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Stress lass nach! – Eine psychologische Studie erforscht, wie Selbstmitgefühl und Achtsamkeit bei der Stressbewältigung helfen können

Die Wissenschaftlerinnen interessieren sich besonders für den Stress im Alltag. Foto: AdobeStock_141210590
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Die Wissenschaftlerinnen interessieren sich besonders für den Stress im Alltag. Foto: AdobeStock_141210590

Wieder nicht alles geschafft, was ich mir vorgenommen hatte. Anderen gelingt es, alles unter einen Hut zu bekommen, nur mir nicht. – Solche bedrückenden Gedanken kennen viele. Mit diesen besser umzugehen, dabei helfen Selbstmitgefühl und Achtsamkeit. Wissenschaftlerinnen der Universität Potsdam und der Universität Greifswald erforschen, welchen Einfluss sie – im Zusammenspiel mit anderen Faktoren – auf die Bewältigung von Stress haben können. In der Studie „MindOn“ berichten Teilnehmende eine Woche lang mithilfe einer App über ihr Stresserleben im Alltag. Carolin Krafzik hat einen Selbstversuch gewagt und sich mit Psychologin Christina Ewert getroffen, die die Studie in Potsdam betreut.

Angestrengt schaue ich auf den PC. Es fällt mir nicht leicht, mein Verhalten spontan einzuschätzen. Akzeptiere ich meine Fehler und Schwächen? Gehe ich freundlich mit mir um, wenn ich Kummer habe und Leid erfahre? Die Fragen lassen mich grübeln. Was bedeutet es eigentlich, freundlich mit sich umzugehen? Drei Plätze weiter arbeitet eine andere Probandin ebenfalls konzentriert die Fragen ab. Wir sitzen weit auseinander, damit wir nicht die Angaben der anderen sehen und vielleicht dazu verleitet werden, anders zu antworten, als wir es allein tun würden.

„MindOn“ ist ein Projekt der Psychologinnen Christina Ewert von der Universität Potsdam und Cosma Hoffmann, die an der Universität Greifswald forscht. Rund 200 Probandinnen und Probanden haben an beiden Standorten an der Studie teilgenommen. Während in Greifswald der Schwerpunkt auf der Achtsamkeit liegt, konzentriert sich Christina Ewert in Potsdam auf das Selbstmitgefühl. Aber was genau ist mit Achtsamkeit und Selbstmitgefühl gemeint? Erstere definiert die Psychologie meist als „die absichtsvolle Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt sowie einer akzeptierenden Haltung gegenüber den Empfindungen, die wir dabei haben“, erklärt Cosma Hoffmann. Achtsam zu sein, könne sich z.B. dadurch äußern, dass man bewusst wahrnimmt, wie etwas schmeckt, ohne sich etwa vom Smartphone ablenken zu lassen, oder in schwierigen Situationen nicht impulsiv zu reagieren, sondern innezuhalten und zu beobachten, was man gerade fühlt. Selbstmitgefühl dagegen heiße, „sich selbst speziell in leidvollen Momenten Mitgefühl entgegenzubringen“, betont Christina Ewert. „So wie man es anderen gegenüber, die Leid erfahren, auch tun würde.“ Dazu gehöre auch Achtsamkeit, Selbstfürsorge und das Bewusstsein, dass Leiden für jeden Menschen ein natürlicher Teil des Lebens ist. Darüber hinaus könne es sich auch in aktivem Handeln ausdrücken, indem man sich etwas Gutes tut, einen Tee kocht oder sich selbst liebevoll über den Kopf streicht und sich Zeit für sich nimmt.

Der Fragebogen, den ich am Computer ausfülle, sammelt Informationen zu meinen persönlichen Eigenschaften. Bin ich eher ein ängstlicher Typ? Gehe ich aus mir heraus? Erledige ich Aufgaben gründlich? Auch wie ich meine Umgebung wahrnehme, wird beleuchtet. Wie häufig achte ich auf Geräusche wie das Ticken von Uhren, Vogelgezwitscher oder vorbeifahrende Autos? Aus meiner Selbsteinschätzung können sich die Psychologinnen später ein Bild machen, wie mein Wesen meinen Umgang mit Stress beeinflusst. Nach dem ersten Fragebogen scanne ich mit meinem Handy einen QR-Code, der in einer App, die ich mir zuvor herunterladen sollte, eine weitere Befragung startet. Eine Woche lang summt nun dreimal am Tag mein Telefon und fordert mich dazu auf, mein aktuelles Stresserleben und meine Stimmungslage zu protokollieren. Die Alarme kommen jeden Tag zu anderen Zeiten, zwischen 10 Uhr morgens und 10 Uhr abends. Am Ende werden meine Angaben aus dem ersten Fragebogen mit denen zu meinem situativen Stresserleben aus der App verknüpft.

Grundlage von Christina Ewerts Arbeit ist das Stressmodell von Richard Lazarus und Kristin Neffs Theorie zu self-compassion, zu Deutsch „Selbstmitgefühl“. Danach hängt es von der individuellen Persönlichkeit ab, ob eine Situation als stressvoll empfunden wird oder nicht. Subjektiver Stress trete auf, wenn etwas als bedrohlich wahrgenommen werde und die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten als nicht ausreichend eingeschätzt würden. Hier kommen Selbstmitgefühl und Achtsamkeit ins Spiel. Cosma Hoffmann vermutet: „Je achtsamer eine Person ist, desto weniger bedrohlich nimmt sie eine stressige Situation wahr.“ Ewerts Hypothese zum Selbstmitgefühl ist ähnlich, bezieht aber zusätzlich verschiedene Persönlichkeitsfacetten mit ein: „Ist beispielsweise jemand, der eigentlich stark neurotisch ist, in einer leidvollen Situation selbstmitfühlender mit sich, kann er eine schmerzhafte Situation als weniger stressreich erleben.“
Die Wissenschaftlerinnen interessieren sich besonders für den Stress im Alltag: „Deshalb haben wir uns für eine App-Studie entschieden, weil wir hier Effekte beobachten können, wie unterschiedlich stark ausgeprägte selbstmitfühlende oder achtsame Zustände das aktuelle Stresserleben beeinflussen.“

Meine Teilnahme an der Studie fällt in eine für mich anstrengende Zeit, denn ich bin vor Kurzem umgezogen. Gerade stehe ich auf der Leiter und schraube an meinem neuen Schrank, da summt
weit unter mir das Smartphone. Genervt steige ich herunter und beantworte zum dritten Mal an diesem Tag und neunten Mal in dieser Woche den Fragebogen. Ich soll angeben, was ich in stressigen Situationen seit der letzten Befragung gedacht und wie ich gehandelt habe. Die App gibt mir Antworten vor, ich muss einschätzen, wie stark sie auf mich zutreffen: „Ich habe mich darauf konzentriert, etwas an meiner Situation zu ändern.“ Oder: „Ich habe mir eingeredet, dass das alles nicht wahr ist.“ Auch mein Gefühlszustand wird erfasst. War ich in den letzten Stunden freudig, bekümmert, nervös, entspannt?

Mit ihrer Studie wollen die Wissenschaftlerinnen auch untersuchen, ob Achtsamkeit und Selbstmitgefühl eigenständige Eigenschaften sind, die Stresswahrnehmung und -bewältigung beeinflussen, oder nur eine Zusammenstellung anderer bereits in der Psychologie etablierter Persönlichkeitsfacetten. Wenn ihre Ergebnisse Achtsamkeit und Selbstmitgefühl als unabhängige Facetten bestätigen, wollen Ewert und Hoffmann darauf hinwirken, dass sie als solche fest in der Stressforschung verankert werden. Bei „MindOn“ geht es also um eine vertiefende Grundlagenforschung. Diese könnte in der Praxis ein gezielteres therapeutisches Vorgehen ermöglichen. „Es ist wichtig, Selbstmitgefühl und Achtsamkeit in den therapeutischen Alltag zu integrieren. Unser Ziel ist es, besser zu verstehen, wie genau und bei wem Selbstmitgefühl und Achtsamkeit in der Stressregulation wirkt, um daraus effektivere therapeutische Interventionen für bestimmte Gruppen oder Erkrankungen zu entwickeln“, so Christina Ewert.

Die Befragung ist zu Ende. Zunächst bin ich froh, nicht mehr dreimal am Tag über mein Befinden Auskunft geben zu müssen. Aber mit der Zeit fehlen die kurzen Momente, in denen ich in mich hineinhorche. Die App hat mich dazu angehalten, regelmäßig meine Gefühle und mein Verhalten zu reflektieren. Ein kleiner therapeutischer Effekt, der mir gutgetan hat. Hin und wieder stelle ich mir nun immer noch die Fragen und überlege, wie es mir geht und wie ich mit stressigen Erlebnissen umgehe. Ich bin dankbar, etwas über Selbstmitgefühl und Achtsamkeit gelernt zu haben, und entschlossen, es in meinen Alltag mitzunehmen.

Die Wissenschaftlerinnen

Christina Ewert studierte Psychologie an der Universität Greifswald. Seit Mai 2017 ist sie Doktorandin am Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und Diagnostik. Die Studie „MindOn“ ist Teil ihrer Promotion an der Universität Potsdam und wird von Prof. Dr. Michela Schröder-Abé begleitet.
E-Mail: cewertuni-potsdamde

Cosma Hoffmann studierte Psychologie an der der Universität Greifswald. Dort ist sie seit Februar 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik.
E-Mail: cosma.hoffmannuni-greifswaldde

Das Projekt

„MindOn“
Förderung: Senatskommission für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs (FNK) an der Universität Potsdam und die Potsdam Graduate School
Laufzeit: seit 2017
Beteiligt: Christina Ewert (Universität Potsdam) und Cosma Hoffmann (Universität Greifswald)

Text: Caroli Krafzik
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde

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