Zum Hauptinhalt springen

Europa digital – Wie es sich in Zeiten der Digitalisierung regiert

Symbolbild. Digitale Verwaltung bedeutet auch Bürgerservices online. | Foto: AdobeStock/Sikov
Foto : AdobeStock/Sikov
Digitale Verwaltung bedeutet auch Bürgerservices online.

Deutschland, Norwegen, Belgien, Dänemark, Frankreich, Spanien, Estland, Ungarn, Großbritannien und die Niederlande – die öffentliche Verwaltung all dieser Länder ist mit digitalen Reformen konfrontiert. Und all diese Länder gehen unterschiedlich mit der Digitalisierung um. Wie nutzen europäische Regierungen digitale Instrumente, um zusammenzuarbeiten? Und wie kommunizieren sie über solche Tools mit den Bürgerinnen und Bürgern? Das erforschen Julia Fleischer und ihr Potsdamer Team zusammen mit Wissenschaftlern aus zehn europäischen Ländern im Forschungsprojekt TROPICO. Seit zwei Jahren läuft es, 2021 soll es abgeschlossen sein. Ein guter Zeitpunkt, um über die ersten Ergebnisse zu sprechen.

„Mit Verwaltungsreformen kann man hierzulande keine Wahlen gewinnen“, sagt Julia Fleischer, Professorin für Politik und Regieren in Deutschland an der Uni Potsdam. Da überrascht es eher wenig, dass die Digitalisierung der hiesigen öffentlichen Verwaltung im europäischen Vergleich etwas hinterherhinkt. „In den skandinavischen Ländern, aber etwa auch in Estland gibt es eine offenere Haltung gegenüber digitalen Anwendungen. Hier ist bisweilen ein regelrechter Reformeifer zu spüren“, erklärt Fleischer. Damit sei aber nicht gesagt, dass es ein Problem darstellt, wenn Länder sich restriktiver verhalten – wie beispielsweise Deutschland.

Denn dafür gibt es meist gute Gründe. In Deutschland sei die Verwaltung nämlich aus dem wenig flexiblen Bürokratie-Ideal nach Max Weber entwickelt worden. „Prinzipien wie Schriftenmäßigkeit und Aktenmäßigkeit sind nicht so einfach anzupassen an die Möglichkeiten, die digitale Instrumente bieten“, erklärt Fleischer. Hinzu kommt, dass die Zivilgesellschaft dem Datenschutz hierzulande einen vergleichsweise hohen Stellenwert beimisst. Und nicht zuletzt ist der rechtliche Rahmen im Föderalismus sehr komplex: „Es ist nicht so einfach, eine gemeinsame Digitalisierungsstrategie zu entwickeln, die dann tatsächlich auch in der Fläche funktioniert – man benötigt ja nicht nur Ideen und Instrumente, sondern auch die Infrastruktur dafür.“

Die Kommunen entwickeln spannende Ideen zur Nutzung von Online-Tools

So ist es zwar in Deutschland schon seit einigen Jahren möglich, die Steuererklärung komplett elektronisch abzuwickeln. „Da sind wir nicht viel anders aufgestellt als andere Länder“, so die Verwaltungswissenschaftlerin. Allerdings bewirken die sehr komplexe Steuergesetzgebung und das Steuerrecht, dass die elektronische Übermittlung vergleichsweise kompliziert ist. „Da ich in den Niederlanden und in Norwegen gelebt habe, weiß ich, wovon ich spreche“, sagt Fleischer und lacht. Doch die Zurückhaltung gegenüber digitalen Diensten sei hin und wieder auch ein Vorteil: „Man muss nicht immer Frontrunner sein. Gerade dadurch lassen sich Fehler vermeiden.“

Zumal sich die Bundesregierung das Thema „Digital Governance“ durchaus auf die Agenda gesetzt hat. Mit dem Onlinezugangsgesetz haben sich der Bund, die Länder und die Kommunen 2017 verpflichtet, ihre Verwaltungsleistungen – und es sind insgesamt 575 – bis Ende 2022 digital anzubieten. „Es gibt bereits viele spannende Ideen, insbesondere auf der Ebene der Kommunen und Bundesländer. Das sind in unserer föderalen Ordnung die Ebenen, die primär zuständig sind für die Bereitstellung von Dienstleistungen. Für Kita-Plätze, Elterngeld – die gesamte Daseinsversorgung.“ In Bremen wird derzeit etwa eine App für die Beantragung von Elterngeld getestet. Es komme aber nicht nur auf Ideen an. „Sie müssen auch rechtssicher erprobt werden und das drosselt das Ganze ab und an.“ Beim Elterngeld müssen außerdem verschiedene Behördengänge gebündelt werden. Davon profitieren letztlich aber nicht nur die Eltern, sondern auch die Behörden, die in ganz neuer Weise zusammenarbeiten.

Die öffentliche Verwaltung ist eng mit dem jeweiligen Rechtssystem verknüpft

Das Team in Potsdam ist insbesondere für die interne Politikformulierung zuständig: wie Regierungen Beschlüsse herbeiführen, Verordnungen erlassen oder Gesetze entwerfen. Das beinhaltet auch den Vergleich zwischen europäischen Ländern. Daher haben Fleischer und ihr Team europaweit Wissenschaftler aus der Rechts-, Politik-, Verwaltungs- und Geschichtswissenschaft gefragt, wie sich die Digitalisierung aus ihrer Sicht auf die Politikformulierung auswirkt. „Wir konnten sehen, dass sich die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern zum Teil auch auf die administrativen Traditionen zurückführen lassen. So sprechen die Kollegen in Estland den Dynamiken digitaler Dienste deutlich mehr Effekte zu als die Kollegen in Deutschland.“ Für die Wissenschaftlerin erklären sich diese Unterschiede vor allem aus den verschiedenen Rechtssystemen, mit denen die öffentliche Verwaltung eng verknüpft ist.

Gleichzeitig ergab die Befragung, dass die Digitalisierung nicht nur zu besserer, effizienterer Zusammenarbeit führen kann, sondern auch zu Problemen: etwa in der Abgrenzung von Kompetenzen und in der Kooperation von Ministerien oder Behörden. Fleischer ist gespannt auf die Befragung der Beschäftigten selbst, die in der zweiten Projekthälfte ansteht. Die wissenschaftliche Meinung hat das internationale Team mit qualitativen Fallstudien in den einzelnen Ländern kontrastiert, wo digitale Instrumente eingesetzt werden, um intern Politik zu formulieren. In Deutschland ist das zum Beispiel die sogenannte elektronische Nachhaltigkeitsprüfung (eNAP). Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, im Bereich ihrer Politikformulierung stärker auf die in der Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen gesetzten Ziele einzugehen. Die webbasierte Anwendung eNAP ist eine Maßnahme, die sicherstellen soll, dass diese Ziele auch erreicht werden: Sie soll den Referentinnen und Referenten die Nachhaltigkeitsprüfung erleichtern. „Unsere zentrale Frage ist, ob sie das Portal überhaupt nutzen und wie es sich auf ihren Arbeitsalltag auswirkt.“

Außerdem haben sich Fleischer und ihr Team digitale Tools im Klimaschutz in Ungarn angesehen oder auch eine elektronische Plattform von Beschäftigten für Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung in den Niederlanden. „Wir wollen verstehen, wie sich die Digitalisierung auf das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Verwaltung auswirkt“, sagt die Wissenschaftlerin. Fleischer untersucht mit ihrem Team, inwiefern die Europäische Union die Einführung von digitalen Instrumenten implizit fördert. Wird etwa beim Umweltschutz ein Tool zum CO2-Ausstoß in einem Land getestet und für gut befunden, findet es dann schneller den Weg in andere EU-Länder? Auf solche Fragen erhofft sie sich Antworten.

Auch die Zivilgesellschaft bringt sich zunehmend auf digitalem Wege ein

In Bezug auf die Politikumsetzung haben sich die Verwaltungswissenschaftler Online-Portale für Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Norwegen angeschaut – in Berlin „meinberlin.de“ und in Norwegen „minsak.no“ (zu Deutsch: meine Sache). Beide Plattformen ermöglichen es Bürgern, sich in städtische Planungsprozesse einzubringen.

Eines der größeren Probleme ist laut Fleischer, dass bei der Nutzung solcher digitalen Tools nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleich stark vertreten sind. „Wie auch bei der analogen Kommunikation mit der öffentlichen Verwaltung nutzen eher Menschen mit höherem Bildungsniveau die Instrumente der politischen Teilhabe als weniger gebildete.“ Die Wissenschaftler interessiert allerdings weniger, wie die Bürger solche Angebote annehmen, sondern vielmehr, wie die Verwaltung damit umgeht. Wie werden die Eingaben verarbeitet – schneller oder langsamer als in analoger Form? Gibt es überhaupt Unterschiede? Und wie ändern sich Arbeitsabläufe und Entscheidungsfindungen? Noch stecken die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitten in der Auswertung. Eine vorläufige Antwort auf diese Fragen hat Fleischer aber dennoch: „Es wird nicht alles besser oder schlechter, sondern die Antwort ist: Es kommt darauf an.“

Das Projekt

TROPICO – Transforming into Open, Innovative and Collaborative Governments
Laufzeit: Juni 2017–Mai 2021 Beteiligt: Universität Potsdam, Central European University, Budapest (Ungarn), University of Antwerp (Belgien), University of Bergen (Norwegen), Sciences Po Grenoble (Frankreich), Cardiff University (Großbritannien), Hertie School of Governance, Berlin, Erasmus University Rotterdam (Niederlande), KU Leuven (Belgien), Tallinn University of Technology (Estland), Roskilde Universitet (Dänemark), University of Zaragoza (Spanien)

Das Potsdamer Team: Julia Fleischer, Nora Carstens, Andree Pruin, Camilla Wanckel

Förderung: Europäische Union/Horizon 2020

www.tropico-project.eu

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr. Julia Fleischer studierte Verwaltungswissenschaft an den Universitäten Potsdam und Complutense Madrid. Seit 2017 ist sie Professorin für Politik und Regieren in Deutschland an der Universität Potsdam.
E-Mail: julia.fleischeruni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2019 „Daten“.