2009 initiierten die Vereinten Nationen den „Welttag der sozialen Gerechtigkeit“. Seitdem wird am 20. Februar an das Leitbild der sozialen Gerechtigkeit in Gemeinschaften erinnert. Matthias Zimmermann und Magda Pchalek sprachen mit Roland Verwiebe, Professor für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit, über Ideal und Wirklichkeit und die Möglichkeiten der Forschung, an beidem mitzuwirken.
Herr Prof. Verwiebe, bitte vervollständigen Sie: Soziale Gerechtigkeit ist …
Prof. Verwiebe: … politisch relevant, sie betrifft die gesamte Organisation von Gesellschaft und sie ist nicht nur ein abstraktes Prinzip. Denn soziale Gerechtigkeit wirkt direkt in der Lebenspraxis der Menschen. Wir wissen, ob wir in einem Land leben, in dem jeder eine Chance hat, seine/ihre Potentiale zu entfalten. Wir sind uns darüber bewusst, ob wir in unserem Job fair behandelt werden. Wir fragen uns, ob unsere Kinder auch in der Zukunft Zugangsmöglichkeiten zu Bildung, Gesundheit und bezahlbarem Wohnraum haben werden.
Aber was ist denn soziale Gerechtigkeit überhaupt?
Soziale Gerechtigkeit ist eine Frage, mit der sich bereits die Philosophen der Antiken befasst haben. Sie spielt in der katholischen Soziallehre eine große Rolle, herausragende Denker wie Karl Marx, John Rawls oder Amartya Sen haben sich ihr gewidmet. Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit zielt m.E. auf das gute Leben ab, nicht allein im materiellen Sinne, sondern auch mit Blick darauf, ob der/die Einzelne einen angemessenen Platz in der Gesellschaft finden kann. Es geht also im konkreten und prinzipiellen um individuelle Chancen, gegenseitige Fairness, persönliche Autonomie und Würde, Zugangsmöglichkeiten zu wertvollen Gütern wie Bildung, Wohnen, Arbeit und um die individuelle Freiheit der Teilhabe an sozialen und kulturellen Prozessen.
Die sozialwissenschaftliche Gerechtigkeitsforschung unterscheidet unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit. Innerhalb der Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit spielen jene der Verteilungsgerechtigkeit eine besondere Rolle, weil sie die Anfangsausstattung der Güter und Rechte bestimmen, die jedem Bürger zukommen sollen. Hier geht es also um Verteilungsregeln, die auch politisch permanent ausgehandelt werden. Verteilungsgerechtigkeit ist von Kontexten abhängig und nicht mit Verteilungsgleichheit identisch. Innerhalb von Familien oder in Freundschaftsbeziehungen gilt viel eher eine Verteilungsgleichheit als gerecht als innerhalb von Arbeitsmärkten. Eine Gleichheit von Löhnen wäre ungerecht, da Beschäftigte unterschiedlich viel Qualität in der Arbeit erbringen, nicht in gleichem Maße in ihre Bildung investiert haben, in variierender Weise Verantwortung übernehmen usw. Die Diskussion um Chancengerechtigkeit zielt auf einen gerechten Zugang zu wertvollen sozialen Gütern und Positionen ab. Chancengerechtigkeit impliziert nicht automatisch Chancengleichheit, da Menschen unterschiedliche Leistungen zeigen. Mit dem Begriff der Teilhabegerechtigkeit wird nach den Möglichkeiten der ökonomischen, kulturellen, politischen oder sozialen Teilhabe gefragt, die im Grundsinne rechtlicher Gleichstellung fixiert sein sollte.
Die UN hat den heutigen Tag mit dem Motto „Closing the inequalities gap to achieve social justice“ überschrieben. Was genau meint das?
Soziale Gerechtigkeit ist eng mit Ungleichheitsfragen verknüpft. Ich habe schon ausgeführt, dass Gerechtigkeit und Gleichheit nicht identisch sind. Gleichwohl ist die Reduzierung von extremen Ungleichheiten eine Notwendigkeit, um weltweit mehr Gerechtigkeit zu erreichen. Dabei geht es u.a. um die Einkommensdifferenzen zwischen Männern und Frauen, zwischen Hochqualifizierten und Niedrigqualifizierten, zwischen westlichen Ländern und Ländern des globalen Südens. Nur ein Beispiel: In den USA zeigen Statistiken, dass ein durchschnittlicher Vorstandsvorsitzender für jeden Dollar, den ein durchschnittlicher Arbeitnehmer verdient, 265 Dollar erhält (www.statista.com/statistics/424159/pay-gap-between-ceos-and-average-workers-in-world-by-country/). In Indien liegt dieser Faktor bei 230, in Großbritannien bei 200 und in Deutschland bei 135. Der Bruttodurchschnittslohn liegt in Deutschland bei etwa 32.000 Euro pro Jahr. Unsere Vorstandsvorsitzenden verdienen damit im Durchschnitt etwa 5 Mio. Euro im Jahr, bei den DAX-Unternehmen deutlich mehr. Viele Menschen wissen auch, dass sich in Deutschland die durchschnittlichen Reallöhne in der letzten Dekade nur moderat erhöht haben (um etwa 10 Prozent). Die Entwicklung der Vorstandsgehälter ist davon inzwischen völlig abgekoppelt. Das ist ein extremes Ausmaß an Ungleichheit, das als nicht gerecht empfunden wird.
Warum forschen Sie zu sozialer Ungleichheit? Und was hat die mit sozialer Gerechtigkeit zu tun?
Das Ausmaß sozialer Ungleichheit ist m.E. eine Schlüsselfrage. Es geht um den sozialen Kitt unserer Gesellschaft. Sehr starke Ungleichheit empfinde ich auch persönlich als sehr ungerecht. Vielleicht hat das auch familiäre Gründe. Ich habe Werkzeugmacher gelernt, mein Vater kommt aus einer Arbeiterfamilie. Ich wünsche mir, in einem Land zu leben, in der jeder Mensch entsprechend seiner Talente und Leistungen seinen Platz findet und fair behandelt wird.
Welchen Beitrag kann die Forschung zur Überwindung sozialer Ungleichheit und zur Etablierung sozialer Gerechtigkeit leisten?
Die sozialwissenschaftliche Forschung kann einen sehr großen Beitrag leisten, indem sie sich mit den drängenden Problemen sozialer Ungleichheit befasst und am Puls der Zeit bleibt. Wir gehen momentan hier an der Universität Potsdam in Richtung der Beforschung von neuen sozialen Ungleichheiten, die durch die Digitalisierung der Gesellschaft hervorgerufen werden.
Wie kann soziale Gerechtigkeit vorangebracht werden? Wie wird soziale Ungleichheit langfristig zu bekämpfen sein?
Deutschland ist ein Land mit wesentlich mehr sozialer Gerechtigkeit als die USA oder Großbritannien. Aber auch bei uns ist ein fairer Zugang zu Bildung, Wohnen, Arbeitsmarkt, sozialer und kultureller Teilhabe essentiell. Im Bereich des Wohnens sehe ich sehr große Schwierigkeiten, da es in allen Ballungsräumen an bezahlbaren Wohnungen mangelt. Auch am Arbeitsmarkt gibt es Probleme, da sich trotz sehr günstiger konjunktureller Entwicklung und Vollbeschäftigung in vielen Bundesländern die Niedriglohnbeschäftigung in den letzten 15 Jahren sehr stark ausgebreitet hat. Inzwischen haben zwischen 20 und 25 Prozent der Deutschen einen Niedriglohnjob. Das sind Monatsbruttogehälter von 1.900 Euro und weniger (das Netto ist dann deutlich niedriger), von denen man keine Familie ernähren kann. Diese Polarisierung am Arbeitsmarkt wird in der politischen Diskussion häufig übersehen. Es gibt eine Häufung von Niedriglohnjobs in einigen Regionen Deutschlands, vor allem in den neuen Bundesländern. Damit haben wir eine weitere Ungleichheitsachse, die im Kontext der Diskussion um soziale Gerechtigkeit sehr relevant ist. Bei der schulischen, berufsschulischen und universitären Bildung bin ich optimistischer. Wir haben im Unterschied zu vielen anderen Ländern keine Barrieren durch Schulgebühren oder Studiengebühren, sondern ein System, in dem z.B. das Studium von jungen Menschen aus finanzschwächeren Familien auch konkret unterstützt wird, etwa durch das BaföG.
Text: Magda Pchalek/Matthias Zimmermann
Online gestellt: Sabine Schwarz
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