Wenn uns kalt ist, bekommen wir eine Gänsehaut und ziehen uns warm an. Wenn es sehr heiß ist, fangen wir an zu schwitzen. Auch Pflanzen nehmen Temperatur wahr und reagieren darauf. Forscher rätseln, welche Mechanismen dahinterstecken und wie sich Pflanzen an Hitze oder Kälte anpassen. Diese Fragen beschäftigen auch Professor Philip Wigge, der kürzlich einen Ruf nach Potsdam erhielt.
Philip Wigge ist an diesem Tag nur für eine kurze Stippvisite in Deutschland. Nach einem Vortrag über die Temperaturempfindlichkeit von Pflanzen an der Freien Universität in Berlin wird er noch einige Behördengänge erledigen und dann zurück nach Großbritannien fliegen. Doch dieses Mal bleibt er nicht lange in seinem Heimatland. Denn der Biochemiker und Pflanzenforscher ist auf dem Sprung: In wenigen Wochen wechselt er sein Zuhause und verlagert seinen Lebensmittelpunkt von Cambridge nach Großbeeren und Potsdam. Fortan wird er an der Universität Potsdam als Professor für Plant Nutritional Genomics und am Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau (IGZ) in Großbeeren forschen. Wie fühlen und messen Pflanzen Temperatur und wie passen sie sich an den Klimawandel an? Das ist die große Frage, der sich Wigge widmen wird.
Mit dem Klimawandel sinken die Erträge
„Aus der Landwirtschaft wissen wir seit Jahrhunderten, dass Pflanzen hochsensibel auf die Temperatur reagieren“, erklärt der Forscher. Ein Farmer weiß genau, dass sein Weizen eine bestimmte Anzahl an warmen Tagen benötigt, um zu blühen und zu reifen. Doch warum das so ist, können die Forscher bis heute nicht sagen. Sie kennen nicht die Sensoren, mit der eine Pflanze die Temperatur misst, und wissen nicht, welche Reaktionen die Messwerte im pflanzlichen Organismus auslösen. „Es gibt viele Stoffwechselwege in der Pflanze, bei denen die zugrundeliegenden molekularen Mechanismen noch unbekannt sind“, sagt Wigge.
Seit Jahren ist der Wissenschaftler diesen Mechanismen auf der Spur. Seine Arbeit ist von drängender Aktualität, denn mit dem Klimawandel wird deutlich, wie weitreichend die Temperatur die Vegetation beeinflusst. Um etwa ein Grad Celsius hat sich die Erdatmosphäre in den vergangenen Jahren erwärmt. „Am Ende des Jahrhunderts wird die Temperatur wahrscheinlich um etwa vier Grad Celsius angestiegen sein“, prognostiziert Wigge.
Die Folgen dieser Erwärmung sind schon jetzt deutlich sichtbar: Viele Pflanzen beginnen eher zu knospen und zu blühen, wachsen auf neuen Standorten, die bisher zu kühl waren, oder werden in ihren angestammten Lebensräumen von anderen Arten verdrängt. „Die Veränderungen sind dramatisch“, betont Wigge. Und zwar nicht nur für Wildpflanzen, sondern auch für die Landwirtschaft.
Mit jedem Grad mehr sinken die weltweiten Erträge um etwa zehn Prozent, schätzen Agrarforscher. Ob Reis, Weizen oder Mais – dort, wo die Kornkammern dieser Erde liegen, wachsen diese und andere Nutzpflanzen bereits heute an ihrem Temperaturlimit. Zudem nimmt die Gefahr zu, dass sich Pflanzen und ihre Bestäuber desynchronisieren. Blühen die Pflanzen wegen steigender Temperaturen zu früh, sind die sie bestäubenden Insekten noch in der Winterruhe. Frühblühende Pflanzen bilden dann weniger Früchte und Samen aus. Für Philip Wigge sind dies alles gute Gründe, um die Forschungen auf diesem Gebiet voranzutreiben und aufzudecken, was auf der molekularen Ebene geschieht.
Neue Gentechnik bringt neue Züchtungsmethoden
Nicht zuletzt ist das Ziel der Forschungen, neue Nutzpflanzen zu züchten, die besser an höhere Temperaturen angepasst sind. Dabei setzt Wigge vor allem auf Züchtungsmethoden der neuen Gentechnik, wie etwa CRISPR. Mit dieser sogenannten Genschere kann das pflanzliche Erbgut sehr gezielt und präzise verändert werden. „Die klassische Züchtung allein ist sehr zeitaufwendig und folgt dem Konzept von Versuch und Irrtum“, erklärt der Biowissenschaftler. „Wenn wir Precision Farming, Molekularbiologie und Gen-Bearbeitung mit den eher konventionellen Züchtungsmethoden verbinden können, haben wir großartige Möglichkeiten. Im Angesicht des Klimawandels ist das besonders wichtig, denn in den kommenden Jahrzehnten werden wir weitere Temperaturanstiege und extreme Hitzeereignisse erleben.“
Gerade ist Philip Wigge dabei, seinen zukünftigen Arbeitsplatz im IGZ in Großbeeren auszustatten. „Die Pflanzenwissenschaften entwickeln sich weg von einer beschreibenden hin zu einer eher vorhersagenden Wissenschaft“, erklärt Wigge. Mit dem Next-Generation Sequencing können die Forscher zügig das gesamte Erbgut einer Pflanze analysieren und zudem untersuchen, wie die einzelnen Gene reguliert werden. Das erlaubt Vorhersagen darüber, wie die Pflanzen auf molekularer Ebene auf bestimmte Reize antworten – zum Beispiel auf Temperatur. Außerdem verknüpfen die Wissenschaftler die Methoden der Molekularbiologie und Genetik mit der Bioinformatik. So lassen sich Unmengen von Daten analysieren und Vorhersagemodelle erstellen.
Viele Forscher, ein Ziel
Im Moment suchen Wigge und sein Team buchstäblich nach der Nadel im Heuhaufen: Rund 30.000 Proteine kommen in einer Pflanzenzelle vor. Die Forscher vermuten, dass einige davon eine Rolle in der Temperaturwahrnehmung spielen. Dabei haben sie eine spezielle Proteinklasse im Verdacht: „Es gibt Proteine, die eine Phasenumwandlung durchlaufen, die also nach einem bestimmtem Stimulus von einem inaktiven in einen aktiven Zustand wechseln“, erklärt Wigge. Nun wollen die Wissenschaftler genau jene Proteine in der Pflanzenzelle identifizieren, bei denen die Temperatur der Trigger für diese Phasenumwandlung ist. Außerdem interessieren sich die Forscher dafür, wie sich DNA und Proteine gegenseitig regulieren.
Für diese Art der Forschung benötigt man ein interdisziplinäres Team: Pflanzenphysiologen, Genetiker, Biophysiker, Biochemiker und Bioinformatiker werden sich gemeinsam der Aufgabe widmen. Viele der Forscher haben nie zuvor mit Pflanzen gearbeitet. Für den Teamleiter ist diese Mischung eine große Chance, aber auch eine Herausforderung. „Alle diese Menschen müssen miteinander arbeiten, einander verstehen und ein gemeinsames Ziel haben.“ Und noch etwas hält er bei seinen Mitarbeitern für unverzichtbar: „Die wichtigste Eigenschaft eines Forschers ist Neugier.“
Bei Wigge ist es vor allem die Neugier, Pflanzen als Lebewesen zu begreifen, die aktiv auf ihre Umwelt reagieren und keinesfalls nur „passiv irgendwo rumstehen und darauf warten, dass es warm wird“. Pflanzen seien in der Lage, ihre Umgebung äußerst genau zu erfassen und sich daran sehr kontrolliert anzupassen. Was den Wissenschaftler darüber hinaus an seinem Forschungsobjekt fasziniert, ist, dass sich „viele unserer Feste und Feiertage am Lebenszyklus der Pflanzen orientieren“. Denn unsere gesamte gesellschaftliche Entwicklung beruht auf ihrer Kultivierung. Nur weil ein kleiner Teil der Menschheit in der Lage war, genug Nahrung für alle anzubauen, konnten sich andere der Kunst, der Medizin oder der Wissenschaft zuwenden.“
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Philip A. Wigge studierte Biochemie an der University of Oxford (GB) und promovierte in Cambridge. Seit 2019 ist er vom Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau und der Universität Potsdam gemeinsam berufener Professor für Plant Nutritional Genomics.
E-Mail: wiggeuigzevpde
Text: Heike Kampe
Online gestellt: Alina Grünky
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