„Stellt euch vor, ihr seid vereist. Versucht, so lange wie möglich – maximal 60 Sekunden – mit geschlossenen Augen auf einem Bein ruhig zu stehen. Ihr dürft euren Oberkörper zum Ausbalancieren bewegen. Aber ihr dürft nicht die Hände von der Hüfte lösen, hüpfen oder die Position eurer Beine verändern.“ Diese Übung ist einer von vielen körperlichen Fitness-Tests, die zur SMaRTER-Studie gehören. Acht und neunjährige Schülerinnen und Schüler aus insgesamt zwölf Schulen Brandenburgs haben sie beim Eingangstest im Februar dieses Jahres absolviert und im Juni zusammen mit anderen Aufgaben wiederholt. Die Testbatterie beinhaltet neben den Fitness-Tests und der Erfassung des körperlichen Aktivitätsniveaus auch Verfahren zur Abschätzung der Körperzusammensetzung, der kognitiven Funktion und des psycho-sozialen Wohlbefindens.
Wissenschaftliche Studien haben den Zusammenhang von körperlicher Fitness, insbesondere von Ausdauer, und Kognition bereits überzeugend nachgewiesen. Eine Verknüpfung gibt es vermutlich auch von koordinativ geprägten Leistungen und Kognition. Ein Grund, weshalb Granachers Team auch Gleichgewichtstests bei den Probandinnen und Probanden durchführt. Alle Kinder nehmen am Uni-Forschungsprojekt freiwillig teil. Gefunden wurden sie in erster Linie über die „EMOTIKON“-Studie, einem obligatorischen Bewegungscheck bei Drittklässlern in Brandenburg. Kinder mit Defiziten in der körperlichen Fitness wurden speziell angesprochen und gefragt, ob sie an der SMaRTER-Studie teilnehmen möchten.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergleichen zunächst die Wirkungen des Sportförderunterrichts auf Kinder in der Interventionsgruppe mit den Effekten des regulären Unterrichts bei Schülerinnen und Schülern in der Wartegruppe. Nach einiger Zeit tauschen die Gruppen die Rollen, sodass letztlich alle Kinder die Förderung erhalten. Im Anschluss an die einjährige Interventionsphase begleiten die Forscherinnen und Forscher die Kinder bis zum Ende ihrer Grundschulzeit. Sie wollen prüfen, ob die Maßnahme einen nachhaltigen Effekt zeigt. Die beteiligten Lehrkräfte verfügen inzwischen alle über Unterrichtsentwürfe für die zweimal wöchentlich stattfindende Intervention. Das Programm enthält spielerische Elemente zur Förderung von Kraft, Ausdauer und Koordination. Ball- und Staffelspiele sind genauso geplant wie Tanzübungen und Einheiten, die das Laufen, Werfen, Springen fördern.
Der Eingangstest lässt schon jetzt erkennen: Die Kinder, die über „EMOTIKON“ ausgewählt wurden, weisen tatsächlich motorische Defizite auf – und bilden damit klar die „Zielgruppe“ der SMaRTER-Studie. „Das ist die richtige Gruppe mit Förderbedarf“, bestätigt Urs Granacher. „Wir haben im Februar auch gesehen, dass unsere Tests funktionieren. Und dass sie Spaß machen.“ Gut angekommen seien etwa die kognitiven Tests, für die sein Mitarbeiter Fabian Arntz im Vorfeld eine App entwickelt hat. „Jedem Kind stand ein Tablet zur Verfügung, auf dem es die Tests machen konnte“, beschreibt Granacher das Vorgehen. „Das waren insbesondere Aufmerksamkeitsübungen, die die Kinder unter Zeitdruck schaffen mussten.“ Er hofft nun, dass der neu konzipierte Sportförderunterricht sich nicht nur positiv auf die körperliche Aktivität und Fitness der Grundschüler auswirkt, sondern auch auf die kognitive Funktion. „Das wäre ein toller Befund“, so der Sportwissenschaftler. „Die Posttests erwarten wir schon jetzt mit großer Spannung. Sie ermöglichen uns, den Interventionseffekt im Vergleich zu den Kontrollschulen exakt festzustellen. Das wird sicherlich der interessanteste Teil unserer Studie.“
Sorgen bereiten ihm dagegen ausgewählte Ergebnisse der EMOTIKON-Studie. So beobachten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei Brandenburger Drittklässlern seit einiger Zeit einen Rückgang der Leistungsfähigkeit im Ausdauerbereich. Beim sogenannten Sechs-Minuten-Lauf wurden die Ergebnisse über die letzten Jahre hinweg immer schlechter, insbesondere in der untersten Leistungsklasse. „Möglicherweise dient der Befund als Frühwarnsignal dafür, dass etwas in die falsche Richtung geht.“ Über die Gründe kann Granacher nur spekulieren. „Wir leben in einer tendenziell bewegungsunfreundlichen Umwelt. Der Schulweg wird häufig im Auto oder Bus zurückgelegt und nicht auf dem Fahrrad oder zu Fuß. Ebenso könnte die vermehrte Mediennutzung eine Rolle spielen.“
Schulen und Sportvereine sollen enger zusammenarbeiten
Bevor die SMaRTER –Studie überhaupt starten konnte, war Überzeugungsarbeit nötig. Granacher und Arntz mussten – unterstützt von der Landespolitik und dem Landessportbund – Schulen, Eltern und vor allem Lehrkräfte ins Boot holen. „Wir bieten Fort- und Weiterbildungsprogramme für Lehrerinnen und Lehrer an, die den Sportförderunterricht durchführen“, erklärt Eckhard Drewicke vom MBJS. Er ist Referent für Schulsport und begleitet in dieser Funktion sowohl die EMOTIKON- als auch die SMaRTER-Studie von Anfang an. „Für uns ist diese Forschung wichtig, weil sie uns Aussagen dazu liefert, wie sich praktisches Handeln verändern muss, damit wir Kinder mit Defiziten in der körperlichen Fitness wirklich erreichen.“ Vorgesehen ist, die Erfahrungen, die die Lehrkräfte derzeit beim Sportförderunterricht sammeln, in allgemeine Empfehlungen für Sportförderunterricht in Brandenburg münden zu lassen. Das Land plant dessen Ausbau.
Das MBJS nimmt aktuell, nachdem schon das Ganztagsprogramm für die Schulen neu aufgelegt wurde, verstärkt die Beziehung zwischen Schulen und Sportvereinen in den Blick. Dabei arbeitet es eng mit dem Landessportbund zusammen. Dieser ist gerade dabei, 40 Übungsleiter für die Arbeit mit Kindern, die Defizite in der körperlichen Fitness aufweisen, zu qualifizieren und 40 entsprechende Angebote zu entwickeln. „Wir sind im Gespräch, welche das sein könnten.“
Die Studien der Trainings- und Bewegungswissenschaft der Universität Potsdam reichen also weit über wissenschaftliche Messungen, Vergleiche und Schlussfolgerungen hinaus. Sie besitzen gesellschaftliche und damit (schul)politische Relevanz. Und zwar nicht nur für Brandenburg, denn das Phänomen von Defiziten in der körperlichen Fitness bei Kindern und Jugendlichen ist in vielen modernen Industriestaaten weit verbreitet.
„Henriettas bewegte Schule“ ist ein 2018 aufgelegtes Programm zur Bewegungsförderung, das das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg in Kooperation mit der AOK Nordost und dem Landessportbund (LSB) Brandenburg ins Leben gerufen hat. Mit ihm sollen Kinder und Jugendliche, die noch nicht so viel Spaß am Sport haben, für Bewegung begeistert werden. Es gibt bereits die ersten vom LSB ausgebildeten Übungsleiter. Die SMaRTER-Studie ist Teil dieses Programms. Für „Henriettas bewegte Schule“ wurden von der AOK Nordost und der Professur für Trainings- und Bewegungswissenschaft der Universität Potsdam unter anderem 25 Bewegungskarten entwickelt, die Lehrkräfte im Schulsportunterricht einsetzen können und Schülerinnen und Schüler zu Hause nutzen dürfen.
Das Projekt
Überprüfung der Effekte von Sportförderunterricht auf die motorische und kognitive Entwicklung von Grundschulkindern im Land Brandenburg (SMaRTER-Studie)
Förderung: rund 172.000 Euro, AOK Nordost – Die Gesundheitskasse Laufzeit: 2018–2022 Beteiligt: Prof. Dr. Urs Granacher, Fabian Arntz, Sophia Funk, Dr. Kathleen Golle, Teresa Rymarcewicz, Prof. Dr. Reinhold Kliegl
Die EMOTIKON-Studie wurde auf Anregung des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg an der Universität Potsdam entwickelt und steht für „Erfassung der motorischen Leistungsfähigkeit in der Jahrgangsstufe 3 zur kontinuierlichen Evaluierung des Schulsports und einer diagnosebasierten Systematisierung der Sport- und Bewegungsförderung“.
Untersuchungen zeigen, dass sich immer weniger Kinder und Jugendliche ausreichend bewegen. So ergab die seit 2003 laufende Trend- und Längsschnittstudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS), dass den Bewegungsempfehlungen der WHO von 60 Minuten körperlicher Aktivität pro Tag bei moderater bis hoher Intensität nur unzureichend entsprochen wird. Lediglich 22 Prozent der drei- bis 17-jährigen Mädchen und 29 Prozent der Jungen im selben Alter erfüllten 2017 die Vorgabe, wobei Jugendliche eine geringere Erfüllungsquote als Kinder aufweisen. Bei den Sieben- bis Zehnjährigen zeigt sich von 2009–12 (31 Prozent) zu 2014–17 (26 Prozent) überdies eine Abnahme der Erfüllungsquote der von der WHO vorgegebenen täglichen Minimaldosis an Bewegung.
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Urs Granacher hat an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Sportwissenschaft, Germanistik und Anglistik studiert. Seit 2012 ist er Professor für Trainings- und Bewegungswissenschaft an der Universität Potsdam.
E-Mail: urs.granacheruuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2019 „Daten“.