Der Ruf eines Kranichs schallt über ein weites, grünes Feld. Kaninchen sind in der Ferne zu erkennen. Ein Pfauenauge flattert unterm wolkenlosen Himmel. Im Brandenburgischen Bornim ist es ausgesprochen idyllisch. „Wir machen hier Freilandbiologie“, sagen Jana Eccard und Melanie Dammhahn. Die Verhaltensökologinnen führen ihre Versuche in einem eingezäunten Bereich mitten auf dem Feld unter den natürlichen Bedingungen durch, in denen Wühlmäuse leben. Vom Greifvogel als natürlichem Feind bis zur Nahrung aus Gräsern, Samen und Insekten. Drei Hektar Land hat die Universität Potsdam in Bornim gepachtet. Regelmäßig beobachten die Forscherinnen hier das Verhalten von einheimischen, wildlebenden Wühlmausarten, wie der Rötel- oder der Feldmaus.
Die Biologie interessiert sich erst seit Kurzem für die Individualität von Tieren
Für Jana Eccard steht fest: „Auch zwischen Artgenossen gibt es große Unterschiede im Verhalten.“ Dabei lassen sich verschiedene, wiederkehrende Verhaltensmuster ausmachen: ein Ergebnis der Evolution. Die Persönlichkeitstypen sind über Generationen als Anpassung an unterschiedliche Umweltbedingungen entstanden und auch genetisch verankert. Dennoch hat die Biologie Verhaltensunterschiede innerhalb einer Art lange vernachlässigt. Temperament galt bis vor Kurzem als eine rein menschliche Kategorie. „Jahrzehntelang haben Biologen die Variabilität im Verhalten von Tieren statistisch herausgerechnet. Sie waren an Mittelwerten interessiert und nicht an den Differenzen innerhalb einer Art“, erklärt Eccard. „Irgendwann haben sie aber akzeptiert, dass Tiere verschieden sind.“ Die Professorin vermutet, dass bald sogar Pflanzen in ihrer Individualität untersucht werden könnten.
Um herauszufinden, wie verschiedene Verhaltenstypen mit Umwelteinflüssen umgehen, stellen die Biologinnen auf dem Bornimer Feld künstliche Populationen aus gegensätzlichen Persönlichkeitstypen zusammen: aus aktiven und zurückhaltenden Mäusen, ängstlichen und kühnen, aggressiven und friedlichen, explorativen und weniger neugierigen Individuen sowie aus Tieren, die die Nähe ihrer Artgenossen suchen und solchen, die sie eher vermeiden. „Diese Verhaltensmerkmale sind an das Konzept von fünf Persönlichkeitseigenschaften in der Psychologie angelehnt“, erklärt die Professorin. Für jede Tierart gebe es wiederum eigene Taxonomien von Persönlichkeitsmerkmalen, etwa je nachdem, ob die Tiere im Sozialverband oder in Einzelterritorien leben.
Ablesen lassen sich die Persönlichkeitsmerkmale insbesondere an der Raumnutzung. „Wie sich ein Tier in einem ihm unbekannten Raum bewegt, sagt etwas über seine Persönlichkeit aus“, erklärt Dammhahn. Daher ist jede Maus auf dem Feld mit einem Sender ausgestattet. Mit einer automatisierten Telemetrie-Anlage können die Forscherinnen die Aktivität einer Wühlmaus erfassen: Interagiert sie viel mit anderen Mäusen? Macht sie kleine Schritte oder große Sprünge? Bewegt sie sich in einem großen Areal oder auf einer kleinen Fläche? Erkundet sie gerne neue Räume oder bleibt sie am liebsten in einem vertrauten Bereich? Aus solchen Informationen leiten die Biologinnen gemeinsam mit Nachwuchswissenschaftlern des Graduiertenkollegs „BioMove“ Erkenntnisse über das individuelle Tierverhalten ab. „Die mutigen Mäuse haben größere Streifgebiete und dadurch auch einen besseren Zugang zu Nahrung“, so Dammhahn. „Dafür sind sie weniger gründlich, sie verweilen nicht an einem Ort und lassen sich wiederum Chancen auf Futter entgehen.“
Schüchterne Mäuse lernen langsamer als mutige, sind aber flexibler
Ähnliche Ergebnisse zeigen auch die Verhaltensuntersuchungen in den „Mäuseräumen“ in der Bornimer Außenstelle der Tierökologie. Zunächst ist in den rund fünfzig Käfigen mit viel Streu, Heu, Futter und Trinkflaschen keine Maus zu entdecken: Die Tiere verstecken sich vor potenziellen Fressfeinden. Wie schnell sie sich an Menschen gewöhnen, hängt auch vom individuellen Verhaltenstyp ab. „Aus einer Studie von Fachkollegen wissen wir bereits, dass sich mutige Individuen leichter domestizieren lassen, weil sie weniger Stress im Umgang mit dem Menschen haben“, sagt Eccard. „Mutige Mäuse lernen schneller.“
Ob eine Maus eher mutig oder eher schüchtern ist, finden die Expertinnen für experimentelle Tierökologie zum Beispiel mit dem Open Field-Test heraus. Wagt sich die Maus in einem eingezäunten Bereich in die offene Mitte des Feldes oder schlängelt sie sich dicht am Rand entlang? Oder die Forscherinnen setzen den Nager in eine dunkle Röhre und messen die Zeit, bis er sich hinaus traut. Bei einem anderen Persönlichkeitstest müssen die Rötelmäuse den Ausweg eines Labyrinths erlernen. Zwei verschiedene Fruchtdüfte weisen auf den Ausgang oder eine Sackgasse. Sobald die Assoziation Duft-Ausgang gelernt ist, sollen die Tiere umlernen. Nun führt der jeweils andere Duft zum Ausgang oder in die Sackgasse. Was passiert?
Aktivere Nager lernen das Benutzen des ersten Dufts als Wegweiser sehr schnell, halten dann aber an dem einmal Gelernten fest und laufen immer wieder in die Sackgasse. Vorsichtige und weniger aktive Tiere brauchen viel länger, bis sie den Duft als Wegweiser nutzen. Danach können sie aber sehr schnell auf einen anderen Duft umlernen. „Unsere Studie zeigt, dass sich kühne Individuen in neuen Situationen gerne schnell, aber oft falsch entscheiden, während Vorsichtige länger überlegen, Erlerntes langfristig aber flexibler einsetzen können“, sagt Eccard. Auch das Geschlecht der Tiere spielt bei den Versuchen eine Rolle: Weibchen können besser umlernen als Männchen.
Der menschliche Faktor prägt die Tierpersönlichkeit
Das individuelle Verhalten der Tiere ist auch von Menschen beeinflusst. Eine Landschaft, die durch Menschen geformt ist, verändert die Tierpersönlichkeit: Manche Verhaltenstypen kommen dort besser zurecht als andere. „Das gilt etwa für Dachse, deren Puls in die Höhe geht, wenn sie menschliche Stimmen hören“, erklärt Dammhahn. Aber auch das Verhalten anderer Tiere ist direkt durch den Menschen geprägt. In Bornim erforscht derzeit eine Doktorandin mit einem Stipendium der Deutschen Bundesstiftung Umwelt den Einfluss von Licht auf das Tierverhalten. „In Europa werden gegenwärtig alle Straßenlaternen durch LED-Leuchten ausgetauscht“, erklärt die Professorin. „Wir wissen bereits, dass dieses bläuliche Licht den menschlichen Schlafrhythmus verändert.“
Ob dies auch bei den einheimischen Wühlmäusen der Fall ist, will die Doktorandin experimentell herausfinden. „Wir haben kleine LED-Lampen auf eine von Wühlmäusen bewohnte Fläche gestellt“, erklärt Eccard. „Während die Tiere normalerweise den gleichen Biorhythmus haben, gab es nun keine synchronen Ruhephasen mehr.“ Das kann Folgen haben: Denn die Wühlmäuse einer Population gehen für gewöhnlich auch gleichzeitig auf Nahrungssuche. Wagen sie sich einzeln aus dem Bau, steigt für jede Maus das Risiko, etwa von einer Eule erbeutet zu werden. Gemeinsame Aktivitäts- und Ruhephasen sind überlebenswichtig. Ähnlich dramatisch sind die Auswirkungen von künstlichem Licht auf Insekten. „Tummeln sich alle Käfer um eine Straßenlaterne, werden sie wiederum zur leichten Beute von Fressfeinden wie Kröten oder Wieseln.“
Nicht nur für Mäuse, auch für Insekten lassen sich übrigens Verhaltenstypen feststellen. Das Verhalten von Feuerwanzen haben ungarische Wissenschaftler mit einem ähnlichen Versuchsaufbau getestet, wie die Potsdamer Forscherinnen für Kleinsäuger. Setzt man sie in eine dunkle Röhre, läuft nicht jede Wanze sofort los, um die Umgebung zu erkunden. Die eine braucht mehr Zeit, die andere weniger – je nach genetischer Anlage und den Erfahrungen, die eine Wanze in ihrem Leben gemacht hat. Wichtig ist für Verhaltensforscher die Konstanz im Tierverhalten: Sie testen das Individuum wiederholt über einen längeren Zeitraum, um herauszufinden, ob es ein Verhaltensmerkmal beibehält. Und das ist in den allermeisten Fällen tatsächlich so. „Eine schüchterne Feuerwanzen-Larve ist auch als ausgewachsene Wanze noch vorsichtig“, sagt Eccard.
Mutige Rötelmäuse haben mehr Nachkommen als schüchterne Artgenossen
Und was unterscheidet nun die Stadtmaus von der Landmaus? Das untersuchen die Biologinnen mitten in Berlin: direkt an der Avus, unter einer Autobahnbrücke nahe des Messegeländes. Auch hier haben die Forscherinnen einen Open Field-Test durchgeführt und auch hier spielen Feldmäuse die Hauptrolle. Die gibt es nämlich genauso in der Großstadt. „Die Artenvielfalt ist in Berlin sogar größer als in Brandenburg“, erklärt Dammhahn. Denn die landwirtschaftliche Nutzung bringt einseitige Lebensräume hervor und der Einsatz von Pestiziden minimiert die Nahrungsressourcen vieler Kleinsäuger. Die Hauptstadt mit Kleingärten, Dachbegrünung, Parks, Tümpeln und Wäldern bietet dagegen vielfältigste Biotope.
Andersherum setzt die menschliche Allgegenwärtigkeit in der Großstadt die Tiere permanent unter Stress. Der wirkt sich wiederum auf ihre Persönlichkeit aus. So lassen die bisherigen Ergebnisse aus dem Open Field-Versuch in Berlin die alte Fabel von Land- und Stadtmaus in einem neuen Licht erscheinen: „Die Berliner Wühlmäuse scheinen tatsächlich mutiger zu sein als ihre Artgenossen in der Uckermark“, sagt Dammhahn. Besonders interessant: Eine kühne männliche Rötelmaus hat mehr Nachkommen als ihr ängstlicher Artgenosse – zumindest in den Sommermonaten. „Es könnte allerdings sein, dass im Frühjahr oder Herbst die vorsichtigen Tiere erfolgreicher sind. Das werden wir noch prüfen.“ Fest steht aber auch, dass mutige Mäuse früher sterben, sie leben gefährlicher. Und wer ist nun im Vorteil – die schüchterne oder die mutige Maus? „Beide Verhaltenstypen haben mal Vorteile und mal Nachteile“, sagt Eccard. „Sonst würde es sie nicht geben.“
Die Wissenschaftlerinnen
Prof. Dr. Jana Anja Eccard studierte Biologie und Soziologie. Seit 2008 ist sie Professorin für Tierökologie und Humanbiologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: eccarduuni-potsdampde
Dr. Melanie Dammhahn studierte Biologie. Derzeit ist sie Vertretungsprofessorin für Tierökologie an der Universität Greifswald und Gastwissenschaftlerin an der Universität Potsdam.
E-Mail: mdammhahuuni-potsdampde
Das Graduiertenkolleg BioMove untersucht, welche Auswirkungen die Bewegungen einzelner Organismen auf die Artenvielfalt in dynamischen Agrarlandschaften haben können. BioMove ist ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Potsdam, der Freien Universität Berlin, des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung und des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung. Es wird seit 2015 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.