Für die einen ist Fußball ein langweiliger Sport, weil nicht viel passiert. Andere sind mit „ihrer“ Mannschaft jedes Wochenende unterwegs. Ulrich Kortenkamp ist Fußballfan und Professor für Didaktik der Mathematik. Er kann beweisen, dass Fußball und Mathematik sehr gut zusammenpassen. Der Wissenschaftler nutzt den Sport, um Lehrenden wie Lernenden die Wahrscheinlichkeitsrechnung näherzubringen.
Wenn eine Mannschaft wie Bayern München einsam ihre Kreise zieht, wird die Bundesliga mitunter etwas langweilig. Doch Fußball ist nicht zuletzt deshalb ein beliebter Sport, weil immer wieder Unvorhergesehenes geschieht. „Das Spannende am Sport ist, dass man nicht weiß, was passiert, sofern nicht gefakt wurde“, sagt Ulrich Kortenkamp. Mathematisch gesehen sind die Ergebnisse von Fußballspielen schlicht Zufallsereignisse mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten. Aber Fußball ist zugleich ein ungerechter Sport, weil auch Spieler vermeintlich chancenloser Mannschaften Tore schießen und ihr Team zum Sieg führen können, obwohl fast niemand damit rechnet.
Spannung kommt immer dann auf, wenn Spielvorhersagen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Das nutzt Ulrich Kortenkamp in der Schule. „Oft sind Mathematikaufgaben mit langweiligen Fragestellungen verbunden.“ So sollen Schülerinnen und Schüler beispielsweise ausrechnen, wie viel Wasser in einen bestimmten Raum passt. „Das interessiert sie nicht wirklich. Es gibt keinen Grund, das wissen zu wollen“, ist sich der Didaktiker sicher. Das Volumen des Raumes und damit die gefragte Wassermenge zu errechnen, ist nicht besonders schwierig. Spannend wird es, wenn vor der Rechnung geschätzt werden soll. Um die Schätzergebnisse an der Realität zu prüfen, ist Mathematik nötig. Sie zeigt, wer richtige oder falsche Voraussagen getroffen hat.
Spiele werden millionenfach simuliert
Auch beim Fußball ist das Ergebnis zunächst unbekannt. Fans diskutieren vor dem Spiel darüber, wie ein Match ausgehen könnte, spekulieren, welche Mannschaft auf welchem Platz der Tabelle landet. Ulrich Kortenkamp ist davon überzeugt, dass sich an diesem Beispiel gut Mathematik lernen lässt. Ob ein Spieler das Tor trifft oder nicht, wenn er hier- oder dorthin tritt, ist ohne größeren Aufwand nicht errechenbar. Aber die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Spielergebnis lässt sich mit relativ einfachen Mitteln der Stochastik sehr wohl bestimmen. „Man kann nicht sagen, ob die Wahrscheinlichkeit richtig oder falsch ist, es sei denn, klare theoretische Gründe liegen vor.“ Würfeln mit einem „perfekten“ Würfel heißt, die Wahrscheinlichkeit dafür, eine bestimmte Zahl zu erlangen, ist ein Sechstel. Fehlen derartige theoretische Überlegungen, bleibt nur häufiges praktisches Ausprobieren. Auf den Fußball übertragen, bedeutet das: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Dortmund gegen Bayern München gewinnt, lässt sich mithilfe von Simulationen ausrechnen. Die Mannschaften spielen dabei theoretisch eine Million Mal unter gleichen Voraussetzungen gegeneinander.
Um Wahrscheinlichkeiten vorherzusagen, entwickeln die Mathematiker Modelle. Will man beispielsweise wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, beim Elfmeterschießen das Tor zu treffen, verwenden sie vergleichbare Daten, die im Fußball ständig erhoben werden: die Zahl der in Deutschland geschossenen Elfmeter oder der erfolgreichen Torschüsse. Daraus ergibt sich ein Maß für die Wahrscheinlichkeit. Es geht aber auch ganz praktisch. Man kann Schüler Elfmeter schießen, Tore sowie Fehlschüsse zählen lassen und daraus Modelle entwickeln. Im Prinzip gibt es fünf Möglichkeiten, den Ball aufs Tor zu schießen: Mitte, links unten, links oben, rechts unten, recht oben. Der Torwart hat im Normalfall nur dann eine Chance, den Ball zu halten, wenn er sich vorher überlegt, wohin er springt.
Und der Spieler muss vor dem Schuss entscheiden, wohin er schießt. Unter der Voraussetzung, dass jede der fünf Möglichkeiten gleich wahrscheinlich ist, beträgt die Erfolgswahrscheinlichkeit des Schusses 80 Prozent. „Da die meisten Elfmeterschüsse im Tor landen, ist diese Voraussage ziemlich realistisch“, sagt Ulrich Kortenkamp. Die Qualität der Voraussagen steigt mit der Zahl der Informationen, die vorab zur Verfügung stehen – wenn etwa beim Elfmeter der Torwart weiß, dass ein Spieler immer die gleiche Ecke nimmt.
Vom Tor bis zum Spielerwert fließt alles in die Modelle ein
Um ein Modell für eine Spielvorhersage zu entwickeln, „gucken wir uns einzelne Angriffe an und gehen davon aus, dass jede Mannschaft pro Spiel neun Torchancen hat“, so der Wissenschaftler. Diese Annahme kann natürlich völlig realitätsfern sein. Gewinnt beispielsweise eine Mannschaft 12:1, hat sie ganz sicher öfter als neunmal angegriffen. Andererseits ist es durchaus möglich, dass ein Team nie angreift. „Diese einfachen Annahmen gestatten es aber zuzuordnen, wie wahrscheinlich es ist, dass die Mannschaft bei einem ihrer Angriffe ein Tor schießt.“
Am Ende jeder Bundesligaspielzeit steht viel Datenmaterial zur Verfügung, das mathematisch gut genutzt werden kann. Aus der Anzahl der in der Saison geschossenen Tore aller Mannschaften ergibt sich etwa die durchschnittliche Zahl der Tore pro Spiel. Daneben können weitere Parameter aufgenommen werden, wie etwa die höhere Gewichtung der Rückrunde, weil damit die aktuelle Leistungsstärke der Mannschaften dokumentiert wird. Auch der Marktwert der Mannschaft beziehungsweise der Spieler ist bedeutsam. Daraus lässt sich eine Aussage dazu ableiten, wie wahrscheinlich es ist, dass diese oder jene Mannschaft gewinnt, verliert oder unentschieden spielt. So kann man mithilfe von Computersimulationen vergleichsweise einfach Spielvorhersagen treffen. Die Programme dafür schreiben Ulrich Kortenkamp und seine Mitarbeiter selbst und nutzen sie auch in der Schule.
„Wenn wir 1.000 Jahre lang die gleiche Bundesligasaison durchspielten, würde bei einem Spiel vielleicht Hoffenheim Meister", erläutert Ulrich Kortenkamp. „Das heißt nicht, dass es nicht passieren kann. Wenn es passiert, heißt es nicht, dass wir falsch vorhergesagt haben. Wir können nur sagen, in unserem Modell ist alles korrekt.“ Ob das Modell Realität wird, steht natürlich in den Sternen – und macht auch nicht das Wesen der Wahrscheinlichkeitsrechnung aus. Denn alles ist möglich!
Mathematik und Fußball
5 FRAGEN AN PROF. ULRICH KORTENKAMP
Sind Sie selbst Fußballfan?
Ja, ich bin, wie sich für einen gebürtigen Kölner gehört, Fan des 1. FC Köln – e Levve lang!
Wie kamen Sie dazu, sich als Mathematiker mit Fußball zu beschäftigen?
Das ist nicht sonderlich originell – immer dann, wenn es um Wahrscheinlichkeiten oder Entscheidungen geht, ist man als Mathematiker gefragt. Ganz besonders interessant wurde es, als die Frage „Tor oder kein Tor?“ im Pokalfinale Bayern–Dortmund 2014 diskutiert wurde, was sehr schön anschaulich mit projektiver Geometrie beantwortet werden kann (und die Antwort hätte „Tor“ heißen müssen, was letztendlich zur Einführung der Torlinientechnik führte).
Berechnen Sie immer wieder die laufende Saison der Bundesliga?
Immer dann, wenn der HSV abstiegsgefährdet ist, bekommen mein Kollege Matthias Ludwig (Uni Frankfurt) und ich die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Abstiegs gestellt – also: ja, wir berechnen immer wieder. Die neuesten Hochrechnungen gibt es dann immer auf Twitter (@ukor).
Sie zeigen, dass Fußballergebnisse relativ berechenbar sind. Beeinträchtigt das Ihre Begeisterung für den Sport?
Nein, denn Wahrscheinlichkeiten machen das Spiel interessant: Selbst wenn eine Mannschaft ganz sicher (sagen wir mal, zu 90%) gewinnt, heißt das gerade nicht, dass man das Ergebnis schon kennt. Und entweder freut man sich auf ein schönes Spiel oder man hofft auf das kleine Wunder. Der miserabel ausgeführte Videobeweis im Fußball ist da eine viel größere Beeinträchtigung!
Sie sagen, Fußball und Mathematik zu verbinden, lasse sich gut für die Schule nutzen. Wie? Haben Sie es schon ausprobiert? Mit welchem Erfolg?
Das wird sehr schön im Buch „Mathematik + Sport“ von Matthias Ludwig beschrieben. Auch im Schulpraktikum benutzen wir immer wieder Fragestellungen aus dem Sport. Gerade in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, weil es die Schülerinnen und Schüler anspricht, tatsächlich relevant für das Leben ist (übertragen auf andere Situationen) und auch den Lehrenden Spaß macht.
DER WISSENSCHAFTLER
Prof. Dr. Ulrich Kortenkamp studierte Mathematik und Informatik an der Universität Münster. Seit 2014 ist er Professor für Didaktik der Mathematik an der Universität Potsdam.
ulrich.kortenkampuuni-potsdampde
Text: Dr. Barbara Eckardt
Online gestellt: Alina Grünky
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