehören in der Forschungsstelle übrigens fest zum Programm. Mit den russischen Studierenden gehen wir auch in den Bundesrat, in den Bundestag, in den brandenburgischen Landtag oder ins Bundeskanzleramt. Und ich selbst war mit einer russischen Delegation im Kreml, was sehr aufregend war.

Herr Terzikyan, was ist für Sie das Spannende an der Tätigkeit?

Terzikyan: Mich interessiert der Kontakt mit den Partneruniversitäten, auch wenn es um organisatorische Tätigkeiten geht. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist insbesondere der Rechtsvergleich mit Russland, aber gerade auch mit den ehemals sowjetischen Ländern wie Armenien, Usbekistan, Weißrussland, Kirgisistan oder Aserbaidschan spannend. Man lernt faszinierende Persönlichkeiten kennen und der Austausch hat einen sehr großen Mehrwert für das eigene Forschungsprojekt – und für den Werdegang.

Das Projekt

Feste Kooperationspartner der Forschungsstelle Russisches Recht sind die Moskauer Staatliche Juristische O.E. Kutafin-Universität, die Belarussische Staatliche Universität, die Moskauer Staatliche M.V. Lomonosov-Universität, die Nationale Forschungsuniversität „Hochschule der Wirtschaft“ in Moskau und die Eurasische Juristische D.A. Kunaev-Akademie in Almaty. Zu den regelmäßigen Veranstaltungen zählen eine internationale wissenschaftlich-praxisorientierte Konferenz zum Strafrecht in Moskau, die Woche des deutschen und russischen Rechts und das deutschrussische Seminar – beide finden im Wechsel in Potsdam oder in Russland statt – ein russisch-deutscher runder Tisch an der Moskauer Kutafin-Universität zu aktuellen Fragen des Wirtschaftsstrafrechts sowie eine internationale rechtsvergleichende Konferenz in Potsdam.

www.uni-potsdam.de/de/ls-hellmann/forschung/forschungsstelle-russisches-recht.html

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Uwe Hellmann studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bielefeld und ist seit 1994 Professor für Strafrecht, insbesondere Wirtschaftsstrafrecht, an der Universität Potsdam. Er leitet die Forschungsstelle Russisches Recht an der Juristischen Fakultät in Potsdam.
E-Mail: lshellmannuni-potsdamde

Sargis Terzikyan, hat an der Universität Potsdam ein LL.M.-Studium absolviert und den Ph.D. in Law an der Russisch-Armenischen Universität in Jerewan erworben. Seit Juli 2018 arbeitet er in der Forschungsstelle Russisches Recht.
E-Mail: sargis.terzikyanuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2019 „Daten“.