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Die Welt von anderswo sehen – Das Graduiertenkolleg „Minor Cosmopolitanisms“ erforscht weltweit Visionen des Zusammenlebens

Foto: Pixabay.
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Die Aufklärung fand im Europa des 18. Jahrhunderts statt – oder etwa nicht? Die Anglisten Prof. Dr. Lars Eckstein und Prof. Dr. Dirk Wiemann von der Universität Potsdam behaupten, dass Phänomene der Aufklärung auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten auf der Welt auftraten: zum Beispiel im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland, etwa zur gleichen Zeit in Indien oder im 17. Jahrhundert südlich der Sahara, im Gebiet des heutigen Mali. Das neue Graduiertenkolleg „Minor Cosmopolitanisms“ an der Universität Potsdam nimmt solche historischen und gegenwärtige Formen der Wissensproduktion innerhalb, vor allem aber außerhalb Europas in den Blick: „Wir wollen untersuchen, welche Ideen und welches Wissen in allen Teilen der Welt zum transkulturellen Zusammenleben entstanden und entstehen“, erklären die beiden Sprecher.

Doch was sind eigentlich jene „kleinen Kosmopolitismen“, denen die Forscher nachspüren wollen? „Den Begriff Kosmopolitismus gibt es schon sehr lange. Er ist bis zu den Stoikern im antiken Griechenland zurückzuverfolgen“, erklärt Lars Eckstein. Das Wort ist aus den griechischen Wörtern „kósmos“ für Welt oder Ordnung und „pólis“ für Ort oder auch Politik abgeleitet. Diogenes von Sinope war im 4. Jahrhundert v. Chr. vermutlich der Erste, der sich als Kosmopolit bezeichnete, um zu zeigen, dass er sich nicht nur seinem Stadtstaat, sondern der ganzen Menschheit verpflichtet fühlte: „Denn Frauen, Nicht-Griechen – also sogenannte ‚Barbaren‘ – oder Sklaven waren damals nicht Teil der Polis“, sagt Wiemann.

Die Aufklärung entwarf die Idee des Weltbürgertums

In der Aufklärung wurde die Idee des Kosmopolitismus dann prägend für die Moderne. Mit dem Begriff „Weltbürgertum“ geht jedoch auch eine Verschiebung und Engführung einher: „Denn mit dem ‚Bürger‘ wird nun ein ganz bestimmter Mensch ins Zentrum der Weltgeschichte gerückt: das männliche, weiße Subjekt mit Privatbesitz“, sagt Eckstein. Dieses Konzept habe etwa auch die Verfassung der Vereinigten Staaten 1787 geprägt – und Frauen, Indigene und Afrikaner ausgeschlossen. Dennoch formulierten die Philosophen ausdrücklich einen Kosmopolitismus im Singular, der für alle Menschen gelten sollte: „Der nordwesteuropäische Kontext der bürgerlichen Revolution wurde in die ganze Welt projiziert“, so Wiemann. Andere lokale Aufklärungskonzepte und Visionen für ein globales Zusammenleben gerieten ins Abseits oder konnten fortan nur noch in Abhängigkeit zum herrschenden bürgerlichen Modell von Kosmopolitismus formuliert werden.

Das Graduiertenkolleg will daher weltweite Formen des Kosmopolitismus neu betrachten und zueinander in Beziehung setzen. „Das Graduiertenkolleg fragt danach, wie es in Zeiten der Globalisierung um das Zusammenleben in der Welt steht“, erklärt Wiemann. Denn das Versprechen der Aufklärung ist bis heute uneingelöst: „Die Idee der Gleichheit aller Menschen hat sich nicht realisiert“, so der Anglist. Das Problem sei bereits in der Ideologie der Aufklärung selbst angelegt gewesen. Die aufklärerische Philosophie war kurzgeschlossen mit dem europäischen Imperialismus und Kolonialismus, deren Rassismus bis heute wirkmächtig ist: „Sie kategorisierte die Menschen als Wissensobjekte in ethnische Gruppen.“ So habe der deutsche Philosoph Immanuel Kant auf der einen Seite das Weltbürgertum als Vision des friedlichen Zusammenlebens auf der Erde verkündet, auf der anderen Seite aber in seinen anthropologischen Schriften eine Hierarchisierung der Menschen nach ethnischen Kriterien vertreten. „Solchen Widersprüchen wollen wir uns stellen und von verschiedenen Standorten auf der Welt aus denken“, erläutert Eckstein. „Wir arbeiten innerhalb der Matrix des Kosmopolitismus, aber pluralisieren sie von innen.“

Wissen ist dabei ein zentraler Aspekt. „Für die klassische Aufklärung gab es nur eine Form der Bildung“, sagt Wiemann. „Alles andere war Magie oder Aberglaube.“ Die Forscherinnen und Forscher des Kollegs wollen daher auch alternative Wissensformen untersuchen, die sich weltweit herausgebildet und die Visionen und Gesetze globalen Zusammenlebens entworfen haben. „Filme, Literatur, Theater, Ausstellungen, Protestbewegungen und ähnliches begreifen wir als solche Formen der Wissensproduktion“, ergänzt Eckstein. „Daher sind wir als Literatur- und Kulturwissenschaftler für diese Aufgabe gut gerüstet.“

Von Flüchtlingsfilmen bis zum Lautarchiv

Zu solchen globalen „Darstellungs- und Aufführungspraktiken“, mit denen sich die Nachwuchsforscher des Kollegs befassen, zählen beispielsweise Filme, die Flüchtende auf dem Weg nach Europa mit ihren Mobiltelefonen gedreht haben. Wie erleben sie die Flucht und das europäische Grenzregime? Welche Bilder verwenden sie für ihre filmische Autodokumentation? Diesen Fragen widmet sich die Doktorandin Anouk Madörin in ihrem hochaktuellen Forschungsprojekt.

Die Arbeit von Irene Hilden widmet sich dem Lautarchiv der Humboldt-Universität: Dieses enthält Tonaufnahmen inhaftierter kolonialer Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg in einem Gefangenenlager bei Berlin. „Unter ihnen waren Tartaren, die für das Russische Kaiserreich kämpfen mussten, Nord- und Westafrikaner aufseiten der Franzosen oder indische Soldaten, die für das britische Weltreich in den Krieg gezogen waren“, erläutert Eckstein. Deutsche Sprachforscher und Humanwissenschaftler zwangen die Gefangenen, einen Text in ihrer Sprache auf Wachswalzen zu sprechen. Gleichzeitig wurden die Gefangenen anthropomorphisch vermessen, und es wurden Gipsabdrücke ihrer Köpfe im Zuge der anthropologischen „Rassenforschung“ vorgenommen. „Das Erbe eines solchen Tonarchivs ist politisch äußerst schwierig.“

Yann Le Gall untersucht, wie afrikanische Staaten und Gemeinschaften heute mit den aus Europa nach Südafrika, Namibia, Simbabwe oder Tansania rückgeführten Gebeinen aus der Kolonialzeit umgehen. Werden sie dort bestattet? Kommen sie ins Museum? Dienen sie politischen Zwecken? „Bei solchen Projekten ist es wichtig, dass die Kollegiaten nicht nur nach Übersee fahren und zwei Semester an unseren Partnerstandorten forschen, sondern ihre Arbeiten auch dort betreut werden“, so die Sprecher. „Wir arbeiten eng mit den Kolleginnen und Kollegen in Südafrika, Indien, Australien, den USA und Kanada, aber auch von der HU und FU in Berlin zusammen.“ Die beiden Wissenschaftler glauben, dass die vielfältigen, oftmals brisanten Forschungsprojekte auch experimentelle wissenschaftliche Methoden erfordern. Diese Freiheit wollen sie den Doktorandinnen und Doktoranden lassen, um auch innerhalb des Kollegs Diversität zu schaffen.

An den Partneruniversitäten veranstaltet das Forschungsprogramm je zwei Sommerschulen pro Jahrgang. Eine Abschlusskonferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt in drei Jahren soll die Erkenntnisse der Forscher bündeln. Im letzten Jahr ihrer Förderung haben die Kollegiatinnen und Kollegiaten zusätzlich die Möglichkeit, sogenannte outreach-Projekte zu organisieren und Performances, Ausstellungen, Lesungen oder Theaterstücke zu inszenieren. „Wir wollen nicht nur andere Forscher erreichen“, erklärt Wiemann. „Unser Ziel ist es schließlich, eine Pluralität des Wissens über die Universität hinaus in die Öffentlichkeit zu tragen.“

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Dirk Wiemann studierte Anglistik, Germanistik und Politikwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2008 ist er Professor für Englische Literatur an der Universität Potsdam.

Universität Potsdam
Institut für Anglistik und Amerikanistik
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
E-Mail: dirk.wiemannuni-potsdamde

Prof. Dr. Lars Eckstein studierte Anglistik, Germanistik und Sportwissenschaft in Tübingen und in den USA. An der Universität Potsdam ist er seit 2009 Professor für Anglophone Literaturen und Kulturen außerhalb Großbritanniens und den USA.

E-Mail: lars.ecksteinuni-potsdamde

Das Projekt

Seit Oktober 2016 arbeitet das DFG-geförderte internationale Graduiertenkolleg „Minor Cosmopolitanisms“ an der Universität Potsdam. Zwölf Doktorandinnen und Doktoranden und ein Postdoktorand aus Brasilien, China, Kenia, Mexiko, Südafrika, Bulgarien, der Schweiz, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden erforschen globale Kultur- und Alltagspraktiken. Involviert sind acht Partneruniversitäten auf vier Kontinenten – in Asien, Afrika, Ozeanien und den Amerikas. Dort werden nicht nur Sommer- und Winterschulen stattfinden, die Nachwuchsforscherinnen und -forscher sollen auch zwei Semester vor Ort an ihren Projekten arbeiten. Einige von ihnen werden sogar die Möglichkeit haben, Doppelabschlüsse von einer der Partneruniversitäten und der Universität Potsdam zu erwerben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert die Graduiertenschule mit insgesamt rund 3,9 Millionen Euro für die nächsten viereinhalb Jahre. Beteiligt an dem internationalen Projekt sind die Macquarie University Sydney, UNSW Sydney, Delhi University, EFLU Hyderabad, Pretoria University, University of Cape Town, York University Toronto und die Duke University. Die Sprecher Prof. Dr. Lars Eckstein und Prof. Dr. Dirk Wiemann hatten das Kolleg gemeinsam mit Prof. Dr. Anja Schwarz, Prof. Dr. Nicole Waller (Anglistik und Amerikanistik), Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile (Germanistik), Prof. Dr. Sina Rauschenbach (Jüdische Studien) sowie Prof. Dr. Regina Römhild (Europäische Ethnologie, HU Berlin) und Prof. Dr. Sérgio Costa (Soziologie, FU Berlin) beantragt.

Internet: www.uni-potsdam.de/minorcosmopolitanisms

Text: Jana Scholz
Online gestellt: Agnetha Lang
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde

Diesen und weitere Beiträge zur Forschung an der Universität Potsdam finden Sie im Forschungsmagazin „Portal Wissen“. http://www.uni-potsdam.de/up-entdecken/aktuelle-themen/universitaetsmagazine.html