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Vom Ungewissen berührt – Der Literaturwissenschaftler Johannes Ungelenk geht ungewöhnliche Wege

Prof. Johannes Ungelenk. | Foto: Karla Fritze.
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Prof. Johannes Ungelenk. | Foto: Karla Fritze.

An der Lektüre theoretischer Texte lustvoll scheitern, als Literaturwissenschaftler übers Wetter schreiben und Studierende mit dem Ungewissen vertraut machen: Johannes Ungelenk hat Leidenschaften, die manch einer seltsam nennen würde. Unverzichtbar findet er sie, denn sie prägen ihn – als Forscher, als Hochschullehrer, aber auch als Mensch.

Johannes Ungelenk ist als Wissenschaftler ein Pendler zwischen den Welten. Nein, nicht im übertragenen Sinne. Er ist tatsächlich viel unterwegs. Während des Semesters pendelt er wöchentlich zwischen München, wo er mit seiner Partnerin lebt, und Potsdam, wo er seit Sommer 2018 Juniorprofessor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft ist. „Dann findet eben ein Büro-Verwaltungs-Lesevormittag im Zug statt“, erklärt er. „Außerdem kann ich auf diese Weise sehr klar trennen zwischen der Zeit für Lehre und fürs Schreiben.“ Für seine Leidenschaft – die Literaturwissenschaft – geht er weite Wege. Ansonsten zieht es ihn eher selten in die Ferne, wie er, beinahe stolz, sagt: „Andere haben Reiselust und Fernweh, mich lockt ein unbekannter Text oder ein neues Buch. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal im Urlaub war.“

Die Lust am Nichtverstehen entdecken

Seine Reisen führen ihn eher in Texte hinein, je fremder sie sind oder erscheinen, desto besser. „Ich finde, man muss bereit sein, sich dem Text auszusetzen, schauen, was er mit einem macht. Wenn man sich mit wissenschaftlichem Gestus über den Text stellt, macht der Text nichts anderes, als man von ihm erwartet – oder gar nichts mehr.“ Schon während seines Studiums der Komparatistik an der LMU München habe er mit Begeisterung Literatur- und andere Theorie gelesen, die keinen einfachen Zugang versprachen. „Ich musste feststellen, dass der Umgang mit dem Nichtverstehen anfangs Frustration freisetzt“, so der Wissenschaftler. „Ich habe Gilles Deleuze gelesen – einmal, zweimal, dreimal – und nichts verstanden. Es hat mich gekränkt, später dann, als es besser wurde, aber aufs Neue gereizt. Die Lust daran, nichts zu verstehen, muss wachsen.“ Daraus entstanden ist auch der Anspruch Johannes Ungelenks, eigene Forschungsarbeiten so zu gestalten, dass sie sich fremd machen, nicht wissenschaftlich stabilisieren, sondern in eine Auseinandersetzung verwickeln. „Ich will literarische Texte nicht auslesen oder auslegen, sondern vorführen, wie sie funktionieren.“

Der Aufbruch ins Ungewisse, in unbekannte Welten, gehört zu Ungelenks Werdegang als Wissenschaftler von Beginn an dazu. „Ich stamme nicht aus einer Akademikerfamilie, entsprechende Vorbilder gab es nicht.“ Gegen Ende seiner Schulzeit habe er die Welt der Literatur und Philosophie für sich entdeckt und wollte Leidenschaft mit einem sicheren Beruf verbinden. Als er sich schon ins Lehramt einschreiben wollte, machte ihm ein Mitglied einer Auswahlkommission Mut, sich von seinen Interessen leiten und auf ein reines Fachstudium einzulassen. Tipps, Hilfestellungen und Unterstützung wie diese habe er während des Studiums immer wieder bekommen und schätzen gelernt. „Weil ich eher schüchtern war, fühlten sich vielleicht viele Professoren berufen, mir unter die Arme zu greifen.“ In eine der ersten Seminararbeiten steckte er besonders viel Ehrgeiz und Fleiß, sie wurde förmlich zerrissen. „Aber im Gespräch darüber habe ich dann Wertschätzung für meine Bemühungen erfahren, die mich sehr weitergebracht hat.“ Auf die Magisterarbeit bei der Romanistin Prof. Barbara Vinken folgte eine Promotion. Schon für diese wollte Johannes Ungelenk die konventionellen Formen des Wissenschaftsbetriebs verlassen. Er hatte bei einem Aufenthalt in England zu Gendertheorien und der Konzeption eines dynamischen Geschlechterbildes gearbeitet und war fasziniert von einem Vergleich des französischen Philosophen Gilles Deleuze: „Deleuze zieht das Wetter zum Vergleich heran – als ein intuitiv vertrautes Phänomen, das sich aber als Ding nicht fassen lässt. Es hat eine gewisse Festigkeit, auf die man sich beziehen kann, ist aber zugleich dynamisch. Das hat mich angefixt.“ Anknüpfend an die Wetter- Metapher wollte er die Konzeption von Wissen und Erfahrung hinterfragen und dazugehörige Theorien diskutieren. Wieder „rettete“ ihn ein wohlmeinender Rat, den zweiten Schritt nicht vor dem ersten zu tun. „,Such dir ein klassisches literarisches Feld und schreib da übers Wetter, sonst ist deine wissenschaftliche Karriere zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat.‘ Und das habe ich gemacht.“ Ungelenk promovierte über das Bild, das sich einige der berühmtesten Literaten aller Zeiten – Shakespeare, Goethe und Zola – vom Wetter machten und wie dieses Bild Spiegel ihrer Zeit war. Sein Befund: Während in Shakespeares Stück The Tempest das Wetter seine Macht entfaltet und, genau wie im Wissen der frühen Neuzeit, im Zentrum der Welt steht, offenbart Goethes Werther bereits den Zugriff der Aufklärung: das sich der menschlichen Verfügbarkeit entziehende Wetter stellt keinen passenden Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung dar – dafür nimmt sich die Literatur seiner an und konstituiert sich so als autonome Sphäre. Zolas Romanzyklus der „Rougon-Macquart“ wiederum lässt erkennen, dass die Menschheit in der Moderne angekommen – und abermals verunsichert ist. Das Wetter, mehr noch das Unwetter wird zum Leitbild der modernen Welt und Symbol jener Kräfte, die wir nicht beherrschen können. Kostbar war für den frisch promovierten Komparatisten aber vor allem die Erkenntnis, dass sein unvoreingenommener Zugang zu Literatur Früchte trug: „Ich habe mir Texte gesucht und geschaut, wohin ihre Lektüre mich führt. Ich finde, so sollte jedes literaturwissenschaftliche Projekt starten!“

Arbeit an einer Philologie des Berührens

Diesem Credo ist Johannes Ungelenk treu geblieben. Aktuell arbeitet er an einer Philologie des Berührens. Einer der Ausgangspunkte ist wieder die Welt Shakespeares. „Die Texte, die dazu entstehen, untersuchen, wie Berührung im Theater funktioniert – etwa zwischen Publikum und Schauspielern. Gleichzeitig ist jeder Berührung grundsätzlich eine Distanz eingeschrieben, sonst wäre es keine Berührung mehr, sondern ein Verschmelzen, Aufessen oder anderes.“ Daneben geht er der Frage nach, inwiefern unser Denken optisch geprägt ist und wie sich ein neuer Leitbegriff – eben eine Philologie des Berührens – auswirken würde. „Reizvoll ist für mich, diese alternative Denkform nicht zu beschreiben, sondern auszuprobieren. Also in einem Text aufzuschlüsseln, wie Rilkes Dinggedichte funktionieren, damit der Text den Leser berührt“, so der Forscher. Mit dieser vergleichenden Sicht passe er sehr gut in das Potsdamer Institut für Künste und Medien. Immerhin sei einer von dessen Schwerpunkten, das Bild, ein hervorragender Anknüpfungspunkt für seine Forschung. „Es kümmert sich wohl keine Kunstform so sehr um das Berühren wie die Malerei, die immer schon den Rahmen sprengen und den Betrachter berühren will.“

Dass er nicht nur den Doktortitel erlangt, sondern nun sogar den Sprung auf eine Juniorprofessur am Potsdamer Institut für Künste und Medien geschafft hat, sind für Johannes Ungelenk keineswegs logische nächste Schritte auf der akademischen Karriereleiter. „Das akademische Berufsbild war mir völlig unbekannt. Vielleicht war das gut so. Hätte ich gewusst, welche Hürden es gibt, hätte ich mich das wohl nicht getraut“, sagt er. „Der Ruf ist für mich ein Sechser im Lotto!“

Mit besonderem Eifer und Freude hat sich Johannes Ungelenk nicht zuletzt in seine Rolle als Hochschullehrer an der Potsdamer Universität gestürzt. Man spürt, dass er sich noch immer mit Begeisterung an seine eigene Studienzeit erinnert – und die Freude daran weitergeben will. „Ich habe mir vorgenommen, in der Lehre zwei Dinge zu tun: mit Studierenden Texte ganz genau zu lesen, Zeile für Zeile. Und sie zu Lektüren einzuladen, die ins Ungewisse führen, vielleicht auch erst einmal nichts Greifbares erbringen.“ Mit der detaillierten Textlektüre habe er bereits sehr gute Erfahrungen gemacht. Probleme hätten Studierende eher damit, sich darauf einzulassen, dass möglicherweise auch Nichtverstehen zum Lernen an einer Universität dazugehört. „Natürlich ist es beunruhigend, einen Text in ein Seminar mitzubringen und nicht zu wissen, was damit passiert. Dass man etwas mitgenommen hat, merkt man aber manchmal erst drei Jahre später“, sagt der Literaturwissenschaftler. Zu diesem Ziel, der Freude am Ungewissen, hofft er seine Studierenden führen zu können. Immerhin profitiert er davon bis heute.

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Johannes Ungelenk studierte Komparatistik in München und Women’s Studies in Oxford. Seit 2018 ist er Juniorprofessor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam.
E-Mail: ungelenkuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2019 „Daten“.