Seit 2002 steht der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz. Dass er gerade in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat, zeigen nicht zuletzt einige Preise, die es inzwischen für Maßnahmen gibt, die Tierversuche minimieren oder ersetzen. Doch allein 2014 wurden nach Angaben des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft immer noch rund 2,8 Millionen Nager, Vögel, Fische usw. für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Die Zahl sank damit zwar zum zweiten Mal in Folge, aber sie ist nach wie vor hoch – und damit ein Problem. Einen Beitrag zu dessen Lösung soll die Berlin-Brandenburger Forschungsplattform BB3R leisten. In insgesamt zwölf Teilprojekten wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter ein Team unter der Leitung des Potsdamer Ernährungstoxikologen Prof. Dr. Burkhard Kleuser, wichtige Erkenntnisse auf dem Gebiet alternativer Testverfahren und tierschonender Testmethoden gewinnen. Das Bundesforschungsministerium fördert den Forschungsverbund mit fast vier Millionen Euro.
Der Raum im Tierhaus des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE) wirkt sachlich und kühl, desinfiziert bis in den letzten Winkel. Auf der rechten Seite stehen Käfige. Dahinter sind kleine Kameras installiert. Auf der linken, ebenfalls videoüberwacht, befindet sich ein kreisförmig eingegrenztes Areal, in dessen Mitte ein rotes Häuschen sowie Nestmaterial platziert sind. Fast einen Meter beträgt der Durchmesser der künstlich geschaffenen Fläche, auf der sich eine einzige kleine Maus tummelt. Doktorandin Tina Nitezki kennt sie und die anderen 34, die zur Versuchsgruppe gehören, schon ganz gut. Die Nachwuchswissenschaftlerin gehört dem Graduiertenkolleg „Innovationen in der 3R-Forschung – Gentechnik, Tissue Engineering und Bioinformatik“ an, das an die BB3R-Forschungsplattform angekoppelt ist. Der Test, den sie mit den Labormäusen gerade durchführt, findet innerhalb eines der Teilprojekte der BB3R-Forschungsplattform statt und dient dazu, mehr über ihr Verhalten zu erfahren. Die Daten, die die junge Forscherin sammelt, sollen dazu beitragen, Tierversuche so zu verbessern, dass sie einerseits weniger belastend für die Tiere und andererseits noch effektiver für die Forschenden sind. Dabei nimmt sie speziell Stereotypien – von der Norm abweichende Verhaltensweisen – in den Blick. Diese will sie näher charakterisieren, um herauszufinden, warum sie auftreten, welche Haltungsbedingungen möglicherweise dazu führen und was sie über das Wohl der Tiere aussagen. Warum beginnen einige der Mäuse trotz identischer Lebensumstände nach einiger Zeit zu kreiseln und andere nicht? Das ist nur eine der Fragen, über die die Wissenschaft noch zu wenig weiß.
Stereotypien könnten in der Natur eine Art evolutionäre Sackgasse sein
Im konkreten Fall stellt das neu geschaffene „Open Field“, wie es die Experten nennen, für alle Mäuse eine völlig fremde Umgebung dar. Es sind neue Gerüche, Lichtverhältnisse und Materialien, mit denen sie konfrontiert sind. Der heutige Test dauert nur fünf Minuten. In einer Woche soll ein zweiter, ebenso kurzer folgen. Der dritte wird sich dann über 24 Stunden erstrecken. Es gibt drei Zeitpläne pro Maus: Innerhalb jedes einzelnen wird sie fünfmal pro Tag für eine halbe Stunde mit der Videokamera beobachtet – insgesamt dauert diese Untersuchungsphase zwölf Wochen. Wie werden sich die kleinen Säuger in diesen verschiedenen Etappen bewegen? Welche Muster werden sie zeigen? Die Tiere gelten generell als thigmotaktisch, erklärt die Wissenschaftlerin. Das heißt, sie laufen selten quer über freie Flächen, sondern orientieren sich eher an Wänden oder an natürlichen Grenzen. „Evolutionsbiologisch betrachtet, ist das ein sinnvoller Aspekt“, erklärt Tina Nitezki. „Denn die Hauptangreifer sind Greifvögel. Würde die Maus frei über das Feld laufen, wäre sie eine leichte Beute.“
Schon beim ersten Test nähern sich die Tiere vorsichtig der neuen Umgebung an. Es fällt auf, dass die stereotypen unter ihnen vor allem im Haus bleiben und die äußere Zone meiden. Später, im zweiten Test, wird sich das ändern. „Besonders beeindruckend aber waren die Ergebnisse des 24 Stunden-Tests“, berichtet Tina Nitezki Wochen später. Beim Langzeittest seien die stereotypen Mäuse einerseits vermehrt in der mittleren freien Zone gewesen, was darauf hindeute, dass Stereotypien in der Natur eine Art evolutionäre Sackgasse sein könnten. Andererseits hätten sie weniger als ihre beteiligten „normalen“ Artgenossen vom Stamm FVB/N geschlafen und sich in der aktiven Phase auch mehr bewegt. „Die nicht stereotypen Tiere legten etwa 1,77 Kilometer zurück, die stereotypen 4,96.“ Spitzenreiter war eine Maus, die fast 17 Kilometer lief. Die Strecken erlauben den Wissenschaftlern Rückschlüsse darauf, welches Platzangebot genutzt würde, wenn es denn vorhanden wäre. Denn in einem normalen Käfig, der 18,5 x 35 Zentimeter groß ist, legen Labormäuse, wie Messungen ergeben haben, im gleichen Zeitraum 1,53 Kilometer beziehungsweise 3,98 Kilometer zurück.
Tina Nitezki untersuchte in ihrem Projekt auch, wie gestresst die Tiere sind. Ein Indiz dafür ist unter anderem, wie häufig sie sich putzen. „Hier habe ich keine Unterschiede innerhalb der Gruppe feststellen können“, konstatiert die Veterinärmedizinerin. Zudem wurden Corticosteron – das Hauptstresshormon bei Mäusen – und die ausgeschütteten sogenannten „Glückshormone“ Dopamin und Serotonin im Kot gemessen. Der Befund: Die Werte waren annähernd gleich! „Das stereotype Verhalten scheint bei den FVB/N-Mäusen also stressunabhängig zu sein.“
Kein Hinweis auf vererbtes stereotypes Verhalten
Im Verlauf der Studie haben 19 der 35 Mäuse Stereotypien entwickelt. So kreiselten fünf Tiere, sie liefen also ständig den Käfigboden kreisförmig ab, zehn sprangen vermehrt rückwärts und vier hielten sich vehement mit den Vorderbeinen am Käfiggitter fest und knabberten daran. Noch ist nicht geklärt, warum Tiere, die unter identischen Bedingungen gehalten werden, von denselben Eltern stammen und als FVB/NMäuse – einem klassischen Inzuchtstamm – auch eine nahezu übereinstimmende Genetik besitzen, so unterschiedlich reagieren. Fachleute diskutieren gern eine genetische Komponente. Es existieren Studien, die eine „Vererbung“ nachweisen. „In unserer gab es allerdings keinen Hinweis darauf“, betont Tina Nitezki. „Die Nachkommen stereotyper Muttertiere zeigten zu 44 Prozent stereotypes Verhalten, diejenigen nicht stereotyper Mütter zu 37 Prozent allerdings auch.“
Im Gegensatz dazu lässt sich inzwischen schon gut erklären, warum Stereotypien ganz generell entstehen. Unter künstlichen Haltungsbedingungen – sei es im Zoo, im Zirkus oder in der Landwirtschaft – können Tiere ihr natürliches Verhalten nicht ausleben und langweilen sich. Speziell Mäuse, so erläutert Tina Nitezki, würden viel Zeit mit der Futtersuche verbringen. Labormäuse aber bekommen Futter und Wasser gereicht. Hinzu kommt, dass, um Nachkommen zu vermeiden, gleichgeschlechtliche Gruppen gebildet werden. So entfallen auch die Rituale der Fortpflanzung. Und: Die Käfige sind oft klein und bieten kaum Möglichkeiten, sich zu verstecken, Nester zu bauen, ausreichend zu klettern. „Allerdings treten Stereotypien auch unter angereicherten Haltungsbedingungen auf“, räumt Tina Nitezki ein.
In der Versuchstierkunde ist das ein Problem. Denn stereotype Mäuse etwa eignen sich nicht für physiologische Untersuchungen. Sie unterscheiden sich metabolisch zu stark von ihren „normalen“ Artgenossen. Tina Nitezkis Projekt, das noch bis September 2017 läuft, wird von PD Dr. Stephanie Krämer begleitet. Sie ist die tierärztliche Leiterin des Tierhauses am DIfE und begrüßt die mit der Forschungsplattform verbundenen Aktivitäten ausdrücklich. „Die Anzahl der Tierversuche muss sinken“, sagt sie. Schon heute sei aber das mit den Versuchen verbundene Verfahren stark standardisiert und strengstens überwacht. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass allein 2014 in bundesdeutschen Laboren mehr als 1,9 Millionen Mäuse für wissenschaftliche Zwecke verwendet und im Regelfall am Ende der Projekte schmerzlos eingeschläfert wurden. Auch Prof. Dr. Burkhard Kleuser, stellvertretender Sprecher der Forschungsplattform und Leiter der Potsdamer Teilprojekte, weiß das. „Am Deutschen Institut für Ernährungsforschung und auch an der Universität Potsdam tun wir viel dafür, Tierversuche zu minimieren und möglichst nicht einzusetzen“, versichert er. „Aber man ist heutzutage noch nicht in der Lage, alles an der Zellkultur zu machen.“
Ein neues Hautmodell könnte Versuche am Tier ersetzen
Einen Schritt in die richtige Richtung stellt auch das zweite Potsdamer Teilprojekt der Plattform dar. Es beschäftigt sich mit Immunmechanismen. Burkhard Kleusers Kollege, Juniorprofessor Dr. Lukasz Japtok, arbeitet an einem neuen Hautmodell, in das Immunzellen eingebaut werden sollen. Sobald es produktreif wird, kann es Versuche am Tier ersetzen. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre dies von großer Bedeutung. Denn Hautmodelle gibt es zwar schon seit längerer Zeit, aber bisher fehlt ihnen eine inhärente Immunfunktion. Die vorhandenen kommerziellen Produkte dienen bislang eher dazu herauszufinden, wie bestimmte Chemikalien die Haut schädigen. In der Regel kommen sie auf den Markt, um Verbrennungsopfer besser behandeln, dermatologische Erkrankungen molekular und zellbiologisch abklären und Kosmetika sowie Pharmaka untersuchen zu können. „Sie alle sind aber nicht dafür geeignet, das Potenzial von Stoffen für mögliche Hautausschläge und Allergien zu testen“, so Lukasz Japtok. „Das war bisher nur im Tierversuch möglich.“ Beim sogenannten Lymphknotentest werden bis heute bestimmte Stoffe auf das Ohr von Mäusen gepinselt, um eine immunologische Reaktion zu erkennen oder auszuschließen.
In einem ersten Schritt züchten Lukasz Japtok und sein Team – nach genehmigtem Ethikantrag – sowohl Immun- als auch Hautzellen, die von jeweils ein- und derselben Person stammen. Dafür stellen sich Freiwillige aus der Abteilung zur Verfügung. Ihnen werden Haare und auch Blut entnommen. Aus den Haarfollikeln, genauer den Vorläuferzellen am Haarschaft, entwickeln die Wissenschaftler die nötigen Haut-, aus dem Blut die Immunzellen. Dass beide vom selben Menschen stammen, ist dabei wichtig, weil sonst Abwehrreaktionen eintreten würden. Das Phänomen ist auch aus der Transplantationsmedizin bekannt, wo man ihm in der Regel mit Immunsuppressiva begegnet. Diese Medikamente unterdrücken das Immunsystem und verhindern die Abstoßreaktion des Körpers gegen das fremde Organ.
„Beide Zelltypen wurden bereits erfolgreich isoliert und wir beginnen gerade, Co-Kulturen herzustellen“, beschreibt Lukasz Japtok den aktuellen Stand der Forschung. „Wir sind bereits in der Lage, aus den Haarfollikeln Zellen zu isolieren und diese dazu zu bringen, sich zu Keratinozyten – typischen Hautzellen – zu entwickeln. Auch die Immunzellen aus den Blutzellen zu generieren, funktioniert.“ Was leicht klingt, ist durchaus schwierig. Denn es müssen Immunzellen mit unterschiedlichen Eigenschaften geschaffen werden, weil die Haut in ihrer Epidermis und der darunterliegenden Dermis über verschiedene Immunzelltypen verfügt. Im Prinzip wollen die Wissenschaftler zwei essenzielle Antigen-präsentierende Zelltypen herstellen: die klassischen dendritischen Zellen und die sogenannten Langerhanszellen. Hierzu werden Immunzellen aus dem Blut isoliert und mit speziellen Cocktails aus Zytokinen, also körpereigenen Signalstoffen, behandelt, die eine Differenzierung hin zu den gewünschten Zelltypen anregen. Ziel ist es, explizit unreife Zellen zu gewinnen. Diese erkennen Fremdstoffe besonders gut und nehmen sie unverzüglich auf. Sie sind quasi die Garanten dafür, dass eine Immunreaktion eingeleitet wird.
In einem nächsten Schritt will das Team die beiden Zelltypen kombinieren und in eine Co-Kultur überführen. Lukasz Japtok erwartet hierbei durchaus Probleme. Denn ob, wie und unter welchen Bedingungen sich die beiden Seiten vertragen, wissen er und seine Mitarbeiter noch nicht. Er ist dennoch sehr optimistisch, dass das Vorhaben gelingt. Eine Einschränkung bleibt indes: Das Hautmodell wäre lediglich ein Prototyp. Aber eben einer, der alle wichtigen Zellen enthält, die auch eine Maus in der Haut besitzt. Kommt der Prototyp tatsächlich, wäre es ein Beispiel für ein komplettes Replacement.
Tierversuche für wissenschaftliche Zwecke müssen bei den Behörden genehmigt werden. In Brandenburg ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Gesundheit zuständig, übergeordnet das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Verwendet werden Tiere in der biomedizinischen und genetischen Forschung, aber zum Teil auch in der Hochschulausbildung. Für die Medikamentenzulassung sind Tierversuche vorgeschrieben.
Das Kürzel BB3R steht für Berlin Brandenburg und die drei englischen Begriffe Replacement, Reduction und Refinement. Sie umreißen, worum sich Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Alternativmethoden bemühen: Ziel ist es, Tierversuche komplett zu ersetzen (Replacement), die Anzahl der Tierversuche sowie der daran beteiligten Tiere zu reduzieren (Reduction) oder die jeweiligen Abläufe zumindest so zu verbessern, dass die Belastung der involvierten Mäuse, Ratten, Fische usw. sinkt (Refinement).
Das Projekt
Aufbau einer Immunologie-Testplattform
Leitung: Prof. Dr. Burkhard Kleuser
(Universität Potsdam)
Laufzeit: 2014–2017
Finanzierung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Die Wissenschaftler
Prof. Dr. Burkhard Kleuser studierte Chemie und Lebensmittelchemie an der Universität Wuppertal; 1994 Promotion in Biochemie und Molekularbiologie an der Universität Hamburg; 2002 Habilitation in Pharmakologie und Toxikologie an der Freien Universität (FU) Berlin. Seit 2009 ist Burkhard Kleuser Professor für Ernährungstoxikologie am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Potsdam, das er seit 2013 auch leitet.
Universität Potsdam
Institut für Ernährungswissenschaft
Arthur-Scheunert-Allee 114–116
14558 Nuthetal
E-Mail: kleuseruuni-potsdampde
Jun.-Prof. Dr. Lukasz Japtok studierte Pharmazie an der Freien Universität (FU) Berlin; 2012 Promotion in Pharmakologie und Toxikologie, ebenfalls an der FU Berlin. Seit 2015 ist Lukasz Japtok Juniorprofessor für Immuntoxikologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: japtokuuni-potsdampde
Tina Nitezki studierte Veterinärmedizin an der Freien Universität (FU) Berlin. Seit 2014 ist sie Doktorandin im BB3R-Graduiertenkolleg „Innovationen in der 3R-Forschung – Gentechnik, Tissue Engineering und Bioinformatik“.
E-Mail: Tina.Nitezkiudifepde
PD Dr. Stephanie Krämer studierte Veterinärmedizin an der Freien Universität (FU) Berlin; 2007 Promotion in Veterinärmedizin und Qualifikation zur Fachtierärztin für Versuchstierkunde ebenfalls an der FU Berlin; 2014 Habilitation in Experimenteller Pharmakologie an der Universität Potsdam. Seit 2009 ist Stephanie Krämer tierärztliche Leiterin des Max-Rubner-Laboratoriums (MRL) des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke.
Text: Petra Görlich
Online gestellt: Agnetha Lang
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde
Diesen und weitere Beiträge zur Forschung an der Universität Potsdam finden Sie im Forschungsmagazin „Portal Wissen“. http://www.uni-potsdam.de/up-entdecken/aktuelle-themen/universitaetsmagazine.html