Wer hat nicht schon einmal in einem Museum oder einer sakralen Einrichtung die mit künstlerischer Meisterschaft hergestellten Dinge aus lange vergangenen Zeiten bewundert? Solche Schätze regen immer wieder die Fantasie von Schriftstellern und Filmemachern zu actionreichen Geschichten an. Fantasie kann sicher auch die Wissenschaft beflügeln. Doch wichtiger sind für Historiker die nachweisbaren Quellen und Fakten. Inwieweit mittelalterliche Kultur und Kunst dabei Rückschlüsse auf das Leben, Denken und Wirken der Menschen in dieser Zeit zulassen, darum geht es – im weitesten Sinne – in dem Forschungsprojekt „Innovation und Tradition Objekte und Eliten in Hildesheim 1130 – 1250“. An zwei der insgesamt neun Teilprojekte dieses vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Vorhabens ist Martina Giese, seit vier Semestern Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Universität Potsdam, maßgeblich beteiligt.
Warum eigentlich Hildesheim? So könnte man zunächst fragen. Seit 1985 stehen Dom und Klosterkirche St. Michael in Hildesheim, die mit ihrer ebenso repräsentativen wie reichhaltigen Ausstattung an Gegenständen und schriftlichen Überlieferungen als hervorragende Zentren mittelalterlicher Kultur und Geschichte gelten, auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Die Frage „Warum Hildesheim?“ führt aber auch zum Hauptziel des Forschungsprojektes. „Warum war Hildesheim, eine Stadt von sehr überschaubarer Größe im erst spät christianisierten Sachsen, ein so gedeihlicher Wurzelgrund für die Kunstproduktion und Auftraggeberschaft für Schatzobjekte im weitesten Sinne? Das kleine und in mancher Hinsicht damals rückständige Hildesheim erbrachte diese Spitzenleistung. Aber warum eigentlich? Wo liegen die spezifischen Bedingungen für diesen Höhenflug und diese Höchstleistungen? Das hatte bisher noch niemand gefragt“, erzählt Martina Giese.
Den Anstoß zu diesem Forschungsvorhaben hatte der damalige Leiter des Hildesheimer Dommuseums gegeben, der Kunsthistoriker Prof. Dr. Michael Brandt. Er rief einen Kreis von Kolleginnen und Kollegen zusammen, von denen sich jeder schon einmal wissenschaftlich mit Hildesheimer Themen beschäftigt hatte. Auch Martina Giese gehörte dazu.
Ein Forscherinnenleben reicht nicht aus, um das alles zu bearbeiten
Eigentlich war es ein Zufall, der sie mit der Hildesheimer Schatzkunst in Berührung brachte. 1993 nahm sie als noch junge Studentin an einer Exkursion der Kölner Uni zu einer Ausstellung über Bernward von Hildesheim teil, der dort von 993 bis 1022 Bischof gewesen war. „Diese Schau hat mich in Bann gezogen. Ich war begeistert, aber noch weit davon entfernt zu denken, dass ich je auf diesem Gebiet wissenschaftlich tätig werden würde. Nach der Promotion bin ich bei handschriftlichen Recherchen, bei denen es um ganz andere Themen ging, dann zufällig auf unbekannte Handschriften mit einer Biografie über eben jenen Bischof Bernward gestoßen. Ich habe mich gewundert, warum die noch niemand entdeckt und publiziert hat. Ich habe weitergeforscht und die Resultate als Buch vorgelegt. Wenn man es mit so einem Thema zu tun hat, ist das wie bei einem Wollknäuel, bei dem man an einem Faden zieht – und der wird immer länger. Bei den Recherchen habe ich festgestellt, dass vor allem in der Hildesheimer Dombibliothek sehr viel Material liegt, das noch nicht annähernd wissenschaftlich ausgeschöpft ist. Mir war klar, dass ein Forscherinnenleben nicht ausreicht, um das alles zu bearbeiten. Aber es hat mich angespornt, die weißen Flecken in der Geschichte ein Stückchen bunter zu tünchen und die Forschung auf diesem Feld voranzutreiben.“
Es ist also keineswegs ein Zufall, dass Martina Giese am Hildesheimer Forschungsprojekt mitwirkt. Der besondere Reiz an dieser Aufgabe liege darin, „dass es noch viele kirchliche Schatzobjekte aus dem Mittelalter gibt, sei es in Hildesheim selber oder in den großen Museen der Welt, die aufgrund ihrer Materialität, ihrer Verarbeitung, ihrer liturgischen Verwendung auch ein heutiges Laienpublikum ansprechen und begeistern“.
Eine Besonderheit des Projekts istder multidisziplinäre Aspekt
Eine Besonderheit des Projekts ist der multidisziplinäre Aspekt, das Zusammenwirken von Geistes- und Naturwissenschaftlern. So forschen hierbei nicht nur Kunsthistorikerinnen und -historiker zu den Objekten, sondern es sind auch Historiker und Materialforscher dabei. Außerdem steht der Restaurator des Dommuseums beratend zur Seite und die Schweizer Abegg-Stiftung mit ihrem Textilmuseum leistet etwa Hilfestellung bei der Bestimmung von textilen Objekten. Dabei werden nicht nur die besonderen Prunkstücke der Sammlungen einer eingehenden Analyse unterzogen. Auch die oft unbeachtete Kleinkunst wird berücksichtigt. „So stehen neben romanischen Emailarbeiten Werke aus Bronze im Fokus, darunter etwa Gießgefäße, sogenannte Aquamanilen, die im liturgischen Gebrauch für die Handwaschung, aber auch in privaten Haushalten als Tischgeräte Verwendung fanden. Wir wollen alle aus der fraglichen Zeit überlieferten Objekte sichten, um sie einer kunsthistorischen Einschätzung sowie einer materiellen Untersuchung zu unterziehen. Aber natürlich ist auch die Frage zu klären, ob die aus Hildesheim bzw. Niedersachsen stammen“, fügt die Wissenschaftlerin hinzu. Durch den intensiven Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus Museen in der ganzen Welt ist es gelungen, mehrere bisher unbekannte Objekte aus Privatsammlungen und aus archäologischen Grabungskontexten in die Analyse einzubeziehen. Insbesondere die Bronzen verdeutlichen innerhalb der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte weitreichende Handelsbeziehungen, vor allem nach Ostmitteleuropa. Sie zeigen, dass Hildesheim europaweit bestens vernetzt war.
Martina Giese selbst leitet zwei an der Universität Potsdam angesiedelte Teilprojekte des Verbundprojekts, wobei das eine, das sich besonders mit dem Vorbildcharakter der Hildesheimer Domschule als Bildungsinstitution in der Zeit bis 1250 beschäftigt, von ihrer Mitarbeiterin Claudia Hefter bearbeitet wird.
Ein weiteres Teilprojekt, das sich den Kirchenschätzen des Hildesheimer Domes sowie von St. Michael aus historischer wie kunsthistorischer Perspektive nähert, bearbeitet Martina Giese gemeinsam mit Michael Brandt aus Hildesheim. Hierbei geht es einerseits darum, sämtliche bis zum 17. Jahrhundert überlieferten und größtenteils noch nicht publizierten Schatzverzeichnisse beider Gotteshäuser kritisch zu edieren. Andererseits wollen die Wissenschaftler alle Erwähnungen der Schatzobjekte in anderen Quellen bis 1250 erfassen, um gesicherte Aussagen über die Gebrauchsfunktionen der einzelnen Schatzobjekte in materieller und liturgischer Hinsicht treffen zu können und in Beziehung zu den immateriellen Sinnzuschreibungen zu setzen. Heutige Betrachter dieser mittelalterlichen Kostbarkeiten könnten nicht nur etwas über ihre künstlerische Meisterschaft, über ihren materiellen und ideellen Wert, Gebrauch und Umgang erfahren, sondern auch einen genaueren Einblick in das Leben zu dieser Zeit erhalten.
Die Historikerin ist beidiesen Forschungen ganz in ihrem Element, denn unabhängig von den Untersuchungen zu den Hildesheimer Kirchenschätzen ist es ihre Leidenschaft, Handschriften und gedruckte Überlieferungen aufzuspüren, um sie für ein heutiges Publikum nach allen Regeln der Wissenschaft aufzuschlüsseln. „Das ist eine Methodik“, sagt sie, „die eine große Berechtigung hat, weil von allen erhaltenen mittelalterlichen Überlieferungen – und das gilt modifiziert auch für die Alte Geschichte und erst recht für die Neuere – bisher nur der geringste Teil wissenschaftlich aufgearbeitet ist. Neue Texte ausfindig zu machen und wissenschaftlich auszuwerten, finde ich besonders wichtig und spannend, denn es ist methodisch sehr anspruchsvoll. Außerdem muss es unser Ziel als Historikerinnen und Historiker sein, nicht immer nur neue Fragen an bekanntes Material zu stellen, sondern wir müssen auch die Basis unseres Wissens durch neue Textfunde und deren Auswertung verbreitern. Und da kann man geradezu noch Pionierleistungen erbringen.“
Die Wissenschaftlerin
Prof. Dr. Martina Giese studierte Biologie, Geschichte, Historische Hilfswissenschaften und mittellateinische Philologie in Essen, Köln, Bonn und München. Sie promovierte 1999 inGeschichte, habilitierte sich 2012 und war Gast- bzw. Vertretungsprofessorin an den Universitäten in Tübingen und Düsseldorf. Seit 2015 ist sie Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Universität Potsdam.
Universität Potsdam
Historisches Institut
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
E-Mail: margieseuuni-potsdampde
Das Projekt
Innovation und Tradition – Objekte und Eliten in Hildesheim. 1130 – 1250: Bei dem Modellprojekt werden verschiedenste Quellenarten, dingliche wie schriftliche Überlieferungen, von mehreren Fachdisziplinen untersucht und zu einem komplexen Zeitbild vereint, das zeigt, inwieweit mittelalterliche Kunst und Kultur bis in die Gegenwart prägend sind.
Beteiligt: Dommuseum Hildesheim, Universität Potsdam, die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, die Rheinische-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Universität Osnabrück
Teilprojekt: Die mittelalterlichen Kirchenschätze des Domes und von St. Michael in Hildesheim: Objekte – Imagination – Praktiken
Leitung und Bearbeitung: Prof. Dr. Michael Brandt (Hildesheim), Prof. Dr. Martina Giese (Universität Potsdam)
Teilprojekt: Domkapitel und Domschule im früh- und hochmittelalterlichen Hildesheim
Leitung: Prof. Dr. Martina Giese
Bearbeiterin: Claudia Hefter, M. A. (Promotion)
Laufzeit: 2015–2018
Finanzierung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Text: Ingrid Kirschey-Feix
Online gestellt: Agnetha Lang
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde
Diesen und weitere Beiträge zur Forschung an der Universität Potsdam finden Sie im Forschungsmagazin Portal Wissen.