Zum Hauptinhalt springen

Kostbares Gut – An der Universität Potsdam werden ausgefüllten Fragebögen des Brandenburg-Berlinischen Spracharchivs digitalisiert und so für kommende Generationen erhalten

„De Farrer woảnt dicht bid Kirch“, schreibt Lehrer Herbert Stertz in den Fragebogen, der vor ihm liegt. Sein Gegenüber, die Witwe Anna Wiggert, hat ihm gerade den Satz „Der Pfarrer wohnt bei der Kirche“ in die Mundart ihres Ortes übersetzt. Der Pädagoge ist Teil einer ungewöhnlichen Initiative. Das Papier auf dem Tisch gehört zu einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung, die die Basis für das entstehende Brandenburg-Berlinische Wörterbuch bilden soll. Auf der ersten Seite vermerkt er das Datum und den Ort des Gesprächs: Havelberg, 28. Juli1950. In vielen weiteren Städten und Gemeinden Brandenburgs und Berlins spielen sich zu jener Zeit vergleichbare Szenen ab. Insgesamt werden im Laufe der Umfrage, die in den 1950er-Jahren stattfindet, viele Tausend solcher Zettel ausgefüllt. Heute bilden sie gemeinsam mit weiteren Dokumenten einen wertvollen Schatz: das Brandenburg-Berlinische Spracharchiv. Prof. Dr. Joachim Gessinger, ehemals Inhaber des Lehrstuhls Geschichte der Deutschen Sprache, hat es 2002 von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erworben. In einem Pilotprojekt wurden 2016 unter Leitung von Ulrike Demske, Professorin für Geschichte und Variation der Sprache, die ersten 2.000 Fragebögen digitalisiert. Die Arbeitsgruppe will jetzt weitere Drittmittel einwerben, um auch die restlichen einzuscannen. Ziel ist es, das kostbare Kulturgut zu retten – und es für Wissenschaftler sowie interessierte Laien zeitgemäß zugänglich zu machen.


„Man jēt prōsnóìjā zāgan“, antwortet der Berliner Kurt Ossowski 1959 auf die im Fragebogen gestellte Frage nach den besonderen Bräuchen am 1. Januar. Gewissenhaft und vor allem für die Nachwelt gut lesbar füllt er Spalte für Spalte auf dem Blatt aus. Die Termini für Fische fallen auf: „Kāpfm“ für den „Karpfen“ oder „Štếkolingk“ für den „Stechling“ hat er eingetragen. Das und vieles andere mehr entdeckt der Internetnutzer, wenn er die interaktive Karte anklickt, die Ulrike Demskes Arbeitsgruppe erstellt hat. Interessierte können hier Orte auswählen, die in die Umfragen für das Brandenburg-Berlinische Wörterbuch einbezogen waren. 2.000 der insgesamt über 33.000 Fragebögen aus den Jahren 1950 bis 1959 sind derzeit verfügbar und erlauben einen tiefen Einblick in die gesprochene Sprache jener Zeit. Sie dokumentieren dabei nicht nur lexikalische, sondern auch syntaktische Besonderheiten der brandenburgischen Dialekte, deren festes Fundament das Niederdeutsche ist. Das Material stellt die wohl wichtigste Quelle des Wörterbuchs dar – neben Tonbandaufnahmen aus rund 100 Orten und einem umfangreichen Zettelarchiv. Die Bögen waren ab 1950 von der Sprachwissenschaftlerin Anneliese Bretschneider, die eine entsprechende Arbeitsstelle an der Landeshochschule Potsdam leitete, und ihren Mitarbeitern an über 2.000 Schulstandorte verschickt worden. Dort ansässige Lehrer halfen dabei, sie von Alteingesessenen ausfüllen zu lassen. Mit verhältnismäßig viel Erfolg, die Rücklaufquote betrug mehr als 50 Prozent. Besonders hilfreich für die Autoren des Nachschlagewerks: Nicht ein, sondern 22 verschiedene Fragebögen gingen ins Land. So bekamen die Wissenschaftler einen breiten Überblick über die existierenden Sprachgepflogenheiten. Abgerufen wurden Informationen in Wort und Satz zu ganz verschiedenen Themen: die Fischerei, die Landwirtschaft, Volkssitten und -gebräuche, die Tierwelt und vielen anderen. So heißt die Heuschrecke bei Richard Kühn aus Basdorf, heute Rheinsberg, „Heuspenzel“, die Spinne „Spenn“, das Stallkaninchen „Kanikel“ und die getrockneten Baumnadeln „Nodeln“. Beispiele, die die insbesondere im Nordmärkischen vorhandene mundartlich-niederdeutsche Grundschicht im Sprachgebrauch belegen.

Die Dialekte weichen vom Niederdeutschen ab

 Wie dem Niederdeutschen insgesamt fehlen in den Dialekten – abhängig von der Stellung im Wort – Laute die erst mit der 2. Lautverschiebung entstanden. Doch es gibt auch Unterschiede zwischen der sprachlichen Basis und dem, was regional daraus hervorging. Speziell am Mittelmärkischen lässt sich das gut festmachen – und zugleich einen historischen Prozess ablesen: die verschiedenen Siedlungsströme, die es über die Jahrhunderte gab. Viele Charakteristika gehen etwa auf die Einflüsse niederländischer Einwanderer, die vor allem im 12. und 13. Jahrhundert in das Gebiet kamen, zurück. So nennen Plattdeutsch- Sprecher in Mittelmark den Kuchen „Kuoken“ oder „Kuken“ – anders als sonst im Niederdeutschen, wo die Form „Koken“ geläufig ist. In den Fragebögen der 1950er-Jahre wird der Regenwurm nicht selten als „Piermade“, die Große Waldameise als „Pissmiere“ bezeichnet – ebenfalls Ausdruck dieser historischen Entwicklung, die im Wortschatz ihren Niederschlag fand.

„Als ich diesen Schatz sah, war mir klar, dass wir etwas tun müssen“, erinnert sich Ulrike Demske. „Auch, weil die ersten Fragebögen langsam vergilbten.“ Das Material zu digitalisieren, lag nahe. Die Universität förderte das sechs Monate dauernde Vorhaben mit finanziellen Mitteln. Dass die interaktive Karte mit den vielen Ortsnamen und hinterlegten Dokumenten heute funktioniert, ist das Ergebnis durchaus mühevoller Kleinarbeit. „Es war nicht einfach, alle Bögen richtig zuzuordnen“, berichtet Dr. Elisabeth Berner, Mitarbeiterin an der Professur. Die Online- Karte beruht auf einer Datenbank mit Postleitzahlen, die mit den Fragebögen verbunden ist. „Manchmal fehlte uns aber die Postleitzahl oder sie stimmte nach inzwischen drei Gebietsreformen in Brandenburg nicht mehr. Dann musste genau recherchiert werden, um welchen Ort es eigentlich geht. Das war nicht immer einfach.“

Das Spracharchiv findet auch in der Lehre Einsatz

Mit dem digitalisierten Brandenburg-Berlinischen Spracharchiv arbeiten bereits Potsdamer Studierende der Germanistik – vor allem in diachronischen Studien. Möglich macht dies das historische Vorbild der Erhebung aus den 1950er-Jahren: Der deutsche Sprachwissenschaftler Georg Wenker hatte schon Ende des 19. Jahrhunderts 40 sogenannte „Wenkersätze“ zusammengestellt, die er in den Folgejahren von Lehrern aus dem gesamten Deutschen Reich in die jeweilige Ortsmundart übertragen ließ. Am Ende lagen über 44.000 Fragebögen aus rund 40.000 Schulstandorten vor. Er begründete damit den Sprachatlas des Deutschen Reiches, aus dem das heutige Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg hervorgegangen ist. Zu den berühmten „Wenkersätzen“ zählen solche wie „Hinter unserem Hause stehen drei schöne Apfelbäume/drei Apfelbäumchen mit roten Äpfeln/Äpfelchen“ oder „Die Bauern hatten (fünf) Ochsen und (neun) Kühe und (zwölf) Schäfchen vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen“. „Die Studierenden können unsere Materialien nun mit dem vergleichen, was sie bei Georg Wenker gefunden haben“, erläutert Ulrike Demske. Die Vorzüge dieses komparativen Vorgehens liegen auf der Hand, sagt sie. „Das eigene Sprachbewusstsein wächst und die Arbeit an Wörterbüchern bekommt ein ‚Gesicht‘.“

Noch werfen Morphologie und Syntax der Mundarten Fragen auf

Ulrike Demske und ihre Kollegin Elisabeth Berner streben an, auch die restlichen Fragebögen zu digitalisieren. Das Geld hierfür wollen sie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragen. „Falls wir den Zuschlag bekommen, können wir in drei Jahren fertig sein“, versichert Elisabeth Berner. Dann werden sich die Linguistinnen Fragen widmen, die sie mithilfe des Spracharchivs beantworten wollen. Sie betreffen weniger lexikalische als vielmehr morphologisch-syntaktische Aspekte der im 20. Jahrhundert gesprochenen Dialekte in der Region. „Uns interessiert zum Beispiel, wie und unter welchem Einfluss sich die Wortformen verändern“, erklärt Ulrike Demske. Manchmal hört man es noch: Gern wird im Norden von Brandenburg das „ge-“ beim Partizip II weggelassen. Statt „gegangen“ lautet es „gangen“. Diese Sprachvariante haben Fachleute bisher nur sehr punktuell untersucht. „Bei welchen Verben Sprecher sie tatsächlich anwenden und bei welchen sie darauf verzichten, wissen wir nicht“, so Ulrike Demske. „Das hat etwas mit der Bedeutung und dem Anlaut des Verbs zu tun.“ Daneben sollen auch soziolinguistische Fragestellungen eine Rolle spielen. Auf vielen Fragebögen haben die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer Kommentare hinterlassen. Sie ermöglichen den Potsdamer Sprachwissenschaftlerinnen, deren Verhältnis zum eigenen Dialekt abzuleiten. Darauf deuten jedenfalls erste Stichproben. So gaben einige sorbische Befragte an, sie würden ein „schlechtes Deutsch“ sprechen. „Die Kommentare in den unterschiedlichen Regionen verraten viel darüber, wie die Heimatsprache wahrgenommen wird“, bestätigt Elisabeth Berner. Die Wissenschaftlerin kann es kaum erwarten, bis es endlich ins Detail geht. Vor ihr und Lehrstuhlinhaberin Ulrike Demske liegt ein weites Feld, das sie „bestellen“ können: Noch gibt es keine systematische Untersuchung zur Grammatik der brandenburg-berlinischen Dialekte und zu deren Variabilität in kleineren und größeren Räumen.

Das Niederdeutsche bietet also viel „Stoff“. Als Regionalsprache wird es geschützt. Experten beobachten, dass im Zuge der Globalisierung das Bewusstsein für regionale Identitäten und damit auch für regionale Sprachen wächst. „Als diejenigen, die wir uns damit auseinandersetzen, sind wir uns darüber einig, dass das sprachlich-kulturelle Erbe gepflegt werden muss“, betont Elisabeth Berner. „Deshalb müssen auch die wenigen Reste, die noch da sind, bewahrt werden.“


Das Brandenburg-Berlinische Spracharchiv ist im Internet unter http://www.uni-potsdam.de/guvdds/ bbsprarchiv.html zu finden. Unter http://www.bbapotsdam.de können Nutzer die interaktive Online- Karte öffnen, um die Fragebögen zu lesen. Das originale Material befindet sich am Uni-Standort Am Neuen Palais, Haus 22. Die Räumlichkeiten sind für die Öffentlichkeit zugänglich.

Öffnungszeiten: 

Di. 14.30 bis 17.00 Uhr,
Mi. 10.30 bis 13.00 Uhr, Do. 12.30 bis 13.30 Uhr
und nach Vereinbarung
0331/977-4265
bbsauni-potsdamde


Das vierbändige Brandenburg-Berlinische Wörterbuch zählt zu den großlandschaftlichen Wörterbüchern. Es erfasst die Dialekte in Brandenburg sowie Berlin. Beschrieben werden sowohl niederdeutsche als auch hochdeutsche Mundarten. Das Wörterbuch ist seit 1968 kontinuierlich in Lieferungen erschienen, zunächst herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften, ab 1971 von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in deren Obhut die Mundartforschung überging. 2001 endete mit der 38. Lieferung die Entstehungsgeschichte der Publikation, die auf reichhaltigem Forschungsmaterial basiert. Erste Sammlungen stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert und wurden vom Berliner Oberlehrer Hermann Teuchert angelegt.

Mit dem Begriff Niederdeutsch bezeichnen Germanisten Mundarten nördlich der sogenannten „Benrather Linie“, einer gedachten Linie, die bei Benrath nahe Düsseldorf den Rhein überquert und entlang des Mittelgebirgssaums bis Frankfurt (Oder) verläuft. Die Dialekte, die nördlich von ihr existieren, werden insbesondere durch ein Merkmal im Bereich der Konsonanten charakterisiert, das Fachleute als 2. Lautverschiebung bezeichnen. Im Mittelpunkt stehen die Verschlusslaute p,t,k. Während diese in den hochdeutschen Mundarten im 7. und 8. Jahrhundert je nach ihrer Stellung im Wort zu den Lauten pf/f, ts/s und ch „verschoben“ wurden, blieben sie im Niederdeutschen erhalten. „Planten“ für „Pflanzen“ sowie „maken“ für „machen“ sind gute Beispiele hierfür.

Georg Wenker stellte seine nach ihm benannten Sätze bis 1880 zusammen. Er hatte sie so formuliert, dass typische lautliche und ausgewählte grammatische Eigenschaften bei der Übertragung in die Dialekte hervortreten mussten. Ziel war es, Grenzen von Sprachlandschaften herauszufinden. Eine Übersicht über alle Sätze finden Interessierte unter: de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Sprachatlas.

Die Wissenschaftlerinnen


Prof. Dr. Ulrike Demske
studierte Germanistik und Geografie an den Universitäten Tübingen und Aix-en- Provence. 1993 Promotion in Tübingen, 1999 Habilitation an der Universität Jena. Nach einer Professur an der Universität des Saarlandes ist sie seit 2011 Professorin für Geschichte und Variation der deutschen Sprache an der Universität Potsdam.

Universität Potsdam 
Institut für Germanistik
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
udemskeuni-potsdamde

Dr. Elisabeth Berner studierte an der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Sie ist Diplomlehrerin für Deutsch und Geschichte. 1983 promovierte die Wissenschaftlerin zum Thema politische Semantik im 19. Jahrhundert. Elisabeth Berner lehrte und forschte zunächst am Lehrstuhl Geschichte der deutschen Sprache, seit 2010 ist sie am Lehrstuhl für Geschichte und Variation der deutschen Sprache tätig.
berneruni-potsdamde

Text: Petra Görlich
Online gestellt: Alina Grünky
Kontakt zur Online Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde