Aus Anlass des 250. Geburtstags von Alexander von Humboldt richteten im Juni 2019 die Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, die Universität Potsdam und das von der DFG-geförderte Graduiertenkolleg StRATEGy das internationale Symposium „From von Humboldt into the Anthropocene“ in Halle an der Saale aus.
Das Symposium wurde mit einem Abendvortrag der Kulturhistorikerin und Humboldt-Biografin Andrea Wulf eingeleitet. Anschließend analysierten und diskutieren über 120 internationale Teilnehmende aus aller Welt über Humboldts Einfluss auf die moderne Erdsystemforschung. Bei den Diskussionen der Zuhörer und Redner wurde deutlich, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit an die Erd- und Umweltwissenschaften ohne interdisziplinäre Forschung, fachübergreifende Zusammenarbeit auf wissenschaftlicher Ebene und effiziente Kommunikation relevanten Wissens kaum gelöst werden können. Alexander von Humboldt war einer der ersten Wissenschaftler überhaupt, der diesen dreistufigen Ansatz konsequent verfolgte. Simon Schneider sprach mit Prof. Manfred Strecker, Mitglied der Leopoldina und des Wisssenschaftsrats, das Beratungsgremium der Bundesregierung und der Regierungen der Länder, über die zukünftige Entwicklung der Erdsystemforschung.
Herr Strecker, Sie haben gemeinsam mit Kollegen der Universität Potsdam und der GeoUnion das internationale Symposium „From von Humboldt into the Anthropocene“ organisiert. Welche Bedeutung hat Alexander von Humboldt, der ja vor über 200 Jahren vor allem durch seine Südamerika-Expedition berühmt wurde, für herausfordernde Themen einer zunehmend globalen Gesellschaft?
STRECKER: Nahezu alle Forschungsfelder der modernen Erd- und Umweltwissenschaften hat Alexander von Humboldt bereits bedacht und angesprochen. Von der Mineralogie, Geologie, Stratigraphie und Paläontologie zur Klimatologie, Biogeographie und bis hin zur Geobotanik und Ozeanographie. Obwohl von Humboldt schon sehr früh in disziplinären Fachzeitschriften publizierte, verstand er dennoch all diese Forschungsfelder als Teilbereiche einer gemeinsamen, ganzheitlichen erd- und umweltwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Deshalb beobachtete er auch den Einfluss des Menschen auf die Umwelt, auf klimatische Veränderungen sowie Erosionsprozesse und widmete sich dem Wissenstransfer und der Kommunikation relevanten Wissens. Humboldt ebnete den Weg zu einem integrativen Ansatz der Erforschung des Systems Erde, der heute mehr denn je notwendig ist, um die im Erdsystem aktiven Kräfte und Prozesse zu verstehen, zu charakterisieren und zu modellieren.
Wenn Sie von Interdisziplinarität sprechen, ist der Schritt zu Internationalität nicht weit. Die Erdsystemforschung ist hier in besonderem Maße aktiv – auch an der Universität Potsdam. Wie sehen Sie hier die zukünftigen Entwicklungen?
STRECKER: Wir sind aus dem Forschungsschwerpunkt „Earth and Environmental Systems“ heraus in aller Welt disziplinen- und institutionenübergreifend aktiv. Arbeitsgruppen in Südamerika, in Zentralasien und in Ostafrika – um nur einige wenige zu nennen – arbeiten vor Ort eng mit der lokalen Bevölkerung, den dortigen Hochschulen und Behörden zusammen. Vor dem Hintergrund des globalen Wandels und seiner Auswirkungen oder der Suche nach strategischen Rohstoffen der Zukunft ist es zunehmend wichtig, dass wir unseren Planeten als dynamisches System wechselseitiger Beeinflussungen von physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen sehen. Diese können wir aber nur unter Berücksichtigung verschiedener Zeit- und Raumskalen in ihrer Bedeutung richtig erfassen und für das Verständnis derzeitiger und zukünftiger Prozesse verwenden. Das erfordert eine neue Denkweise und einen Paradigmenwechsel, denn Veränderungen der Umwelt machen nicht an Landesgrenzen oder Jurisdiktionen halt, sie finden auf unterschiedlichen Zeitskalen statt und verlaufen mit sehr variablen Raten. Humboldt hat diese Probleme bereits Anfang bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts bei seinen Reisen in Südamerika und Zentralasien aufgezeigt. In diesem Sinne legen wir bei unseren international besetzten Graduiertenkollegs sehr großen Wert auf eine ganzheitliche und international eingebundene Ausrichtung der Forschung. Wir folgen damit dem Humboldtschen Ansatz von Interdisziplinarität und Internationalität. Humboldt war als generöser Förderer der Wissenschaft bekannt und unterstützte finanziell zahlreiche Nachwuchsforscher in ganz Europa. Damit legte er den Grundstein für Wissenschaftlerkarrieren, so zum Beispiel für den Schweizer Geoforscher Louis Agassiz, der nach seiner durch Humboldt geförderten Übersiedlung in die USA bahnbrechende Eiszeitstudien an der Harvard University durchführte.
Bleibt die Frage, welche Rolle internationale Kooperationen spielen. Vor dem Hintergrund, dass sich zunehmend die politischen Rahmenbedingungen auch für die Wissenschaft verändern – wird die Zusammenarbeit da nicht zunehmend schwieriger?
STRECKER: Sie haben recht, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einigen Teilen der Welt zunehmend politischem Druck ausgesetzt sehen. Wir haben zum Beispiel einen Wissenschaftler aus einem möglichen Beitrittsland der EU zum Symposium eingeladen, der derzeit wegen seiner sehr offenen und liberalen Einstellung von politischer Seite aus unter Druck steht. Dies gilt leider ebenso für viele andere Kollegen, zum Beispiel in Ungarn, China oder sogar den USA. Dabei stellen wir aber auch fest, dass wir Forschende weiterhin hervorragend zusammenarbeiten. Wir sehen aus unserer Perspektive heraus den Druck vor allem dann, wenn wir Kolleginnen und Kollegen zu Arbeitstreffen oder Tagungen einladen und diese aus politischen Gründen nicht nach Deutschland reisen können – wie einige Forschende aus dem Iran, mit denen wir an der Universität Potsdam sehr eng zusammenarbeiten. In meiner Funktion als Präsident der GeoUnion denke ich in diesem Zusammenhang darüber nach, wie wir als deutsche Geowissenschaftler auch politisch eine klare Stellung darzu einnehmen können.
Zurück zu Alexander von Humboldt: Er gilt als ein Naturforscher, der sich einen holistischen, also ganzheitlichen Eindruck von der Natur und Umwelt verschaffen wollte. In den letzten Jahrzehnten ist aber aufgefallen, dass sich die Wissenschaften immer weiter in kleine Spezialgebiete aufgespalten haben. Wenn Sie nun Interdisziplinarität fordern, was bedeutet das konkret für die Wissenschaft?
STRECKER: Die Teilnehmer des Symposiums unterstrichen, dass sich seit den integrativen Studien von Alexander von Humboldt in Europa, Südamerika und Zentralasien die Erd- und Umweltwissenschaften mit beeindruckendem Tempo weiterentwickelt haben. Sowohl auf technologischer Ebene als auch durch die zunehmende Spezialisierung entstand eine stark heterogene, in viele Fachdisziplinen unterteilte Wissenslandschaft. Im Zusammenhang mit wachsenden Umweltbelastungen, dem Klimawandel und einem zunehmenden Wettkampf um natürliche Ressourcen, verbunden mit einer wachsenden Anfälligkeit der Gesellschaft gegenüber natürlichen Extremereignissen, haben sich erd- und umweltwissenschaftliche Themen zu zentralen Aspekten öffentlicher Wahrnehmung entwickelt und finden sich oft in regionalen und nationalen Entwicklungskonzepten sowie prominent auf der internationalen politischen Agenda wieder. Die integrative Erdsystemforschung kann daher einen wichtigen Beitrag zum Diskurs über zukunftsorientierte Umweltstrategien und gesellschaftliche Entwicklungen leisten. Sie steht an der Spitze der Bemühungen, um mit den Herausforderungen der globalen Veränderungen in unserer natürlichen Umwelt auf einer globalen Skala Schritt zu halten. Dies gilt sowohl in Bezug auf unsere Anpassung an den Wandel wie in Bezug auf unseren Einfluss auf diesen Wandel. Alexander von Humboldt nahm viele dieser Dinge in seinen Werken vorweg. So ist Humboldt heute aktueller denn je und Inspiration für viele Forscherinnen und Forscher in ihrer wissenschaftlichen Arbeit.
Und welche Rahmenbedingungen könnten dies weiter unterstützen?
STRECKER: Wir sehen vor allem, dass die derzeitigen Strukturen der Forschungsförderung eine interdisziplinäre Forschung oft behindern. Forschungsanträge, die zwischen den Disziplinen angesiedelt sind, haben nicht selten Schwierigkeiten in der Begutachtung, da plötzlich inhaltliche und sprachliche Hürden auftreten. Sozialwissenschaftler nutzen andere Begrifflichkeiten und Argumentationsstrukturen in ihren Anträgen als Geoforscher – dies macht die Begutachtung schwierig. Zur Überwindung dieser Probleme könnten z.B. universitäre und außeruniversitäre Forschergruppen zu wichtigen Zukunftsthemen in virtuellen Kompetenzzentren gemeinsam forschen, publizieren und Wissen aufbereiten und weitergeben. Das Vorbild hierfür könnten die thematisch sehr breit gefächerten Gesundheitszentren z.B. zur Krebs- oder Diabetesforschung sein. Wir hoffen deshalb, dass die großen Förderorganisationen hier neue Strukturen schaffen werden, sich der Interdisziplinarität öffnen und in Zukunft flexibler als bisher mit neuen Projektideen aus dem Bereich der Erdwissenschaften umgehen.
Text: Dr. Simon Schneider
Online gestellt: Agnes Bressa
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