Wie vor Tausenden von Jahren Wildpferde und Hühner gezüchtet wurden, mit wem der längst ausgestorbene europäische Waldelefant eng verwandt war, ja sogar ob Höhlenbären stets dieselben Winterquartiere nutzten – der Molekularbiologe Michael Hofreiter weiß die Antwort. Er „jagt“ Tieren nach, die es schon lange nicht mehr gibt. Dafür analysiert er sogenannte alte DNA, die etwa aus gefundenen Skeletten extrahiert wurde. Jetzt arbeitet er gemeinsam mit Evolutionsbiologen und Geowissenschaftlern an einer Methode, mit der man die Entwicklung eines ganzen Ökosystems über Jahrtausende hinweg rekonstruieren könnte. Dafür wollen sie DNA aus einem Bohrkern „fischen“ – und zwar im ganz großen Stil.
Eigentlich ist Michael Hofreiter ein Sammler. Die Schleich-Figuren auf dem Tisch in seinem Büro verraten ihn. „Das sind Modelle von einigen Tierarten, zu denen ich geforscht habe“, sagt der Forscher. Haie, Kleinstpferde, Mammuts oder Macrauchenia patachonica, das „langhalsige Lama“, das Charles Darwin als "merkwürdigstes Tier" bezeichnete. Gejagt hat er sie nicht: Die meisten sind bereits seit Tausenden von Jahren ausgestorben. Die wenigen Spuren von ihnen, die noch bis heute überdauert haben, findet Hofreiter in gut erhaltenen Skeletten, in Sedimentschichten oder im Permafrost. Sobald Proben geborgen werden, beginnt für Hofreiter und sein Team die molekularbiologische Puzzlearbeit. Geht es doch darum, in den oft stark zerstörten Überresten der DNA jene Abschnitte, einzigartige Marker, zu finden, mit denen sich einzelne Arten identifizieren lassen. „So wie eine Müslipackung an der Kasse mithilfe eines Barcodes erkannt wird, lässt sich auch ein Organismus durch eine spezifische DNA-Sequenz bestimmen“, erklärt der Wissenschaftler. Dafür wird der einzigartige DNA-Abschnitt der gesuchten Art künstlich hergestellt, seine Doppelhelix durch Wärme aufgespalten und eine Hälfte – in großer Zahl – auf einen Objektträger aufgebracht. Mit dieser DNA-Angel „fischen“ die Forscher in der Probe nach dem passenden, komplementären Strang. Ist er vorhanden, bleibt er „kleben“. Erst im Anschluss an das Barcoding können die Forscher die gesamten erhaltenen genetischen Informationen auswerten und etwa Vergleiche zu heute lebenden, verwandten Arten ziehen. Nachteil: Man muss bereits ungefähr wissen, wonach man sucht – also nach welchem Organismus oder wenigstens nach welcher Gruppe von Organismen.
Statt 96 lassen sich nun 6 Milliarden DNA-Sequenzen auf einmal analysieren
Im Labor stehen, DNA analysieren, tagelang. So fing auch Michael Hofreiters Weg als Molekularbiologe an. Vor gar nicht allzu langer Zeit, als die Technik der Gensequenzierung noch in den Kinderschuhen steckte. „Ich habe noch radioaktiv sequenziert“, sagt er und lacht. „Anfangs konnte man 96 DNA-Abschnitte gleichzeitig bearbeiten.“ Inzwischen schaffen Hochleistungssequenzierer sechs Milliarden Sequenzen in einem Durchgang – in rund 24 Stunden. Next Generation Sequenzing (NGS) heißt das Verfahren, das die Arbeit mit Erbgut revolutioniert hat. Im Labor von Hofreiters Forschungsgruppe steht ein schwarzer Kasten, der wie ein handelsüblicher Laserdrucker aussieht: ein kleiner Sequenzierer. Er schafft „nur“ rund 400 Millionen Sequenzen in einem Durchlauf. Allemal genug, um die Forscher wochenlang zu beschäftigen. Ihre Arbeit besteht vor allem darin, die Daten bioinformatisch auszuwerten. „Mit NGS können wir gewaltige Mengen DNA sequenzieren“, so Hofreiter. „Außerdem eignet sich die Methode sehr gut für alte DNA, da man mit ihr auch die oft nur sehr kurzen erhaltenen Abschnitte analysieren kann.“
Technologische Fortschritte wie die von NGS machen es möglich, dass Molekularbiologen in Proben nicht mehr nur nach einzelnen Organismen suchen, sondern große Mengen DNA gleichzeitig untersuchen. Metabarcoding heißt das Verfahren, bei dem Experten eine Probe, sogenannte Umwelt-DNA, analysieren, die viele verschiedene genetische Spuren enthält. Doch auch hier wird noch „gefischt“, wie Hofreiter deutlich macht: „Ein so wildes DNA-Gemisch vollständig zu sequenzieren, würde ewig dauern.“ Beim Metabarcoding werden deshalb kurze, weniger spezifische Sequenzen, die auch mehrere Arten haben können, synthetisiert und gewissermaßen als Angel eingesetzt. Damit können die Forscher aus der Probe Erbgut von gesuchten Arten isolieren sowie anschließend durch die Identifizierung artspezifischer DNA-Abschnitte dann genauer bestimmen. Auf diese Weise lässt sich letztlich ein ganzes Ökosystem in seiner Vielfalt beschreiben, was gerade Forschungen zur Biodiversität einen großen Schritt voranbringen könnte.
Der Bohrkern wird Stück für Stück nach alter DNA durchsucht
Michael Hofreiter hat sich mit dem Potsdamer Evolutionsbiologen Prof. Dr. Ralph Tiedemann und dem Geowissenschaftler Prof. Dr. Martin Trauth zusammengetan, um mithilfe des Metabarcodings nicht nur die Vielfalt, sondern auch die Entwicklung eines Ökosystems über einen großen Zeitraum hinweg zu rekonstruieren. Und das nicht irgendwo, sondern ausgerechnet dort, wo normalerweise kaum alte DNA zu finden ist: in den tropischen Regionen Ostafrikas. „Je wärmer es ist, desto schlechter hält sich DNA“, erklärt der Wissenschaftler. Da das genetische Material in tieferen Ablagerungen möglicherweise besser erhalten ist, wollen die Forscher die DNA aus einem Bohrkern extrahieren. Das Vorhaben ist ein absolutes Pilotprojekt. Dies bedeutet, auch die Methoden, mit denen sich die Sedimente untersuchen lassen, müssen erst gefunden werden. Während in ersten Stichproben mit bislang üblichen Verfahren keine alte DNA nachgewiesen werden konnte, fanden die Forscher dank NGS etwas: „Wir haben ein paar Millionen Sequenzen produziert und mit den Datenbanken abgeglichen – und tatsächlich alte DNA aufgespürt“, erklärt der Biologie. „In kleinen Konzentrationen, aber genug, um damit zu arbeiten.“
Die Idee des Projekts ist so einfach wie außergewöhnlich: Mithilfe des Metabarcodings können die Wissenschaftler in den Sedimentproben des Bohrkerns nach der DNA von zahlreichen Arten „fischen“. Als Köder – oder „fishing baits“, wie die Biologen es selbst nennen – synthetisieren sie die einzigartigen Marker-Genabschnitte von jenen Arten, die sie zu finden hoffen. Und das sind nicht irgendwelche, wie Hofreiter erklärt: „Zum einen schauen wir nach Arten, von denen wir annehmen, dass sie auch vor 100.000 oder 200.000 Jahren in Ostafrika gelebt haben dürften.“ Das lasse sich ansatzweise aus der heutigen Artenverteilung ableiten. Zum anderen suchen die Forscher aber nach bestimmten Organismen, deren Existenz mehr über das Ökosystem aussagt, in dem sie leben. „Wir schauen nach solchen, die als ökologische Anzeiger gelten, etwa für den Salzgehalt, die Sauerstoffkonzentration, Temperatur und ähnliches.“ Diese Analyse führen die Forscher dann an Proben von verschiedenen Stellen des Bohrkerns – und damit aus verschiedenen Zeiten – durch.
Die Daten verraten viel über das Verhältnis von Klimawandel und Artenentwicklung
Das Projekt ist ein gutes Beispiel dafür, wie Geowissenschaftler und Biologen immer enger zusammenarbeiten – und ganz praktisch voneinander profitieren – können. Denn dass Biologen in Bohrkernen nach alter DNA suchen und Geowissenschaftler aus der Bestimmung von Genmaterial Rückschlüsse auf die Entwicklung des Klimas ziehen, ist neu.
Für das Pilotprojekt designen die Forscher nun Marker-Gene von „nur“ einigen Dutzend Arten und suchen damit auch in der Umwelt-DNA von lediglich rund einem Dutzend Sedimentproben. Doch das sollte genügen, um ihre Methode zu erproben. „Wenn wir Erfolg haben, beantragen wir ein volles Projekt“, sagt Hofreiter. Dann würden die Forscher den Bohrkern regelrecht auseinandernehmen und nach mehreren Hundert Arten in Hunderten von Proben „fischen“.
„Damit können wir dann Rückschlüsse auf das Verhältnis von Klimawandel und Artenentwicklung ziehen und etwa schauen, welche Arten unter welchen klimatischen Bedingungen gelebt, sich angepasst haben und welche ausgestorben sind“, so Hofreiter. „Ja, es würden sogar Vorhersagen möglich: Vor 120.000 Jahren war es schon einmal so warm, dass in der Themse Nilpferde gebadet haben. Wenn die Temperaturen wieder steigen, sieht man sie vielleicht unter der Tower Bridge durchschwimmen“, sagt er und schmunzelt.
Als Barcoding bezeichnen Genetiker ein Verfahren, bei dem eine DNA-Probe einer Art zugeordnet wird. Dabei dient eine bestimmte, artspezifische Abfolge von Basenpaaren zur Identifizierung – ähnlich einem Barcode auf Etiketten von Produkten.
Das Projekt
DNA-Metabarcoding von Phyto- und Zooplankton in ostafrikanischen Seesedimenten als Proxy für Umweltveränderungen in der Vergangenheit
Beteiligt: Professor Dr. Michael Hofreiter, Professor Dr. Ralph Tiedemann, apl. Professor Dr. Martin Trauth
Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Zeitraum: 2016–2018
Der Wissenschaftler
Prof. Dr. Michael Hofreiter studierte Biologie in München, promovierte 2002 an der Universität Leipzig und arbeitete bis 2010 am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Von 2009 bis 2013 war er Professor an der Universität York, seit 2013 ist er Professor für Allgemeine Zoologie/Evolutionäre adaptive Genomik an der Universität Potsdam.
Universität Potsdam
Institut für Biochemie und Biologie
Karl-Liebknecht-Str. 24–25
14476 Potsdam
E-Mail: michael.hofreiteruuni-potsdampde
Die hier vorgestellte Forschung ist verbunden mit der Forschungsinitiative NEXUS: Earth Surface Dynamics, die unterschiedlichste wissenschaftliche Aktivitäten der Region Berlin-Brandenburg aus dem Themenfeld Dynamik der Erdoberfläche bündelt. Die Universität Potsdam (UP), gemeinsam mit ihren Partnern des Helmholtz-Zentrums Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ), des Alfred-Wegener-Instituts für Polar und Meeresforschung (AWI) sowie mit Partnern des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), des Naturkundemuseums Berlin (MfN) und der Technischen Universität Berlin (TUB) verbindet hierzu die herausragende Expertise in den Geo-, Bio, Klima- und Datenwissenschaften.
Diesen und weitere Beiträge zur Forschung an der Universität Potsdam finden Sie im Forschungsmagazin Portal Wissen.