Erwachsene haben es, Kinder auch. Doch wie häufig das Restless-Legs-Syndrom (RLS) bei Minderjährigen tatsächlich auftritt, darüber weiß die Wissenschaft nur wenig. Mehr Klarheit soll jetzt eine Studie der Universität Potsdam schaffen. Honorarprofessor Prof. Dr. Thomas Erler vom Klinikum Westbrandenburg und Anne Schomöller von der Hochschulambulanz der Uni untersuchen in einem groß angelegten Projekt, inwieweit 6- bis 18-Jährige von der Erkrankung betroffen sind.
Es kribbelt und zuckt in den Beinen, sie wollen keine Ruhe geben. Die Beschwerden kommen meist in der Nacht. Dann, wenn die Betroffenen sich eigentlich ausruhen wollen. Doch durchschlafen können sie selten. Denn sie müssen wieder aufstehen und sich bewegen, erst dann lassen die für RLS typischen Missempfindungen nach. Die Folge: Wer unter dem Syndrom leidet, leidet auch unter einem doppelt anstrengenden Tag. Denn Frische und Konzentration fehlen, um alle anstehenden Aufgaben gut zu bewältigen. Ein Teufelskreis. Das Phänomen ist bei Erwachsenen seit Langem bekannt, sowohl hinsichtlich seiner Häufigkeit als auch seiner Ausprägung. Gegenwärtig gehen Experten davon aus, dass in Deutschland rund zwei Millionen Menschen jenseits des Jugendalters RLS haben. Und genau hier liegt der Knackpunkt. Neuere Forschungen halten die Erkrankung für möglicherweise angeboren. „Wenn das so wäre, gäbe es sie auch verbreitet im Kindesalter“, sagt Thomas Erler. „Nicht nur vereinzelt.“ Der Mediziner will das genauer wissen. Bisher sind eher wenige Fälle unter Kindern und Jugendlichen nachgewiesen. Verläuft die Erkrankung in diesem Alter womöglich anders und wird deshalb kaum diagnostiziert? Das ist die Frage, die ihn und Anne Schomöller genauso umtreibt wie die Mitglieder der Deutschen Restless Legs Vereinigung, die den Anstoß zur Forschung des Teams gegeben haben. Selbst vom Syndrom geplagt, haben einige von ihnen auch bei ihren Kindern und Enkeln Verhaltensweisen entdeckt, die sie veranlassten, sich an Ärzte und Wissenschaftler zu wenden.
Die RLS-Diagnostik bei Kindern ist schwierig
Während RLS bei Erwachsenen leicht feststellbar ist, ist das bei Kindern deutlich schwieriger. Gerade die ganz kleinen unter ihnen schlafen ohnehin selten durch, krabbeln mitunter nachts aus dem Bett und laufen herum. Am Tage quengeln sie dann um so mehr. Aber liegt deshalb gleich ein RLS vor? Erler ist sich sicher: Die für Erwachsenen typischen Symptome der Erkrankung lassen sich nicht automatisch auf Kinder und Jugendliche übertragen. Besonders wichtig erscheint ihm in diesem Zusammenhang noch ein anderes Problem: die Abgrenzung zum Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS. Auch die davon betroffenen Kinder können sich am Tag nur schlecht konzentrieren, sitzen selten still, verfolgen den schulischen Unterricht nur bedingt. „Es könnte sein, dass ein Teil davon nicht an ADHS, sondern an einem RLS leidet, das übersehen wurde“, befürchtet Erler. „Dem wollen wir in unserer Studie unter anderem nachgehen.“ Bestätigt sich der Verdacht, wäre das schlimm. Denn es würde bedeuten, dass die Kinder bisher falsch therapiert worden sind. Auch deshalb drängen Thomas Erler und Anne Schomöller zum Handeln. „Wir müssen herausfinden, was tatsächlich für RLS spricht und wie häufig es überhaupt vorhanden ist“, sind sie sich einig.
Fragebögen sollen weiterhelfen
Erler und Schomöller setzen ihre Hoffnungen auf zwei Fragebögen, die die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin vor Jahren entwickelt, aber nie eingesetzt hat. Sie wollen diese noch bis Mitte 2019 an Schulen in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und der Ukraine, wo Erler studiert hat, verteilen. Die Bögen richten sich zum einen an 6- bis 12-Jährige, zum anderen an 13- bis 18-Jährige. 2018 wurde ein Pretest durchgeführt, bei dem Antworten von elf an RLS erkrankten Schülerinnen und Schülern denen einer gesunden Kontrollgruppe gegenübergestellt wurden. Der Testbogen hat gezeigt, dass sich beide Versionen gut dafür eignen, um Aussagen über Symptomhäufigkeiten der Befragten zu erlangen.
Insgesamt bezieht die Studie 6.000 Kinder und Jugendliche ein. Erste Rückläufe von zwei Grundschulen im Spree-Neiße-Kreis liegen bereits vor. Ob unter den 50 ausgefüllten Formularen solche sind, die aus medizinischer Sicht weiter abgeklärt werden müssen, steht allerdings zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht fest.
Die Fragebögen sind altersgerecht gestaltet. Den für die Jüngeren sollen die Eltern ausfüllen, wenn sie mit ihren Töchtern oder Söhnen sprechen. 19 Fragen sind es im Ganzen. „Hast Du oft ein eigenartiges und wehtuendes Gefühl in Deinen Beinen, wenn Du sitzt oder liegst?“ oder „Kannst Du bitte zeigen, wo Du dieses eigenartige und wehtuende Gefühl genau hast?“ lauten zwei davon. Zeichnungen erleichtern den Teilnehmenden die Antworten.
Ziel der Fragebögen ist es nicht, Ferndiagnosen zu stellen. Vielmehr will das Team aus der großen Masse des gewählten Bevölkerungsausschnitts potenziell Betroffene herausfiltern. Also solche Personen, die ein deutliches RLS-Risiko besitzen. „Bei Zweifelsfällen“, erklärt Erler, „wollen wir zusätzliche Interviews führen, gezielt den medizinischen Hintergrund erfahren.“ Am Ende soll eine Gruppe mit Probanden entstehen, bei denen RLS sehr wahrscheinlich ist. Um das endgültig zu verifizieren, werden die Jungen und Mädchen noch ins Schlaflabor geschickt. „Wir wenden damit eine objektive Untersuchungsmethode an, mit der wir sicher feststellen können, ob der- oder diejenige betroffen ist oder nicht“, so Erler.
Das Schlaflabor soll letzte Gewissheit bringen
Während des Schlafs im Labor werden wichtige Parameter der Probanden kontinuierlich und simultan aufgezeichnet: Herzfrequenz, Atmung, Sauerstoffgehalt im Blut, Verhalten, Gehirnströme, Augenbewegungen. Jede Untersuchung dauert so lange, bis die Person von allein aufwacht. Es wird nichts künstlich evoziert, der Schlaf ist ein natürlicher. Die Daten tragen dazu bei, am Ende ein aussagekräftiges Gesamtbild zu erhalten – und Auffälligkeiten zu identifizieren. „Es ist beispielsweise möglich, dass RLS die Schlaftiefe oder die Bewegung der Beine krankhaft verändert“, sagt Erler. „Wenn wir das zusammen mit weiteren Anhaltspunkten im Labor sehen und dazu einen hoch auffälligen Fragebogen haben, können wir sicher die Diagnose stellen.“
Aber was passiert eigentlich im Körper betroffener Menschen? Schuld an den Beschwerden sind Botenstoffe, die die Nervenaktivität nur unzureichend regulieren. Dadurch kommt es zur Fehlfunktion des Muskelverhaltens, das von Nerven gesteuert wird. Damit verbunden sind Schmerzen, Kribbeln, Zuckungen, meist in den Beinen, seltener in den Armen.
Auch Kinder können erfolgreich therapiert werden
Ziel von Schomöller und Erler ist es, die Beschwerdebilder bei Verdachtsfällen genau zu analysieren, um am Ende aufgrund einer zweifelsfreien RLS-Diagnose die richtige Therapie einzuleiten. Besonders am Herzen liegt ihnen, bisher falsch diagnostizierte ADHS-Kinder und Jugendliche endlich wirksam behandeln zu können. Denn die Therapieansätze für die beiden neurologischen Erkrankungen unterscheiden sich grundsätzlich. Während ADHS-Betroffene im Alltag mehr zur Ruhe finden müssen, werden die durch einen gestörten Schlaf zermürbten Menschen mit RLS wieder für ihre Aufgaben in Schule, Beruf oder Familie fit gemacht. Mediziner nutzen dabei drei Behandlungsstufen: eine verstärkte Bewegungstherapie im Wachzustand, physiotherapeutische Massagen und letztlich eine medikamentöse Behandlung mit L-Dopa (Dopaminagonist), das den Regulationsmechanismus zwischen Muskulatur und Nervensystem beeinflusst.
Schomöller und Erler schätzen die Kooperation im Projekt. Klinische und wissenschaftliche Expertise kommen hier optimal zusammen, finden die beiden. Schomöller hat insbesondere die Organisation des Gesamtvorhabens und den Kontakt zu den Schulen übernommen, aber auch die statistische Auswertung der rücklaufenden Fragebögen. „Vielleicht bekommen wir 30 bis 35 Prozent der Bögen zurück“, hofft sie. „Das hängt davon ab, wie gut es uns gelingt, die Schulen von unserem Anliegen zu überzeugen.“ Das Thema RLS interessiert die junge Forscherin nicht nur rein wissenschaftlich, sondern auch ganz praktisch. Denn an der Hochschulambulanz der Universität Potsdam werden auch Einstellungsuntersuchungen für Potsdams Sportschule „Friedrich Ludwig Jahn“ durchgeführt. „Und hier ist das eine oder andere ADHS-Kind dabei“, sagt sie. „Es lohnt sich, mit dem Wissen von heute genauer hinzuschauen.“ Das sieht Thomas Erler genauso. Der Kliniker freut sich, mit der Universität und den anderen Beteiligten über Partner zu verfügen, die den Inhalt der Untersuchung exzellent abbilden, wie er betont. „In einer so großen Feldstudie benötigt man Spezialisten, die etwas von Medizin-Statistik verstehen. Das gibt es an der Universität Potsdam – und Wissenschaftler, die sich viel mit Bewegungsphysiologie beschäftigen. Eine perfekte Symbiose.“
Das Restless-Legs-Syndrom (RLS) verursacht eine quälende Unruhe in den Beinen, mitunter ein Kribbeln, Ziehen oder Stechen. Manchmal sind auch die Arme betroffen. Die Beschwerden treten fast immer in Ruhe auf, insbesondere nachts. Betroffene haben deshalb einen gestörten Schlaf. Wenn sie aufstehen und sich bewegen, lassen die Schmerzen meist nach. RLS ist bei Erwachsenen gut erforscht, bei Kindern jedoch kaum.
Das Projekt
Restless-Legs-Syndrom (RLS) – eine diagnostische und therapeutische Herausforderung im Kindesalter
Förderung: Eigenmittel und Deutsche Restless Legs Vereinigung
Laufzeit: 2017–2019
Beteiligt: Prof. Dr. Thomas Erler, Reena von Barby, Anne Schomöller, Anna Gychka, Prof. Dr. Frank Mayer
Die Wissenschaftler
Prof. Dr. Thomas Erler hat an der Staatlichen Medizinischen Universität Lviv (Ukraine) Humanmedizin studiert. Er promovierte 1988 an der Akademie für ärztliche Fortbildung in Berlin und habilitierte sich 2003 an der Charité Berlin. Thomas Erler ist Facharzt für Kinderheilkunde und seit 2015 Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Westbrandenburg. Seit 2014 ist er Honorarprofessor an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.
E-Mail: Thomas.Erleruklinikumwbpde
Anne Schomöller hat Sportwissenschaften (BA) und Clinical Exercise Science (M.Sc.) studiert. Gegenwärtig arbeitet sie an ihrer Promotionsschrift. Betreuer ist Prof. Dr. Frank Mayer, Ärztlicher Direktor der Hochschulambulanz der Universität Potsdam.
E-Mail: schomoeluuni-potsdampde
Text: Petra Görlich
Online gestellt: Sabine Schwarz
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde