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Vom Fußball zum Experiment – Wie Kinder wissenschaftlich denken lernen

Experiment in der Schule. | Foto: AdobeStock/Syda Productions
Foto : AdobeStock/Syda Productions
Experiment in der Schule.
Es ist eine alte Pädagogenweisheit: Wer sich für etwas interessiert, lernt schneller. Aber warum ist das so? Und lässt sich dieser Umstand nutzen, um Kindern den Gedankenweg durch unbekanntes Gelände zu weisen? Sebastian Kempert, Juniorprofessor für Empirische Grundschulpädagogik und -didaktik, untersucht, wie sich vorhandene Interessen und neuer Lernstoff klug miteinander verknüpfen lassen.

Paul brennt für Fußball. Er kennt alle Tricks, weiß, wie man am besten einen Elfmeter hält oder als Stürmer den entscheidenden Treffer macht. Jede freie Minute bolzt er mit seinen Freunden auf dem Sportplatz und spielt auch schon im Verein.

Wie Paul können sich die meisten Kinder für eine bestimmte Sache überdurchschnittlich stark interessieren. Das eine für Musik, ein anderes für Fantasiegeschichten. Ein Pfund, mit dem sich beim Lernen wuchern lässt. Oder wie es der Didaktiker ausdrückt: „Wir können außerschulische Interessen nutzen, um Erklärungen im Unterricht erfahrungsnah und motivierend einzubetten.“

Sebastian Kempert will die Prozesse des interessengesteuerten Lernens besser verstehen, um daraus konkrete Hinweise für die Gestaltung des Unterrichts abzuleiten und neue didaktische Materialien zu entwickeln. In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt untersucht er den Zusammenhang von Interesse und Lernen im Grundschulalter am Beispiel eines Themas aus dem frühen naturwissenschaftlichen Sachunterricht: Im dritten und vierten Schuljahr beschäftigen sich die Kinder erstmals mit den Grundprinzipien des Experimentierens. Sie sollen die Fähigkeit erwerben, kontrollierte Experimente zu erkennen und zu produzieren. Keine einfache Aufgabe. Wie lernen sie dies schneller und leichter, wenn bei der Vermittlung ihre eigenen Interessen eine Rolle spielen? Begreift Paul besser, wie ein wissenschaftliches Experiment ablaufen muss, wenn es mit Fußball zu tun hat? Sebastian Kempert und seine Doktorandin Ann-Kathrin Laufs haben die Probe aufs Exempel gemacht und von Lehramtsstudierenden im Unterricht testen lassen, wie die Kinder reagieren, wenn man ihre individuellen Interessen einbezieht.

Wird das Arbeitsgedächtnis entlastet?

Bevor es aber soweit war, mussten sie herausfinden, wofür sich Dritt- und Viertklässler im Allgemeinen tatsächlich interessieren. Das Ergebnis einer Pilotbefragung überraschte nicht wirklich: Sport und Fußball waren ganz vorn dabei, auch Tiere, spannende Geschichten und natürlich Handys und Tablets. Mit diesem Wissen starteten Kempert und Laufs dann in ihre konkreten Untersuchungen an Grundschulen in Berlin und Brandenburg. Rund 250 Mädchen und Jungen waren beteiligt. Zunächst ermittelten die Forschenden, was die Kinder bereits über Experimentierstrategien wissen und welches Verständnis sie davon haben. Nur so würde sich später – am Ende der Untersuchung – ein Vorher-Nachher-Effekt beschreiben lassen. Außerdem erhoben sie teilweise mit spielerischen Computertests die sprachlichen Kompetenzen, die Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses der Schüler sowie ihre allgemeinen kognitiven Fähigkeiten. Kempert und Laufs vermuten, dass das Arbeitsgedächtnis entlastet wird, wenn die Kinder beim Lernen auf Vorwissen aus ihrem eigenen Interessengebiet zurückgreifen können. Die freien Kapazitäten könnten sie dann im größeren Maße für das Schlussfolgern, Problemlösen und weitere Elaborieren nutzen, was wiederum erklären würde, warum sie auf diese Weise schneller und besser lernen.

Eine weitere Forschungsfrage zielt auf die Kompensation von sprachlichen und kognitiven Schwächen durch eine individualisierte Vermittlung des Unterrichtsstoffs. „Wenn wir auf die Verschiedenheit der Schüler eingehen und ihre jeweiligen Lernbedürfnisse berücksichtigen wollen, müssen wir stärker differenzieren“, betont Sebastian Kempert und nimmt Bezug zur Inklusionspädagogik, die ohne individuelle Förderung undenkbar wäre.

Lehramtsstudierende lenkten die Aufmerksamkeit auf das Experimentieren

Im weiteren Verlauf der Untersuchung haben Kempert und Laufs die persönlichen Interessen jedes einzelnen Kindes ermittelt und Kleingruppen von Schülern mit ähnlichen Neigungen gebildet, um sie gezielt unterrichten zu können. Hier kamen dann die Lehramtsstudierenden ins Spiel. In zwei Stunden Sachkunde versuchten sie, am Vorwissen der Kinder anzuknüpfen und ihre Aufmerksamkeit auf das Thema des wissenschaftlichen Experimentierens zu lenken. Die Fußballbegeisterten zum Beispiel wurden in einer Sachaufgabe mit zwei fiktiven Freunden konfrontiert: Elisa und Ben. Die beiden überlegen, wie sie einen Ball besonders lange auf dem Fuß balancieren können. Sie haben drei Ideen: Die Größe des Balls ist entscheidend. Der Erfolg hängt von der Härte des Balls ab. Oder aber es kommt auf das Material an – Schaumstoff oder Leder. Ben vermutet, dass man einen harten Ball länger balancieren kann als einen weichen. Die Kinder müssen nun entscheiden, was Ben tun soll, um herauszufinden, ob die Härte des Balls für die Dauer des Balancierens wichtig ist. Zur Diskussion stehen wiederum drei Möglichkeiten. Ben könnte mehrere Bälle vergleichen und schauen, welchen Ball er am längsten balancieren kann. Oder aber er testet nur zwei Bälle, die sich in Material, Größe und Härte unterscheiden. Die dritte Option wäre, einen harten und einen weichen Ball derselben Größe und desselben Materials auszuprobieren.

Gutes Beispiel für forschungsbasiertes Studieren

Während der Unterrichtsstunde zeigte sich nun, in welcher Art die Kinder auf die Fragestellung reagieren und ob ihre Fußballbegeisterung sich für die Lösung der Aufgabe nutzen lässt. „Haben sie gelernt, eine Vermutung zu formulieren und durch Beobachten und Probieren zu einem Resultat zu kommen? Wie werten sie das Ergebnis aus und wie erklären sie eine mögliche Abweichung von der Vermutung? Sind sie in der Lage, dieses Denken auch auf andere Inhalte zu übertragen?“ Für Sebastian Kempert misst sich daran der Lernerfolg, den er am Ende in einer neuerlichen Befragung zum Verständnis von Experimentierstrategien erhoben hat.

„Es deutet sich an, dass die Kinder einen starken Lernzuwachs hinsichtlich der vermittelten Experimentierstrategie verzeichnen und ihre Lernmotivation durch die interessensgeleitete Vermittlung gesteigert wird“, so Kempert. Ob der Lernzuwachs anhand der angenommenen Entlastung des Arbeitsgedächtnisses erklärt werden kann, und ob sich die Kontroll- und Experimentalgruppen voneinander unterscheiden, wird in weiterführenden Analysen untersucht.

Die Wissenschaftler arbeiten derzeit mit Hochdruck an der Auswertung der Daten und beziehen hier auch wieder die Lehramtsstudierenden ein. „Ein gutes Beispiel für forschungsbasiertes Studieren“, sagt Kempert und verweist auf zwei Masterarbeiten und drei Bachelorarbeiten, die im Projekt entstanden sind. Wenn die Untersuchung in einem Jahr abgeschlossen ist, wird Ann-Katrin Laufs ihre Doktorarbeit vorlegen. Die Schulen werden ein Feedback und didaktische Materialien erhalten und auch die Eltern der getesteten Schüler bekommen eine Rückmeldung.

Schon jetzt profitiert haben in jedem Fall die Kinder, die am Beispiel eines Fußballs, einer Superheldengeschichte oder eines Handys gelernt haben, nach welchen Prinzipien ein wissenschaftliches Experiment funktioniert. Möglicherweise wird dies in ihrer Erinnerung für immer miteinander verknüpft bleiben.

Das Projekt

Wissenschaftliches Denken im Grundschulalter. Die Bedeutung von Interesse als Moderator für den Zusammenhang von Arbeitsgedächtnisressourcen und Lernleistungen Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Laufzeit: 2017–2020

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Sebastian Kempert studierte Psychologie in Berlin und promovierte in Pädagogischer Psychologie in Frankfurt (Main). Seit 2017 ist er Juniorprofessor für Empirische Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam.
E-Mail: kempertuni-potsdamde

Ann-Kathrin Laufs studierte Erziehungswissenschaften in Frankfurt (Main) und Interkulturelle Kommunikation und Bildung in Köln. Seit 2017 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Empirischen Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam.
E-Mail: laufsuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2019 „Daten“.